«Aber du sollst ihn kennen lernen!»
Der Empfang schüchterte ihn ein. Aber während er Frau Medinger ansah, fühlte er den neugiervollen und boshaften Reiz des ungebetenen Eindringens in ein fremdes Haus. Vor seinen Augen drehten sich noch einmal die Säulchen des Treppengeländers, die hochgezogenen Gesimse, das friedlose Schnörkelwerk der Verzierungen und wie in einer Ecke dieses inneren Gesichts, durch das er diebisch schlich, stand vor ihm diese Frau, die ihn feindselig betrachtete. Er begriff ohne Schwierigkeit, was man ihm noch nicht gesagt hatte. Sie mußte um mindestens zehn Jahre älter sein als dieser junge, liebenswürdige, freche Hund von Toronto, der ersichtlich ihren einzigen und schmerzlichen Glücksbesitz bildete. Sie hatte sich seinetwegen, – mochte es auch schon geschehen sein, bevor sie ihn kannte, – von ihrem Mann getrennt und nun betrog er sie mit dem ganzen Durst seiner zweiundzwanzig Jahre. Es schien Grauauge nicht sicher zu sein, daß sie es wissen müsse, aber jedenfalls ahnte sie es. Und weil der Zufall sie so lang hatte warten lassen, bis er ihr diesen einen brachte, oder weil sie festsaß auf einem Vorurteil von Scham wie ein Meertier auf seinem Stiel, suchte sie keinen andern, sondern verachtete Torontos Charakter, liebte ihn noch in solchen langen, ahnungsschweren Stunden und empfing Grauaugen mit kampfbereiten Mißtrauen wie ein häßliches hartes Werkzeug, mit dem ihre Zuflucht aufgebrochen werden sollte. Grauauge empfand ein selbstsüchtiges, auf der ähnlichen Verknüpfung ihrer Schicksale mit Toronto ruhendes Mitleid für diese Frau; sein erster Gedanke war ihr beizustehn und Toronton zu bessern. Seltsamerweise rieselte er ihm beinahe sinnlich, wie das Zusammenziehn haardünner Schlingen, bis in die Fußsohlen.
Frau Medinger hatte Kaffee auftischen lassen und machte die Wirtin. Toronto erzählte von der Pension, vom gestrigen Tag, von seinen Freunden und baute Hoffnungen auf einen Umschlag des Wetters. Frau Medinger hörte zu, schmollte über die Freunde und hoffte gleichfalls, daß man noch einen Ausflug werde machen können, bevor die Wälder völlig entlaubt wären. «Dann kommen sie mit,» sagte Toronto zu Grauaugen, und Frau Medinger schwieg dazu. Danach erzählte sie von Bekannten. Frau Wagner aus der Friedrich Schultzestraße sei gestern bei ihr zum Kaffee gewesen und der Sohn von Frau Trentlein, der erst vor wenigen Tagen vom Militär zurückgekommen war, sei in diesem einen Jahr groß und ordentlich männlich geworden. Grauauge sah ihr zu. Sie hatte ruhige graue Augen, stattliche Hände und mußte runde, feste Waden haben. Ihr Gesicht aber war eins jener schon ein klein wenig durch die Jahre entkleideten Frauengesichter, die so verwirrend reizlos sind wie eine baumlose Hügellandschaft. Es dämmerte im Zimmer und roch leise nach Kaffee, die Möbel schatteten hoch und behaglich, Grauauge horchte auf die Worte Frau Medingers und eine bürgerliche Sinnlichkeit umwärmte ihn wie Flanell. Ein maßloses Verlangen beschlich ihn nach dieser Frau, die ihm nicht gefiel. Er fühlte, daß sie etwas war, wonach ihn oft in eigentümlichen Stunden begehrt hatte, solange er ein Genie war: eine jener Frauen, die eine ernste, wirkliche Anspannung nicht erlauben, weil sie vor dem Geiste lächerlich und vielleicht im Grunde widrig sind, die zu anständig sind, um ohne eine solche Anspannung genommen werden zu können und von denen ein schweres, flaches, brotduftendes Verlangen nach ihrer Alltäglichkeit ausströmt, ihren gutmütigen Häßlichkeiten, schlechten, kleinen Gewohnheiten und ihrer treuen, unbeholfenen, haustüchtigen Unkeuschheit. Und er fühlte jetzt niedergeschlagen, daß er gleich zu Beginn sich schlecht bei ihr eingeführt hatte. Ihre enttäuschte Stimme bei seinem Kommen klang ihm noch einschüchternd in den Ohren. Er wurde mutlos. Aber je unfähiger er sich fühlte, desto häufiger lenkten sich seine Blicke unwillkürlich jetzt wieder auf Toronto. Der war heiter und sicher und sprach so vergnügt mit dieser Frau, wie man an einer schon längst kurz gerauchten Zigarre kaut. Und allmählig begann Grauauge den Biegungen, dem Fall und Knarren dieser Stimmen zu folgen, er suchte sich die Art der Leidenschaften vorzustellen, die in ihnen eingefaltet sein mochten und empfand eine Sinnlichkeit, die gar nicht ihm, sondern den Besitzern dieser Wohnung zu gehören schien, die immer dunkler wurde und diese drei Menschen wie mit einer gemeinsam satten weichen Flaut umspannte.
G. fiel plötzlich ein: der Fruchtsack – das gedärmhaft keimende Leben.
Eine sonderbar beruhigende Vorstellung: er wird Sinnlichkeit durch T. empfinden. Er kann nicht mehr anders. (Ev. als Inhalt der nächsten Tage) So gerät er unter Ts Sinnlichkeit; eine Atmosphäre von Verbrechen u Erotik
Grauauges nebligster Herbst [III]
An einem alten Haus der L-straße baumelte ein Zettel im Wind; zwei Treppen rechts war ein Zimmer zu vermieten. Ein jüngerer, völlig rasierter Herr hielt ihn mit zwei Fingern fest und las ihn. Es war unfreundliches Wetter. Dann trat er ein paar Schritte in die Straße zurück und besah das Haus. Es war ein gewöhnliches Haus mit Karyatiden und über den Fenstern geschwungenen Gesimsen. Sein Anblick (das) schien den Herrn zu befriedigen, denn er trat ein und stieg die Treppe empor; eine breite Holztreppe mit bauchigen Geländersäulchen, einem Läufer aus palmengrünem Mattenstoff und friedlosem Schnörkelwerk an den Wänden. Oben stand an der großen, einzigen Tür: Medinger.
Als das Mädchen ihn meldete, hörte Grauauge gedämpftes hastiges Sprechen; eine enttäuschte Frauenstimme und einen Mann, der sagte: «Aber du sollst doch …!» Dann kam Frau Medinger heraus, erwiderte kurz seinen Gruß und zeigte ihm das Zimmer. Es gefiel ihm sehr; es hatte eine Einrichtung aus gepreßtem Peluche, ein Sofa mit einem Aufbau, auf dem allerhand Photographien standen, Ansichtskarten, Porzellanfigürchen und eine kleine Kaiserbüste aus Gips; neben dem Fenster aber wiegte sich ein graugrünes Gewächs über einem flammenden Majolikatopf. Es war alles gerade so, wie er es jetzt suchte. Er mietete das Zimmer und ging weg seine Sachen besorgen.
Als Frau Medinger zu Toronto in das Wohnzimmer zurückkehrte, sagte sie gleich: «Er gefällt mir nicht; er hat so etwas Schleichendes.» Und nach einer Weile schüttelte sie plötzlich wieder tadelnd den Kopf und äußerte: «Das ist doch kein Mann.» Sie wußte eigentlich selbst nicht warum. «…Aber was will man machen,» schloß sie mit einem Seufzer. Das Zimmer hatte fünf Wochen leergestanden und Frau Medinger war, seit sie sich von ihrem Mann getrennt hatte, darauf angewiesen, es zu vermieten. Toronto meinte: «Nun, ich werde ihn ja bald sehen.»
Der Fremde zog ein. Er hieß Grauauge. Er brachte einen Koffer mit Kleidern und Wäsche, einige Engelhornbände, die er sich angeschafft hatte, nichts was auf einen Beruf oder eine Neigung hätte schließen lassen. Seine Möbel, seine Bibliothek, seine Bilder hatte er verkauft, selbst seine Kleider, für die er sich einfachere hatte machen lassen. Es gefiel Frau Medinger nicht, daß er lange schlief. Um zehn Uhr, mochte er geläutet haben oder nicht, brachte sie ihm rücksichtslos den Kaffee. Er lag dann gewöhnlich noch im Bett und sah sie verschlafen, in einer ihr unangenehmen, verstörten Weise an. Doch verbat er es sich niemals. Schweigend stellte sie das Frühstück auf seinen Schreibtisch und kehrte – von seiner demütigen, unnachgiebigen Trägheit stets von neuem gereizt – zurück. (So lebten sie das unklare Verhältnis zwischen Zimmerherr u Vermieterin, das zwischen zwei einander gleichgültigen Menschen gattenmäßige Vertraulichkeiten ruhig hin und her schlurren läßt.) Oft ging er erst gegen Abend aus, es war ruhig im Zimmer, sie wußte nicht was er trieb. Er tat nichts.
Er sah auf die Straße, wartete auf die Dienstmädchen, die in ihren Kattunkleidern rasch noch querüber durch den Regen etwas besorgen liefen, und hatte nichts anderes, worauf er warten konnte. Zuweilen – so allein mit seiner Taschenuhr und dem leisen Knarren seiner Schuhe, wenn sich der Druck seines Körpers ein wenig anders verteilte – fiel ihm mit einemmal ein, daß man ihn beobachten und daß seine ewig gleiche, reglose Erscheinung hinter den dunklen Fensterscheiben sich herumsprechen könnte. Sooft er ein Geräusch hörte oder unten sich ein Kopf hob, erschrack er dann, aber er wußte, riß er sich vom Fenster los, ging an den Tisch und machte Licht, so stand er gegenüber dem Nichts. Er kaufte Karten und legte Patiencen. Dann wieder ging er plötzlich viel spazieren. Er schien ein sehr unregelmäßiges u. planloses Leben zu führen.
«Er gefällt mir nicht» wiederholte Frau Medinger mehrmals zu Toronto, «ich kann ja nicht klagen, er ist höflich und ordentlich, aber es ist etwas an ihm.» Sie hätte ihm am liebsten wieder gekündigt, aber das Geld (hielt sie zurück) und dann hatte sie ohnedies Sorgen. Toronto war nicht mehr so wie er sollte; er blieb manchmal unter allerlei Entschuldigungen aus und an andern Tagen wieder kam er nur mit einigen Freunden, die er zu ihr eingeladen hatte. Ihr ahnte, daß er sie betrog; er war fast um zehn Jahre jünger als sie und Italiener. Wenn sie allein waren,