Annemarie wollte gern mit Klaus an dem schulfreien Nachmittag Unter die Linden gehen. Die schöne Straße Berlins, die vom Brandenburger Tor zum alten Kaiserschlosse führt: dort zog an patriotischen Gedenktagen das Militär mit Musik entlang, dort zeigten sich auch öfters die kleinen Prinzen, jubelnd von der Menge begrüßt, am Fenster oder auf dem Balkon.
Klaus hatte sich mit zwei Freunden verabredet, und Annemarie wollte für ihr Leben gern mit.
Aber Großmama war ängstlich, Nesthäkchen gerade heute, wo die Menschen sich sicherlich Unter den Linden drängten, dem wilden Jungen anzuvertrauen. Fräulein war für den Nachmittag und Abend zum Geburtstag einer Bekannten beurlaubt, und Großmama selbst hatte einen wichtigen Weg vor. Sie wollte aufs holländische Konsulat und sich dort erkundigen, wie ein Brief über das neutrale Holland am sichersten ihre Tochter in England erreichen würde. Denn die Zeitungen hatten Berichte über Ausschreitungen und Gewalttätigkeiten der Londoner Bevölkerung gegen dort wohnende Deutsche gebracht. Die Polizei hatte die Deutschen zu deren eigener Sicherheit festnehmen müssen.
Diese Zeitungsnachrichten waren natürlich dazu angetan, die große Sorge der alten Dame um ihre Tochter, von der sie immer noch nichts hörte, zu vermehren. Es war ihr gelungen, das Zeitungsblatt vor den Kindern zu verbergen. Was sollten die sich auch noch um ihre Mutti ängstigen! Nur der große Hans trug gemeinsam mit Großmama die Sorge. Man hatte ihm beim Roten Kreuz den Rat gegeben, über Holland zu schreiben, und nun wollte die Großmama keinen Tag mehr damit zögern.
Nesthäkchen sollte sie begleiten. Aber das wollte nicht. Nee, wenn es nicht Unter die Linden durfte, blieb es überhaupt zu Hause.
So saß Annemarie an diesem goldenen Sedantage allein auf dem Balkon oder vielmehr »Vorbau« und strickte eine Leibbinde für den Vater, der jetzt zwischen Reims und Verdun viel Arbeit hatte.
Aber die Kleine war gar nicht vergnügt bei ihrem Werk. Eigentlich hätte sie ihrem Vatchen, der es jetzt so schwer hatte, lauter frohe Gedanken mithineinstricken müssen, denn Nesthäkchen war doch sein Sonnenschein.
Das fand auch die liebe Sonne droben am Himmel. Sie sandte ihre lustigsten, übermütigsten Strahlen zu der kleinen Strickerin herab, aber das hübsche Kindergesicht wollte sich trotzdem nicht erhellen.
Annemarie war aber auch zu ärgerlich. Und wenn sie ehrlich war – und das war sie eigentlich immer – am meisten auf sich selbst. Warum war sie auch in ihrem Eigensinn nicht mit Großmama mitgegangen! Nun mußte sie an dem schönen Sedantage allein hier zu Hause hocken. Freundin Margot, auf deren Gesellschaft sie heimlich gehofft, schien auch ausgegangen zu sein. Wenigstens ließ sich auf das verabredete Freundschaftszeichen, dreimaliges Klopfen an der Balkonwand, kein Echo vernehmen.
Wie dumm, daß Hans selbst heute Dienst hatte. Dem großen Bruder hätte Großmama sie sicherlich anvertraut.
Schloß es da nicht an der Eingangstür? Das konnte nur Hans sein.
Au fein – gerade heute kam er früh, vielleicht ging er noch ein bißchen mit ihr Unter die Linden.
»Ist denn kein einziges Frauenzimmer hier im Hause?« – Hans ging suchend durch alle Zimmer.
»Ja, hier ist eins«, meldete sich Nesthäkchens Stimme vom Balkon.
»Ach, du«, machte der Bruder, der in großer Eile zu sein schien, wegwerfend. »Wo ist die Großmama oder Fräulein?«
Annemarie antwortete nicht. Fiel ihr ja nicht im Traum ein, wenn der Hans so zu ihr war.
»Herrgott, Mädel, sei doch nicht so störrisch, du siehst doch, daß es sich um eine Sache von größter Wichtigkeit handelt. Ist denn Hanne nicht wenigstens da?«
»Nee, die ist einholen gegangen. Und Großmama und Fräulein sind auch fort«, bequemte sich Annemarie jetzt zu antworten. Denn Sachen von größter Wichtigkeit erregten die Wißbegier des kleinen Fräuleins.
»Das ist ja eine nette Geschichte«, der Bruder war in heilloser Aufregung.
»Was ist denn los, Hänschen, sag’ es mir doch, ich bin doch schon elf Jahre alt«, die Kleine brannte vor Neugierde.
»Ich habe euch da was mitgebracht«, der Bruder wies auf ein ziemlich umfangreiches Paket, das er unter seiner Lodenpelerine versteckt hielt. Ein leises, leises Mauzen ward hörbar.
»Ach, ein Kätzchen – eine junge Katze – die habe ich mir schon lange gewünscht! Schenke sie mir, Hänschen, bitte, bitte, schenk’ sie mir doch!« Annemarie umsprang freudestrahlend den Bruder. Vergessen war im Nu alle schlechte Laune.
»Das Kätzchen ist – ein kleines Ostpreußenkind!« Da zog der Obersekundaner endlich das Bündel hervor, das er unter der Pelerine ungeschickt im Arm hielt.
Nesthäkchen stand starr.
Ein rotgeschrienes Kahlköpfchen ward sichtbar, zwei energisch in der Luft herumfuchtelnde Händchen. So klein, so winzig klein wie von einer großen Puppe.
»Ist das süß!« Da kam wieder Leben in das erstaunte kleine Mädchen. »Das ist ja noch tausendmal niedlicher als ein Kätzchen. Schenkst du’s mir, Hänschen?« Nesthäkchens Hände griffen liebevoll nach dem quakenden Bündel. »Ein richtiges Wickelkind – ach, werden mich meine Freundinnen darum beneiden!« Wie sie es einst mit ihrer großen Puppe Gerda getan, so begann Nesthäkchen das rotkarierte Bündel mütterlich hin und her zu schaukeln.
Wirklich, das Weinen hörte auf.
Zwei große, blaue Kinderaugen sahen dumm verwundert in die ebenso blauen Annemaries, die beseligt an ihnen hingen.
»Laß es bloß nicht fallen, Annemie«, der Obersekundaner wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war ja ganz schön, Pfadfinder zu sein, aber daneben noch Kindermädchen spielen zu müssen, das war denn doch ein bißchen zu anstrengend.
»Wie werd’ ich denn!« Annemarie setzte sich mit ihrem quakenden Säugling der Sicherheit halber lieber hin. »Sieh mal, es kennt mich schon. Es denkt sicherlich, ich bin seine Mutter, und dich hält es gewiß für seinen Vater«, Annemarie mußte bei diesem Gedanken laut loslachen.
Aber der kleine Erdenbürger auf ihrem Arm schien nicht viel Sinn für Humor zu haben. Der hatte in seinem kurzen Leben wohl schon zu viel Ernstes erlebt. Oder hatte ihn Annemaries lautes Lachen erschreckt? Genug, das Mündchen verzog sich wieder weinerlich, und ein neues Konzert begann – diesmal unvergleichlich lauter, wenn auch nicht melodischer.
Es half nichts, Nesthäkchen mußte wieder aufstehen und den Schreihals hin und her schaukeln.
Der Obersekundaner sah dem kleinen Schwesterchen bewundernd zu. Tatsächlich, so ein Mädel verstand das doch besser, und wenn es selbst noch solch ein kleines Ding war wie Nesthäkchen. Geradezu etwas Mütterliches hatte die Art, mit der Annemarie den schreienden Säugling zu beruhigen suchte.
»Hat es keine Eltern mehr?« Da das Wickelkind gerade eine Schreipause machte, um neue Kräfte zu sammeln« regte sich die berechtigte Neugier nach dem Herkommen der ihr ins Haus geschneiten lebendigen Puppe bei Annemarie.
»Das weiß der Himmel allein«, Hans zuckte die Achsel. »Ostpreußische Flüchtlinge haben das Wurm irgendwo bei der Flucht an der Wegböschung aufgelesen und mit nach Berlin gebracht. Ob die Eltern es bei der Eile und Hast verloren haben, ob sie überhaupt noch leben, das weiß kein Mensch. Ebensowenig wie den Namen oder den Geburtsort des Kleinen. Ich sollte ihn ins Findelhaus bringen, aber da war alles voll. Man schickte mich von einer Kleinkinderkrippe zur andern, überall wurden wir wegen Überfüllung abgewiesen. Bis ich die Sache satt bekam und das Wurm einfach mit nach Hause genommen habe. Wir haben ja genug Platz und soviel Milch, wie so’n winziges Ding braucht, fällt wohl auch noch ab.«
»Fein, daß du’s mitgebracht hast, Hänschen. Ich will es an Kindes Statt aufziehen«, ließ sich Nesthäkchen wichtig vernehmen. »So’n armes Kleines kennt seine Eltern nicht mal und wird sie auch vielleicht niemals kennen lernen!« Annemarie hatte Tränen tiefen Mitleids in den Augen. Wieder ward ihr das furchtbare Elend, das ein Krieg mit sich bringt, offenbar. Und da weinte sie jeden Abend, bloß weil Vater und Mutter nicht bei ihr waren! Hatte sie nicht noch