– äääh« ertönen.
»Am Ende hat es Hunger«, Nesthäkchen war ziemlich ratlos dem brüllenden Bündel gegenüber. »Da – nimm es mal, Hänschen, ich hole ihm inzwischen was zu essen.«
»Leg’ es lieber aufs Sofa«, der Obersekundaner hatte genug vom Kinderwarten.
»Nee – da könnt es runterfallen. Aber weißt du was, Hans, in meinen großen Puppenwagen, da wird es gerade reinpassen – au famos!« Der Wildfang hätte beinahe vor Freude über diesen Einfall einen Luftsprung mit dem Säugling vollführt. Aber zum Glück schrie der Kleine in diesem Augenblick so wütend los, daß Nesthäkchen erschrocken innehielt.
Hans mußte sich nun doch bequemen, Vaterpflichten zu übernehmen und mit dem Schreihals in der Stube auf und ab zu traben, während Annemarie ihre sämtlichen Puppen, Lolo, Mariannchen, Kurt, Irenchen, und wie sie alle hießen, um die sie sich jetzt eigentlich gar nicht mehr kümmerte, aus dem Wagen schleuderte.
Wirklich, der kleine Gast paßte gerade in den großen Puppenwagen hinein. Ein so schönes Lager hatte er in seinem Leben noch nicht besessen. Er war so erstaunt über die weißen, spitzenbesetzten Kissen und die hellblaue Seidensteppdecke, daß er vor Bewunderung im Schreien innehielt.
Hans fuhr ihn jetzt hin und her. Vom Wohnzimmer ins Eßzimmer, vom Eßzimmer in die Kinderstube. Das ging schon eher als das Umhertragen und Wiegen, bei dem einen ganz schwindelig wurde.
Inzwischen überlegte Nesthäkchen eifrig, was sie »ihrem Kinde« wohl zum Essen vorsetzen könnte. Die Puppen hatten ihr das früher leichter gemacht. Die bekamen einfach Grasspinat und Kieselsteinbraten. Aber daß dies nichts für die lebendige Puppe war, soviel verstand Annemarie doch schon. Auch daß die vom Mittag übrig gebliebenen Erbsen mit Sauerkraut sich nicht recht zur Säuglingsnahrung eigneten, war ihr klar. Milch trank sie selbst nicht gern, da mochte das Wickelkind sie am Ende auch nicht. Aber das gab’s nicht – kleine Kinder müssen Milch trinken, sie wollte ihren Jungen schon gut erziehen.
Unter solchen Gedanken goß Nesthäkchen Milch in eine Tasse und begab sich damit schnell ins Wohnzimmer, aus dem es ihr bereits wieder »äääh – äääh« entgegenmauzte.
»So, mein kleines Kerlchen, nun trinke schön«, Annemarie hielt dem kaum sechs Wochen alten Kind die Tasse an den Mund. Das wußte natürlich nichts damit anzufangen, da es bisher nur aus der Flasche getrunken hatte. Es schlug mit den Fäustchen Annemarie fast die Tasse aus der Hand. Der Inhalt schwippte über Kind und Puppenbetten.
Da schrie das Wickelkind natürlich noch viel mehr, daß es krebsrot im Gesicht wurde. Denn es fühlte sich in dem Milchbade ungemütlich.
»Bist du aber ein kleiner Unart!« Annemarie fand die Kindererziehung doch gar nicht so einfach. Vergeblich tupfte sie mit ihrem Taschentüchlein die Milchtropfen und die Tränen von dem roten Gesichtchen. Was fing sie bloß mit der heulenden Puppe an?
»Ob ich Zucker in die Milch tue, Hans?« ratlos stand Nesthäkchen auf der einen Seite des Puppenwagens und der Obersekundaner mit nicht viel schlauerem Gesicht auf der andern.
Ja, Kinder machen Sorgen!
»Die Tasse ist wohl zu groß für seinen kleinen Mund, vielleicht gibst du es ihm mit dem Teelöffel«, überlegte der Große ganz verständig.
»Nee, lieber aus meinem Puppentäßchen, aus dem schönen rosa mit goldenen Blümchen. Daraus wird er sicher gern trinken.«
Annemarie holte das Täßchen herbei, goß Milch hinein und tat zum Überfluß auch noch Zucker zu. Wenn der Junge aber jetzt wieder so ungezogen war, dann mußte sie es mit Strenge versuchen.
Ob das Sechswochenkind die Absichten seiner kleinen Pflegemutter ahnte, oder ob es wirklich das schöne rosa Täßchen mit den Goldblümchen vorzog – es begann jetzt eifrig zu schlucken und zu schlecken.
Nein, war das niedlich! Annemarie strahlte vor Mutterstolz, und auch Hans atmete erleichtert auf. Denn schließlich hatte er doch die Verantwortung für das Wurm.
Nachdem die winzige Puppentasse fünfmal geleert war, fand Nesthäkchen sorglich, daß dies für ein so kleines Kindchen genug sei. »Sonst verdirbst du dir am Ende den Magen, mein Kleiner.«
Das Wickelkind war entgegengesetzter Ansicht. Es war jetzt erst auf den Geschmack gekommen. Und ausgehungert war es obendrein. Da es seine Meinung nicht anders äußern konnte, begann es wieder nachdrücklich zu schreien.
Nun war seine kleine Pflegemutter so klug wie zuvor. Ob sie es mit einem Klaps versuchte? Bei Eigensinn half der am besten, das wußte Nesthäkchen noch von sich selber her. Aber sie mußte sich die Liebe ihres Kindes doch erst erringen, zu große Strenge war da sicherlich nicht am Platz.
Unter diesen Überlegungen zog sich Annemarie ihren Kinderstuhl an den Puppenwagen, nahm ihr Strickzeug wieder zur Hand und ließ ihren Jungen in aller Gemütsruhe schreien.
»Wie heißt es denn, Hans?«
»Weiß ich doch nicht. Die Leute, die es gefunden haben, kannten es gar nicht.«
»Dann muß ich es taufen.« Angestrengt dachte Annemarie über einen besonders schönen Namen für ihr Wickelkind nach. »Wie findest du Brutus – oder auch Odysseus – nein, halt – ich hab’s – wir nennen ihn Hindenburg.«
Hans wollte zwar einwenden, daß dies kein Vorname sei, aber der kleine Hindenburg überschrie ihn mit Feldherrnstimme.
Da erschien in der Tür, angelockt von den merkwürdigen Tönen, die vom Einholen zurückkehrende Köchin.
»Um Himmels willen – was ist denn das für ’ne Bescherung?«
»Ein süßes Kind – wir haben ein Kind gekriegt, Hanne – es heißt Hindenburg!« Das kleine Mädchen blickte erwartungsvoll in Hannes derbes, rotes Gesicht. Was würde die bloß zu ihrem Jungen sagen?
Die sagte aber gar nichts. Sie tippte nur nicht mißzuverstehend gegen ihre Stirn. War denn die ganze Welt durch den Krieg verrückt geworden?
»Ich hab’ Angst, daß die Russen zu uns kommen, und nun kommt statt dessen so’n kleenes, vermiekertes Wurm – und Hindenburg – nee, wie können Eltern ihr Kind bloß so varrickt nennen – – –« ließ sich Hanne endlich mit dem schlauesten Gesicht der Welt vernehmen.
Hans und Annemarie mußten lachen.
»Ich hab’ es doch so genannt, weil es keine Eltern hat, und weil es jetzt mein Kind ist«, so laut Annemarie auch schrie, Hindenburg junior überschrie sie.
»Dein Kind – na, laß man die jnädije Jroßmama nach Hause kommen!«
»Großmama wird sich sehr freuen mit meinem Jungen und Fräulein auch, gerade so wie ich. Aber Sie haben gar kein Herz, Hanne, für so’n armes, verlorengegangenes Ostpreußenkind. Bsch – bsch – sei ruhig, Hindenburg!« Was so’n winziges Ding doch schon für eine Kraft in der Kehle hatte. Annemarie klopfte und schaukelte den Wagen, aber Hindenburg brüllte wütend weiter.
»Na, komm mal her, Kleener«, die Köchin griff nach dem Schreihals. Den Vorwurf der Herzlosigkeit wollte die gute Hanne doch nicht auf sich sitzen lassen. »Det Wurm hat Hunger,« entschied sie dann sachverständig, »es saugt ja an de Fingerkens.«
»Nee, das ist gar nicht möglich, es hat schon so viel Milch getrunken«, behauptete seine kleine Mutter. Nach Fug und Recht konnte Hindenburg doch ruhig sein. Das fiel ihm aber gar nicht ein. Er begann mit ungeschwächten Lungen von neuem zu trompeten. Dabei steckte er die Finger in den Mund, daß er beinahe erstickte.
»Hindenburgchen – sei doch artig – morgen fahre ich dich auch spazieren«, aber selbst dieses Versprechen Annemaries fruchtete nichts. Sie holte einen kleinen Ball herbei und hielt ihn dem Wickelkind hin, aber das war noch zu dumm, um danach zu greifen. Auch die Kuhglocke, die als Tischklingel benutzt wurde, und die Annemarie geräuschvoll in Bewegung setzte, um den Kleinen zu erheitern, hatte nur den einen Erfolg, daß Hindenburg sie aus Leibeskräften zu übertönen trachtete.
Da kam gerade die Großmama nach Haus.