wurde sie ganz blaß. Sie zog die Hand leer zurück.
»Mein Portemonnaie – mein kleines Muschelportemonnaie aus Wittdün, wo kann es bloß hin sein?« Fassungslos begann sie noch einmal in der Tasche zu suchen. »Ich habe es doch bestimmt noch gehabt, wie ich zur Schule ging. Beim Rennen fühlte ich es immer gegen mein Knie schlagen – – –« wieder begann das aufgeregte Suchen.
Mit entsetzten Augen standen die Freundinnen ringsum.
»Kehr’ doch deine Tasche mal um, Annemarie«, riet Ilse Hermann.
Da kam ein zerdrücktes Taschentuch heraus, ein Kreisel, zwei Stücken Zucker, mehrere Bleistiftenden und ein winziger Gummiball – kein Muschelportemonnaie.
Doktors Nesthäkchen begann laut zu heulen. Schülerinnen aus allen Klassen sammelten sich neugierig um das schluchzende Kind.
»Wenn der Unterricht zu Ende ist, gehen wir noch mal in die Volksschule, vielleicht hast du’s auf dem Wege verloren«, redete ihr die praktische Marlene gut zu. Während Margot einem solchen ungeheuren Verlust gegenüber kein Wort des Trostes fand.
»Ich hab’ es sicher verloren, als ich mein Taschentuch dort in der Klasse herauszog«, jammerte das arme Ding. »Ach, was mache ich denn nun – es ist doch gar nicht mein Geld, es gehört doch dem Junghelferinnenbund!«
»Wenn du es noch nicht abgeliefert hattest und es von deinem Vater war, gehört es eigentlich noch dir«, überlegte Marianne. Allen tat die arme Annemarie schrecklich leid.
»Nee – nee – mir gehört es nicht – es gehört dem kleinen Ostpreußenmax!« begehrte Nesthäkchens Rechtlichkeitsgefühl auf. »Und nun habe ich das arme Würmchen, das weder Eltern noch Heimat hat, auch noch um sein erstes Vermögen gebracht!«
Mitten hinein in all den Jammer, alle die Ratschläge und all das Suchen gellte die Schulglocke, die zur Stunde rief.
»Bitte doch Fräulein Drehmann, ob du nicht erst dein Portemonnaie suchen darfst«, schlug Marianne vor.
»Wir schreiben doch jetzt Klassenaufsatz – die Stunden sind verlegt worden, weil zuviel Zeit mit dem Umzug verloren ging.« Es erschien der gewissenhaften Margot undenkbar, den Klassenaufsatz zu versäumen.
Auch Annemarie wies den Vorschlag von sich. Weniger aus Gewissenhaftigkeit, als um Fräulein Drehmann nicht erst darauf aufmerksam zu machen, daß sie zu spät zur Schule gekommen und die erste Stunde versäumt hatte.
Wo waren die stolzen Gefühle hin, mit denen Nesthäkchen das Gymnasium der Brüder betreten! Ganz geknickt schob sie sich hinter den Freundinnen her in die ihnen angewiesene Klasse.
Fräulein Drehmann schien in dem Tumult, den die Auswanderung der Schülerinnen mit sich gebracht hatte, Annemaries Fehlen in der ersten Stunde nicht beachtet zu haben. Sie begann sogleich mit dem Klassenaufsatz.
»Welche Opfer fordert der Krieg von uns Kindern?« hieß das Thema. In der ersten Viertelstunde besprach Fräulein Drehmann mit den Schülerinnen, die erst seit kurzem Aufsätze schrieben, den Inhalt der Arbeit. Sie ließ sich von ihnen selbst sagen, welche Opfer in den ersten Kriegsmonaten an sie herangetreten. Dann mußten die Kinder das Durchsprochene in netten Worten niederschreiben. Nicht mehr als höchstens vier Seiten durften es werden.
Konnte man es Annemarie verdenken, daß das eine Opfer, die zwanzig Mark, welches heute von ihr gefordert worden, ihre Gedanken derart in Anspruch nahm, daß sie vor Trauer darüber keinen einzigen Satz zu bilden vermochte? Sie verbarg das Gesicht hinter dem blonden Köpfchen der vor ihr sitzenden Ilse und befeuchtete ihr Heft anstatt mit Tinte, mit ihren Tränen.
»Du mußt doch anfangen, Annemarie,« wisperte ihr Margot zu. Auch Marlene puffte sie von der anderen Seite aufmunternd mit dem Ellenbogen.
Fräulein Drehmann wurde aufmerksam.
»Na, was haben denn die drei da oben in der Ecke? Jede hat streng für sich zu arbeiten. Ei, Annemarie, du weinst? Kommst du nicht mit dem Aufsatz zurecht, du hast doch schon ganz niedliche Arbeiten geschrieben?«
Die Lehrerin trat zur ersten Bank. Da sah sie mit Staunen, daß Annemaries Seite noch gänzlich unbeschrieben war.
»Ja, Annemarie, was soll denn das heißen, warum beteiligst du dich denn nicht?«
Annemarie vermochte nicht zu antworten, die Tränen würgten sie in der Kehle.
Marlene Ulrich gab die nötige Auskunft.
»Das kommt davon, wenn Kinder soviel Geld bei sich tragen, zwanzig Mark nimmt man doch nicht mit zur Schule«, Fräulein Drehmann war sehr ärgerlich.
»Ich wollte das Geld ja für den Junghelferinnenbund abliefern. Vater hatte es unserer Kasse geschenkt«, brachte Annemarie mühsam hervor.
»Mit Tränen machst du’s nicht besser, Annemarie, da versäumst du im Gegenteil noch die augenblickliche Pflicht – sammle jetzt deine Gedanken und beginne den Aufsatz«, gebot Fräulein Drehmann.
Ach, das war leichter gesagt, als getan. Annemarie Braun pflegte sonst besonders im Aufsatz zu glänzen. Sie hatte eine lebhafte Phantasie, einen frischen Ton, und ihre Schreibweise war durch die regelmäßigen Briefe aus dem Kinderheim nach Hause ganz flott geworden. Heute aber wollte es gar nicht gehen. Annemarie druckste und druckste. Dabei hatte der Krieg von ihr doch schon mehr Opfer gefordert als von den andern Kindern, die allenfalls den Vater oder einen großen Bruder im Felde hatten. Sie aber hatte er von beiden Eltern getrennt – auch ihre Mutti war weit, weit fort … Annemaries Gedanken lösten sich von dem kleinen Muschelportemonnaie und blieben bei Mutti haften. Da begann die Feder plötzlich über das Papier zu jagen, ohne Pause lief sie. All ihre Sehnsucht nach der Mutter, das größte Opfer, das der Krieg ihr bisher auferlegt, schrieb sich Annemarie von der Seele.
Margot, die sich jeden Satz zehnmal überlegte, und ihn dann womöglich wieder ausstrich, sah ganz erstaunt auf Annemaries unaufhörlich kritzelnde Feder. Lächelte sie jetzt nicht sogar unter Tränen – ja, Annemarie beschrieb gerade, wie sie vor einiger Zeit alle ihren Schlaf dem kleinen ostpreußischen Schreihals hatten opfern müssen – das war doch auch ein Opfer, das der Krieg ihr auferlegt hatte. Von dem kleinen Max zu den verlorenen zwanzig Mark war nur ein kleiner Schritt, mit ihrem heutigen schmerzlichen Opfer schloß sie den Aufsatz. Da war sie doch tatsächlich noch eher fertig geworden als die meisten.
»Brav, Annemarie,« lobte Fräulein Drehmann, »daß du dich bemüht hast, deine Gedanken auf die Pflicht zu richten. Nun werde ich dich beurlauben, damit du nochmals in der früheren Schule Nachforschungen anstellst.«
Annemarie knickste dankbar, stülpte die Matrosenmütze auf und stattete den Soldaten ihren zweiten Besuch ab. Die meisten machten gerade auf dem Hofe Laufübungen. Neugierig sah alles auf den puterroten kleinen Eindringling.
Der Unteroffizier fragte sie ziemlich barsch, was sie noch hier zu suchen habe.
»Mein Portemonnaie – mein kleines Muschelportemonnaie mit zwanzig Mark«, stieß die Kleine, die doch so leicht nicht einzuschüchtern war, ganz ängstlich hervor.
Da wurde die Miene des Unteroffiziers freundlicher.
»Leute, hat einer von euch ein Portemonnaie mit zwanzig Märkern gefunden?«
Keiner von all den vielen Soldaten. Nur der ältere Landwehrmann, der vorher schon so nett zu ihr gewesen, trat vor.
»Melde gehorsamst, daß die Kleine in der Klasse, in der wir einquartiert sind, vorhin gewesen ist und ihr Taschentuch herausgezogen hat: vielleicht ist es ihr dabei entfallen.«
»Gehen Sie mit, Müller, und suchen Sie mal nach«, befahl der Unteroffizier.
Annemarie atmete auf. Sie machte dem Herrn Unteroffizier ihren schönsten Knicks und trabte hinter dem netten Landwehrmann her.
Die Tische und Bänke waren bereits aus der Klasse herausgeräumt, Matratzenlager aufgeschlagen. Soviel die beiden auch suchten, das kleine Muschelportemonnaie blieb unsichtbar.
Schweren Herzens mußte Doktors Nesthäkchen sich entschließen,