Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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Wenn Hans daheim von seinem Tagewerk berichtete, dann kam ihm trotz all des Jammers, den er mit angeschaut, ein Frohgefühl, eine innere Befriedigung, wie man sie nur hat, wenn man hilfreich gegen andere gewesen ist, mit Hintenansetzung seiner eigenen Person. Das war für den Obersekundaner wenigstens ein kleiner Ersatz dafür, daß er selbst noch nicht mit ins Feld hinausdurfte, wie er es nur zu gern wollte.

      Die mitfühlende Großmama hatte jedesmal Tränen in den Augen, wenn sie von dem Elend der Geflüchteten hörte. Sie half und gab, wo sie nur konnte.

      Klaus und Annemaries Teilnahme war, wie das bei Kindern der Fall zu sein pflegt, mit Neugierde und dem Interesse an dem Abenteuerlichen untermischt. Aber auch Klaus opferte seinen letzten Groschen, der eigentlich vernascht werden sollte, für die Ostpreußen. Nesthäkchen jedoch bestimmte den Inhalt ihrer Fremdwortkasse, die schon allen möglichen guten Zwecken hatte dienen sollen, jetzt endgültig für die armen Flüchtlinge.

      Wie die Zeppeline jetzt Antwerpen mit Bomben belegten, so bombardierten die jüngeren Geschwister den großen Bruder mit ihren Fragen.

      »Erzähle doch, Hans, was macht ihr Pfadfinder eigentlich da auf der neu eingerichteten Flüchtlingsstation am Bahnhof?« begehrte Klaus zu wissen, der mit heimlichem Neid auf die Tätigkeit des Großen blickte.

      »Da nehmen wir mit einer Roten-Kreuz-Schwester zusammen die Namen der ankommenden Flüchtlinge auf, ihren früheren Wohnort und ihr Reiseziel.«

      »Seid ihr aber neugierig, wozu denn bloß?«

      »Täglich kommen Anfragen von Verwandten der Flüchtlinge, ob der eine oder die andere schon durch Berlin durchgekommen ist. Da müssen wir Pfadfinder natürlich Bescheid wissen und Auskunft geben können. Viele Familien sind in dem Tumult der Flucht, der fürchterlichen Überfüllung der Züge, voneinander gerissen und getrennt worden. Die holen sich ebenfalls bei uns Auskunft über den Verbleib ihrer Angehörigen. Manche haben Verwandte in Berlin, zu denen wir Pfadfinder sie führen müssen, denn die ostpreußischen Bauern, die kaum jemals ihre Heimatsscholle verlassen haben« finden sich doch in dem großen Berlin nicht zurecht. Wir bringen die Flüchtlinge von einem Bahnhof zum andern, wenn sie weiterreisen, oder wir rufen auch ihre hiesigen Verwandten herbei, die sie vielleicht gern während ihres kurzen Aufenthaltes in Berlin sprechen wollen. Die Obdachlosen bringen wir in das Unterkunftshaus. Wir helfen die Hungernden speisen, verteilen die gespendeten Lebensmittel und Kleidungsstücke. Denn die Not ist entsetzlich. Oft haben die Leute keinen Rock auf dem Leibe. Kinder sind manchmal, in sinnloser Angst vor den Kosaken, im Hemd aus den Betten gerissen worden und müssen nun hier erst eingekleidet werden. Für all das haben wir mit Sorge zu tragen. Der Pfadfinder ist eben Mädchen für alles!« Der Obersekundaner lachte über seinen Witz, trotzdem die Erinnerung an all das geschaute Elend ihm nahe gegangen war.

      Großmama sah traurig vor sich nieder. Wieviel Menschenglück vernichtete dieser unselige Krieg! Ach, daß er bald siegreich beendet wäre! Klaus hatte mit blitzenden Augen gelauscht, ach, wie er den Hans beneidete! Aber in zwei Jahren war er auch so weit, um dem Pfadfinderbunde anzugehören – wenn der Krieg doch bloß noch so lange dauern würde! So standen sich die einsichtigen Wünsche des Alters und die törichten der Jugend gerade gegenüber.

      Nesthäkchen hatte leise das Zimmer verlassen, die großen Brüder sollten nicht sehen, daß es Tränen in den Augen hatte, denn es gab jedesmal Neckereien, wenn Annemarie mal weinte. Besonders Klaus tat sich rühmlichst dabei hervor. Heute hätte aber auch er sein Schwesterchen wahrscheinlich in Frieden gelassen, galten doch ihre Tränen fremdem Unglück.

      Fräulein rief nach dem kleinen Mädchen.

      »Annemie, du hast ja noch gar nicht fertiggegessen. Hier ist noch ein Ei für dich, und deine Schinkenstüllchen liegen ja auch noch da – wo steckst du denn bloß?«

      Da trocknete Nesthäkchen geschwind die verräterischen Tränen und kam wieder zum Vorschein. Es warf einen Blick auf den noch immer mit allerhand guten Sachen voll besetzten Tisch, trotzdem die ewig hungrigen Jungenmagen der Brüder schon ihr möglichstes geleistet hatten. Wieviel kleine Ostpreußenkinder konnten davon noch satt werden!

      »Fräulein, ich kann nicht mehr essen – ich habe wirklich schon genug!« beteuerte Annemarie. Dann wandte sie sich an die Großmama, deren gütiges Herz sich ja schon so oft bewiesen hatte. »Liebes, einziges Großmuttchen, darf ich dem Hans nicht mein Abendbrot für die hungrigen Ostpreußenkinder mitgeben? Ich habe ja soviel heute mittag zu essen bekommen. Und die armen, kleinen Flüchtlingskinder müssen hungern und frieren!« Da brachen sie sich doch Bahn, die abscheulichen Tränen, welche die Jungen nicht sehen sollten. Aufschluchzend schmiegte die weichherzige Kleine den Blondkopf an den weißhaarigen der Großmama.

      Keiner von den Brüdern foppte heute Nesthäkchen. Der daneben sitzende Hans klopfte ihr beruhigend den Rücken; und Klaus schob ebenfalls sein Butterbrot, von dem er bereits den Belag heruntergegessen hatte, mit kühnem Entschluß dem älteren Bruder zu.

      »Da, meins kannst du auch morgen mitnehmen.« Denn Klaus war trotz all seiner dummen Streiche ein von Herzen guter Junge.

      Großmama tröstete ihren kleinen Liebling. »Iß nur, mein Herzchen, von den beiden Stüllchen werden die verhungerten kleinen Flüchtlingskinder doch nicht satt. Dazu sind ihrer zu viele. Wir packen einen Korb mit mehreren ganzen Broten und Butter, ein paar Würsten und Schinken, das hilft schon eher, den kann Hanne morgen nach dem Schlesischen Bahnhof bringen.«

      »Ich nehme ihn auch selbst – es ist keine Schande, für das Vaterland einen Korb zu tragen!« Der Herr Obersekundaner, dem früher das kleinste Paket peinlich gewesen war, da er glaubte, es könne seiner Männlichkeit Abbruch tun, meldete sich freiwillig. So erzog der Krieg die Jugend.

      »Und Wäsche und Kleider wollen wir auch für die armen Kinder mitschicken, daß sie nicht mehr im Hemdchen herumzulaufen brauchen und frieren müssen«, bat Annemarie noch immer schluchzend.

      »Ja, ja, mein Kleines, wir revidieren morgen alle Sachen, nun iß du aber auch!«

      »Revidieren ist ein Fremdwort!« selbst unter Tränen hielt Nesthäkchen der Großmama ihren feldgrauen Soldaten hin. Dann endlich ließ Annemarie es sich wieder schmecken. Aber als sie nachher im Bett lag, konnte sie nicht einschlafen. Diesmal waren es nicht die Gedanken an den im Krieg weilenden Vater und an das unbekannte Schicksal ihrer fernen Mutti, was Annemarie wach hielt. Nein, die armen, von Haus und Scholle vertriebenen Ostpreußen waren es, deren trauriges Schicksal den Schlummer von Nesthäkchens Blauaugen scheuchte.

      Wieviel kleine Flüchtlingskinder mochten wohl heute kein Bettchen haben, in dem sie die müden Glieder strecken konnten! War sie denn eigentlich besser als all die armen Kleinen, daß es ihr so gut ging? Und war sie denn jemals dankbar dafür gewesen? Hatte sie es nicht als etwas ihr Zukommendes stets hingenommen, daß sie eine schöne Stube hatte, ein warmes Bett, Kleidung und Essen? Ja, war ihr nicht all die Liebe, die ihr von ihren guten Eltern zuteil geworden, als etwas ganz Selbstverständliches erschienen, bis zu dem Augenblick, da die Eltern in ihrem Heim fehlten?

      Das waren merkwürdig ernsthafte Gedanken, die heute in dem sonst von allerlei ausgelassenen Dummheiten angefüllten Köpfchen des Wildfangs herumspukten. Auch der Mond, ihr guter, alter Freund, war darüber verwundert.

      Aber was für ein erstauntes Gesicht machte der Vollmond erst, als er sah, daß seine kleine Freundin lautlos ihr Lager verließ. Daß sie sich zur Tür schlich und horchte, ob auch Fräulein nicht käme und sie wieder ins Bett zurückjagte. Nanu, Doktors Nesthäkchen hatte doch nichts Schlechtes im Sinn?

      Nein, der Mond brauchte gar nicht solch ein grimmiges Gesicht zu machen – Annemarie tat nichts Böses. Bei seinem Silberschein suchte sie in aller Nacht von ihren eigenen Kleidern, was sie nur irgend entbehren konnte, für die armen Flüchtlingskinder heraus – eher fand sie keine Ruhe. Hans sollte gleich morgen früh alles mitnehmen, nicht einen Tag durften die Kinder mehr frieren.

      Zuerst ging es an den weißen Schrank, in dem ihre schöne Wäsche, zierlich mit hellblauen Bändern gebunden, aufgestapelt lag. Ach, wieviel Hemden und Höschen hatte sie, die konnte sie fast alle fortgeben. Denn Hanne, die immer so nett zu ihr war, würde gewiß gern öfters in der Woche für sie waschen. Da brauchte