Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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Gesichter von der Welt.

      »Was ist denn das für ein gräßliches Jör?« fragte Klaus, sich die Ohren zuhaltend.

      »Du bist gräßlich, aber nicht mein süßes Kind!« rief die beleidigte kleine Mutter empört.

      »Was will denn der eklige Schreihals überhaupt hier?« Klaus vermochte die Sache noch nicht zu durchschauen.

      »Das ist dein neuer Neffe Hindenburg – – –«

      »Das ist ein armes, verlorengegangenes Ostpreußenkind –« zu gleicher Zeit gaben die Geschwister die Erklärung.

      »Was – und das soll etwa hier bleiben?« Klaus hegte durchaus keine zärtlichen Onkelgefühle gegen seinen neuen Neffen. »Wer soll denn den Mordsradau bloß aushalten!« Der Bruder hielt sich beide Ohren zu.

      »Na, erlaube mal, du machst manchmal noch viel größeren Radau«, rief Nesthäkchen in gekränktem Mutterstolz dazwischen. Während Hans den mit Hindenburgs Geschrei um die Wette blaffenden Puck aus dem Zimmer beförderte. Denn der Lärm war wirklich nicht mehr zu ertragen.

      »Ich hab’s – jetzt hab’ ich’s endlich raus, woran es gelegen hat,« rief Großmama, die schon ganz schwach war, dazwischen. »Die Hanne hat ja kein Loch in den Gummipfropfen gestochen, da kann der Kleine beim besten Willen nicht trinken.«

      Das Unglück wurde schnell gutgemacht, und das Wickelkind trank jetzt sein Fläschchen, daß es eine Freude war. Andächtig sah Nesthäkchen ihm zu. Dann lag Hindenburg vergnügt strampelnd, satt und zufrieden in seinem Puppenwagen – eine wohltuende Ruhe herrschte plötzlich wieder.

      Die Gefühle aller Familienmitglieder gegen ihn wurden dadurch freundlichere.

      Nur Puck konnte sich augenscheinlich nicht mit dem kleinen Fremdling befreunden. Leise knurrend umstrich er den Puppenwagen. Auch Großmama schüttelte unzufrieden den Kopf, weil Annemarie alle paar Minuten beim Abendbrot aufsprang, um einen Blick hinter die weißen Mullgardinen zu werfen, hinter denen Hindenburg jetzt sanft schlummerte.

      Als Nesthäkchen selbst schlafen ging, mußte der Wagen mit dem Kleinen dicht neben ihrem Bette stehen, wie früher ihre Lieblingspuppe Gerda. An Fräulein, die über den Abend fortblieb, schrieb Annemarie einen Brief, als Erklärung für den merkwürdigen kleinen Schlafburschen. Sie legte das Schreiben auf den Kinderstubentisch, dort würde Fräulein es sicher finden.

      Fräulein kam spät von ihrer Geburtstagsfeier nach Hause. Alles schlief schon. Um Annemarie nicht zu wecken, zog sich Fräulein ohne Licht aus. Im Dunkeln sah sie Nesthäkchens Zettel nicht und ahnte daher nicht, wer das Kinderzimmer mit ihnen teilte.

      Es war mitten in der Nacht. Da ließ sich ein leises meckerndes »Aäh ääh« vernehmen. Weder Fräulein noch Annemarie achteten darauf, beide schliefen tief und fest.

      Das »Ääh« wurde lauter, anspruchsvoller.

      Fräulein träumte, daß eine Herde Ziegen an ihr vorbeizog und brachte das meckernde »Ääh«, das sie in Wirklichkeit hörte, damit in Zusammenhang.

      Plötzlich ging das immerhin noch bescheidene Meckern in anmaßendes Schreien über.

      Fräulein fuhr empor – »Annemiechen, Kind – ist dir was, oder hast du bloß aus dem Schlaf geschrien?«

      »Nee – ach wo,« klang es ganz verschlafen aus Nesthäkchens Bett zurück, »das ist ja bloß Hindenburg.«

      »Wer?« Fräulein glaubte, Annemarie spräche im Fieber. Erschreckt knipste sie das elektrische Licht.

      Aus müde blinzelnden Augen sah Annemarie sie ganz ruhig an, während das Schreien weiter ertönte. Barmherziger – kam das nicht aus dem Puppenwagen?

      Fräulein war im allgemeinen eine beherzte Person, aber jetzt sträubte sich ihr doch das Haar vor Entsetzen. Alles, was sie jemals von mitternächtigen Spukgeschichten gehört, erwachte in ihr. Entgeistert wies sie mit ausgestrecktem Zeigefinger nach dem weißen Wagen, aus dem die merkwürdigen Töne kamen. War der etwa verhext?

      »Er wird wieder Hunger haben – aber jetzt in der Nacht ist doch keine Zeit dazu!« meinte Annemarie mit herzbrechendem Gähnen. Sie war so müde, daß all ihre Mutterliebe dagegen nicht aufkam.

      »Wer – von wem sprichst du denn, Annemiechen – von deinem Puppenjungen?«

      »Nee – von Hindenburg«, Nesthäkchen versuchte die Bettzipfel in die Ohren zu stopfen.

      Hindenburg – – – die Russen an den Masurischen Sümpfen konnten nicht mehr Angst vor ihm gehabt haben, als das arme Fräulein jetzt. Hatte denn Annemarie den Verstand verloren – oder – ach, du lieber Himmel, hätte sie selbst am Ende zu viel von der Geburtstagsbowle getrunken, lag es am Ende bloß an ihr?

      Zum Glück für Fräulein erschienen jetzt zu gleicher Zeit Großmama im lila Schlafrock und Hanne in der rosa Barchentnachtjacke in der Tür. Während Großmama vor sich hin seufzte: »Das muß anders werden – das kann nicht so bleiben«, wagte sich die Köchin zu Fräuleins heimlichem Staunen an den verhexten Puppenwagen. Aber als sie daraus gar ein lebendiges Wickelkind herausholte, wuchs Fräuleins Staunen ins Ungeheure.

      Großmama gab ihr die notwendige Erklärung für das plötzliche Auftauchen des Säuglings. Da beruhigte sich Fräulein ein wenig.

      Nicht so Hindenburg. Der schrie bis zum Morgengrauen. Ein ganzes Heer setzte er in Bewegung: Großmama, Hanne, Fräulein, Annemarie und Hans. Alle versuchten sie es, durch Klopfen, durch Wiegen, Fahren, Summen, Schnalzen und Singen die Kraftanstrengungen des kleinen Hindenburgs zu brechen. Es nützte nichts, sie waren die Schwächeren. Erst als Großmama in ihrer Verzweiflung gegen Morgen ihm sein Fläschchen brachte, ward er friedlicher und gab auf kurze Zeit Waffenstillstand.

      Nur Klaus und Puck schliefen in dieser Nacht.

      Am andern Morgen wurde ganz zerschlagen Kriegsrat über Hindenburg abgehalten.

      »Keinen Tag behalte ich ihn länger im Hause«, sagte Großmama bestimmt. »Ich, alte Frau, kann schließlich den Schlaf entbehren, aber wenn ihr, jungen Kinder, um eure notwendige Nachtruhe kommt, das kann ich unbedingt nicht zugeben.«

      »Er wird sich bessern, ich werde ihn schon erziehen«, nahm Nesthäkchen, das aus müden, umschatteten Augen blickte, die Partei ihres Kindes. Aber es klang lange nicht so lebhaft und überzeugungsvoll wie gestern. Das Nachtkonzert hatte selbst Annemaries Gefühle abgekühlt.

      »Das ist ein Schreikind – das ändert sich nicht!« ließ sich Fräulein überzeugungsvoll vernehmen.

      »Es ist ein armes, kleines, in der Welt herumgestoßenes Ostpreußenkind, wo soll es denn bleiben?« Hans, der die ganze Suppe eingebrockt hatte, wagte trotz der Gewissensbisse, die ihn die ganze lebhafte Nacht hindurch gequält, noch einmal einen Vorstoß.

      »Für ein Unterkommen laß mich nur sorgen«, die sonst so herzensgute Großmama war allen Verhandlungen gegenüber unzugänglich.

      »Trag’s doch dahin zurück, wo du’s hergeholt hast«, meinte Klaus großmäulig.

      »Du hast überhaupt still zu sein, du hast ja die ganze Nacht geschlafen.« Fast wäre es über den kleinen Hindenburg zum Streit zwischen den beiden Brüdern gekommen, wenn nicht grade in diesem Augenblick Hanne gesagt hätte: »Was unsere Portierfrau is, wird das Kleine jewiß janz jerne nehmen. Der is doch im vorigten Frühjahr ihr kleenes Mäxeken jestorben. Der Mann ist nu auch im Feld, und die Jroßen sind schon aus’m Hause.«

      »Ja, das ist ein guter Gedanke, Hanne«, meinte Großmama erfreut. »Ich werde mit der Portierfrau reden. Sie ist eine ordentliche, zuverlässige Frau, und man kann dort ein Auge auf den Kleinen behalten.

      Großmama versprach der Frau jeden Monat ein Pflegegeld für den Kleinen, und diese nahm ihn mit Freuden.

      So ward das Lebensschifflein des kleinen Ostpreußenflüchtlings in ein anderes Fahrwasser gelenkt.

      Er zog aus Nesthäkchens Puppenwagen in die Portierwohnung hinab, und aus dem kleinen Hindenburg wurde ein »Mäxeken.«