Ludwig Ganghofer

Das Schweigen im Walde


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menschenverlassenen Wildnis sind Begegnungen, welche die gnädige Frau Baronin beunruhigen könnten, nicht zu befürchten. Doch hatten wir heute abend, bei der Vorliebe Seiner Durchlaucht für einsame Spaziergänge, bereits einen kleinen Schreck zu überstehen. Durchlaucht hatten gegen sechs Uhr das Jagdhaus verlassen, um etwas Motion zu machen. Für halb acht war das Diner befohlen, aber es wurde acht Uhr, es wurde finster —«

      Martin hielt im Schreiben inne und blickte zur Decke hinauf.

      Dort oben waren die hin-und herwandernden Schritte verstummt. —

      Der Fürst hatte sich wieder zum Schreibtisch gesetzt, um seinen Brief zu vollenden:

      »Mir will die Erleuchtung nicht kommen. Arbeit? Ja! Mich sehnt nach ihr. Ich glaube doch wohl, daß sie fürs Leben eine Notwendigkeit ist, wie Luft und Freude. Aber da seh' ich Dich lächeln, Du liebenswürdigster aller Residenzbummler, und höre Dein paradoxes Lieblingswort: Arbeit ist ein Fluch, das hat schon die Bibel gesagt, und das ist ein kluges Buch! Aber ich weiß auch, daß Du im Grunde Deiner Seele anders denkst. Das ist ja überhaupt Deine Art so: anders zu sprechen, als Du denkst — nein, so gesagt wär's eine Unhöflichkeit, ich hätte schreiben sollen: anders zu denken, als Du sprichst! Und mir gegenüber hast Du immer eine Ausnahme gemacht. Tu es auch jetzt! Gib mir einen Rat! Was soll ich beginnen, um aus meinem in die Irre geratenen Leben einen Zweck zu machen? Und gibt es für mich keine Arbeit, welche Ziel und Zweck hat, gut, so will ich das Zwecklose schaffen. Nur etwas leisten! Und hätt' ich auch keinen besseren Dank davon als einen müden Abend und einen festen Schlaf. Aber was soll ich? Ins Regiment zurück? Noch heute, wenn Krieg in Aussicht wäre! Für die Parade und den bewaffneten Frieden? Nein! Oder soll ich mich ins Parlament wählen lassen? Ich wüßte nicht, für welche Partei. Was ich politisch denke, verträgt sich mit keiner. In mir mischt sich der Absolutist mit dem extremen Republikaner. Ich müßte heute mit den Junkern stimmen, morgen mit den Sozialisten. Eine parlamentarische Unmöglichkeit. Und überhaupt, das Parlament! Soll ich arbeiten für eine Sache, von der ich überzeugt bin, daß sie sich überlebt hat?

      Und bei aller Freiheit meines Denkens — ich bin empfindlich gegen Ungezogenheiten. Wer sich heute ins Parlament wählen läßt, muß unter dem Schutze der mißbrauchten Immunität sich Verdächtigungen, Grobheiten und Ausdrücke gefallen lassen, die man im gewöhnlichen Leben mit einer Kugel oder besser noch mit einer Ohrfeige erwidert. Nein, ich danke! Aber Holzhacken, wörtlich und bildlich genommen, kann ich doch nicht. Dazu sind meine Hände nicht robust genug. Es wird mir also nichts anderes übrigbleiben, als mich auf meine Scholle zu setzen. Seinen Acker bewirtschaften und seinen Besitz bei gesundem Leben zu erhalten, ist schließlich auch eine Arbeit. Auf meinen Gütern beschäftige ich ein paar hundert Menschen. Für die als Herr zu sorgen, ihr Dasein zu einem menschlich erträglichen, nach Möglichkeit zu einem behaglichen zu machen? Ist das nicht auch ein Zweck? Dazu noch ein guter? Für die große Menschheit arbeiten zu wollen, ist Donquichotterie — aber meine paar hundert Leute daheim, das ist eine Menschheit im kleinen, und für die kann ich arbeiten.

      Daheim? Hab' ich denn noch ein Daheim? Mein Haus in der Stadt ist mir verleidet. Und unser schönes Bernegg? Seine Mauern sind mir tot geworden, seit das Leben erlosch, das in ihnen wirkte — seit meine Mutter starb. Ich kann mir nicht denken, wie ich dort leben soll, ich, allein! Das wirst gerade Du mir nachfühlen können. Ich weiß, wie groß Du von meiner Mutter dachtest.

      Wenn ich mit Dir plaudre von ihr, wird Dein spottendes Auge ernst und Dein sarkastische Lächeln ein anderes. Und vor Jahren, wenn Du mir von allem Lob das beste sagen wolltest, dann sagtest Du zu mir: ›Du Sohn deiner Mutter!‹ Das Lob war unverdient. Was sie aus ihrer Seele gab, das hab' ich nur äußerlich angenommen. Die klare Harmonie des Lebens, die willensstarke Fähigkeit, eine Freude auch noch im bittersten Weh zu finden — das war dem Wesen meiner Mutter angeboren. Sie hatte das, wie man Augen hat, mit denen man sieht. Dieses Ruhige floß von ihr auf den verschüchterten Knaben über, aus jedem Blick, der mit Liebe auf mir ruhte. Aber es wurzelte nicht in meinem Herzen, es war bei mir nur ein Angelerntes und war vergessen bei der ersten verwirrenden Frage, mit der mich das Leben prüfte.

      Ob es auch so gekommen wäre, wenn ich die Mutter nicht verloren hätte? Nein! Ihre lebende Nähe wäre mir ein Schutz gegen jeden häßlichen Aufruhr meines Blutes gewesen. Denkst Du noch an unseren alten Suttner, der früher als Förster in der einsamen Hirschau diente? Im Jähzorn mißhandelte er seine Frau und seine Kinder und machte seinen Untergebenen den Dienst zu einer Marter. Da nahm ihn meine Mutter als Parkmeister ins Schloß — und ihr Blick verwandelte den Wildfang in einen ruhigen Menschen. Hätte meine Mutter noch gelebt, es wäre nie geschehen, was ich jetzt, da ich mit allem Katzenjammer einer Menschenseele von diesem Rausche ernüchtert bin, mit Fäusten hinausstoßen möchte aus meinem besudelten Leben.

      Aber als dieser Irrsinn meines Herzens begann, da ahnte ich nicht, wie er enden würde. Das war in mir, als hätt' ich das Heiligste und Herrlichste des Lebens gefunden. Und wenn ich zurückdenke an den Feuersturm jenes ersten Gefühls, dann wird es mir schwer, zu wünschen: ich hätte besonnen meine glatte Straße gehen und mir ein temperiertes ›Glück‹ mit ruhiger Überlegung schaffen können, um Sommer für Sommer als guter Mann meiner guten Frau kohlbauend auf meinem Gute zu sitzen und während des Winters in der Stadt keine Opernpremiere, keinen Rout und keinen Hofball zu versäumen. Der Gedanke, daß solch ein ›wohlgeordnetes‹ Glück mich hätte treffen können, weckt in mir ein gelindes Grauen. Dennoch steckt in mir ein schmerzliches Bedauern, daß es nicht so kam! Aber wenn ich es ›so gut‹ gefunden hätte? Wäre dieses windstille Treibhausglück von Dauer gewesen? Bis zu einem sanften, in Gott ergebenen Lebensabend? Vielleicht hätte sich auch dann einmal in dunkler Stunde das Blut meines Vaters in mir geregt, um die gläserne Herrlichkeit in Scherben zu schlagen, irgendeinem Unwert oder einer Häßlichkeit zuliebe?

      Mein Vater! — — Das Wort ist kalt für mich. Als mein Vater jenen tödlichen Sturz auf der Rennbahn tat, war ich noch ein halbes Kind. Sein Tod hatte keinen Schmerz für mich, nur einen Schreck, den ich halb verstand, als ich einen unserer Gäste sagen hörte: ›Der gute Ettingen hat sich den Hals recht à propos gebrochen, sonst hätte er noch seinen Namen und seinen Besitz, seine Frau und seinen Jungen in den Sumpf geritten!‹ Dieses böse Wort brachte das eine Gute, daß ich mich noch zärtlicher an die Mutter anschloß, wie in der Ahnung, daß meine Liebe sie vor einem Leid zu beschützen hätte. Weiß Gott, lieber Freund, es geht mir warm durchs Herz, wenn ich mir sage: ich habe meiner Mutter, solange sie lebte, keine Enttäuschung bereitet. Sie konnte lächelnd die Augen schließen und sterbend glauben, daß sie in ihrem Sohn ein wohlgebautes Werk ihrer Liebe und ihres Lebens hinterließe.

      Und nun? Wie steht es vor Dir, dieses Werk meiner Mutter? In meiner Seele sieht es aus wie in den löcherigen Taschen eines Bettlers. Ich hätte leben sollen als meiner Mutter Sohn und hab's meinem Vater nachgetan. Übel hat mich bei diesem Rennen um das Glück das zügellose Tier meiner Leidenschaft in den Sand geworfen! Sand? Wie höflich das Wort gewählt ist! Wohl hab ich mich leidlich wieder aufgerichtet. Aber ich spüre den Sturz an Leib und Seele. Und da konnt' ich vor einer halben Stunde noch schreiben: ich bin genesen, ich fühle mich frei. Nein! Ich bin es nicht. Oder weiß ich nur die quälende Stimmung dieses Augenblickes nicht klar zu erkennen?

      Was mich mit so brennender Unruhe bedrückt? Eine letzte Kette, die mich noch fesselt an das Vergangene? Nein! Es kann auch das Grauen sein — vor der Leere und dem Unwert meines kommenden Lebens! Eine heiße Sehnsucht, die begehrt und dennoch weiß, daß sie unstillbar ist! Heiliges Glück — das ist Finden auf reinem Weg. Wer durch Sumpf gewatet ist, darf keinen Tempel mehr betreten.

      Ein böser Gedanke! Der hätte mir nicht kommen sollen! Ich will's versuchen, ihn wieder aus mir hinauszustoßen, will zufrieden sein, nur weil ich einsam bin, stadtferne und mir selbst gegeben. Und wie häßlich auch das Leben ist, dem ich entfloh und das mich erwartet — schön ist doch die sommerduftende Stille, in der ich hier atme. Schön ist die Nacht, die da draußen mit großen Sternen leuchtet. Schön ist das tiefblaue Rätsel des schlafenden Himmels und das graue Wunder der nachtverschleierten Berge!

      Hättest Du nur den Abend gesehen, der dieser Nacht voranging! Aber solche Schönheit läßt sich nur fühlen, nicht