weh, für zwei reicht die Suppe nicht mehr. Hätten wir doch jeder etwas weniger gegessen«, sagte Großmama bedauernd.
»Großmuttchen, ich gebe meine Suppe, ja, bitte, bitte, erlaube es doch«, Nesthäkchen floh von Mitleid über. Hatte sie nicht die arme Kleine vor kurzem um ihre Mutter beneidet? Und nun war diese blind!
Großmama hatte nichts dagegen. Es schadet einem Kinde nichts, wenn es sich mal selbst Opfer auferlegt, um der Armut zu helfen.
Eigenhändig trug Annemarie ihren fast noch vollen Teller in die Küche und schaute mit frohen Augen zu, wie es der hungrigen kleinen Sängerin mundete. Fräulein mußte sie wieder zu Tisch zurückholen.
Drin aber schlug Hans, seit kurzem Oberprimaner, vor: »Wir wollen uns jeder etwas weniger Fleisch und Gemüse nehmen, dann bleibt noch genügend für die armen Leute.«
»Brav, Hans«, lobte Großmama. Selbst Klaus hatte die löbliche Absicht, seinen Appetit etwas einzudämmen; es wurde ihm auch bei dem Kohlgemüse nicht allzuschwer. Aber als Hanne, die sich noch immer nicht an die Kriegssparsamkeit im Haushalt gewöhnen konnte, noch einen Eierkuchen auftrug, meinte Klaus bedauernd: »Ich glaube, jetzt kann das Mädel aber schon satt sein!«
»Pfui, Klaus,« rief Nesthäkchen eifrig, »das arme Ding hat in der Küche den schönen Eierkuchen gesehen und gerochen und soll nun nichts davon haben? Das wäre schlecht von uns.«
»Ja, Herzchen, es wird aber schwer halten, zwei Teile mehr herauszubekommen.« Großmama sah zweifelnd auf die Eierkuchen. »Hanne hat nur aus sechs Personen gerechnet. Ich will ja gern auf den meinigen verzichten.« –
»Ich auch auf meinen!« fiel Annemarie ein, trotzdem es ihr durchaus nicht leicht wurde. Denn Eierkuchen mochte das Süßschnäbelchen besonders gern.
Hans erbot sich nun auch zum Verzicht, nur Klaus brummte: »Die Krabbe wird viel zu sehr verwöhnt, wenn sie so gutes Essen kriegt!«
Nesthäkchen aber trug ganz schnell, ehe es ihr wieder leid wurde, ihren Eierkuchen dem kleinen Gast hinaus. Und als sie das Aufleuchten der Kinderaugen sah, empfand Annemarie nur noch Freude über das Opfer, das sie gebracht.
Aber was war denn das?
Als sie jetzt wieder ins Zimmer zurückkehrte, da stand ja auf ihrem Platz ein ganzer Teller voll Eierkuchen. Keiner wollte wissen, wie der da hingekommen war. Jeden, den Nesthäkchen im Verdacht hatte, ihr sein Teil zugeschoben zu haben, lachte und schüttelte den Kopf. Zuletzt blieb bloß noch Klaus als gütiger Spender übrig, der einzige, der nur an seinen eigenen Magen gedacht hatte.
»Weißt du, Großmuttchen,« überlegte Annemarie, während sie es sich schmecken ließ, »eigentlich könnte das arme Kind doch öfters bei uns essen. Es hat die ganze Woche nur Kaffee und trockenes Brot zum Mittag bekommen. Wenn wir jeder ein ganz klein bißchen weniger kriegen, wird es auch noch mit satt, und oft bleibt doch noch etwas übrig. Zu Veras Tante kommt täglich ein Kriegskind zu Tisch, und drüben bei Thielens holt sich eine Familie zweimal die Woche das Essen.«
Großmama, die in aller Stille viel Gutes tat, war auch dazu sofort bereit. »Aber ich muß erst mal mit der Frau sprechen, daß man es auch keinem Unwürdigen zukommen läßt«, setzte sie noch hinzu.
Was war das für ein elendes Leben, von dem die Blinde berichtete! Annemarie, die sich neugierig hinter der Großmama hergeschlichen, traten die Tränen in die Augen. Der Mann war tot, und die Frau, die sich sonst durch Stühleflechten armselig ernährt, hatte jetzt in der Kriegszeit so gut wie nichts zu tun. Dazu die hohen Lebensmittelpreise – meist gingen Mutter und Kind hungrig ins Bett. Die paar Groschen, die die kleine Trude auf den Höfen durch ihren Gesang erhielt, reichten knapp zur Miete.
Großmama war eine tatkräftige Frau. Zuerst schickte sie die durchnäßte, vor Kälte zitternde Trude mit Fräulein und Annemarie ins Kinderzimmer und ließ ihr trockenes Zeug geben. Seit der Reichswollwoche war Annemarie schon manches wieder ausgewachsen, und Trude war trotz ihrer dreizehn Jahre nur klein und schmächtig. Bald hatte sie statt ihrer zerlöcherten Schuhe feste Stiefel auf den Füßen, und über dem warmen Wollkleid von Annemarie eine ausgewachsene Lodenpelerine von Klaus, deren Kapuze den Kopf vor Regen schützte. Auch die Mutter erhielt warme Sachen von Großmama und Fräulein.
Als die beiden mit innigen Dankesworten wieder in den kalten Novemberregen hinausgingen, von Hof zu Hof, da dachte Doktors Nesthäkchen: »Womit habe ich es nur verdient, daß es mir so gut geht!«
Nun stellte sich die kleine Trude täglich zu Tisch ein. Hanne, die als herrschaftliche Köchin zuerst etwas gebrummt hatte, daß ihr das »Bettelvolk« ihre schön gescheuerte Küche mit den nassen Füßen schmutzig trete, söhnte sich von Tag zu Tag mehr mit dem kleinen Gast aus.
Trude war wirklich ein liebes, und durch die Not über ihre Jahre verständiges Mädchen. Sie half, um ihre Dankbarkeit für das Mittagbrot zu beweisen, der Hanne stets beim Abtrocknen des Geschirrs und bot sich zu Botengängen und sonstigen kleinen Diensten an. Für die Mutter nahm sie das Essen mit nach Haus. Großmama, die nichts halb tat, hatte dafür Sorge getragen, daß der armen Blinden von dem Strickverein, dem sie angehörte, Wolle geliefert wurde. Jedes Paar Strümpfe, das sie brachte, wurde gut bezahlt. Denn der Verein wollte arme Frauen unterstützen, ohne daß es ein direktes Almosen war. Die Blinde strickte schneller und besser wie die meisten, die ihr Augenlicht hatten. So verdiente sie soviel, daß die kleine Trude nicht mehr auf den Höfen zu singen brauchte.
Öfters bat Annemarie das Kriegskind, noch ein bißchen zu ihr ins Kinderzimmer zu kommen. Da Trude ein wohlerzogenes, gutgeartetes Mädchen war, hatte weder Großmama noch Fräulein etwas dagegen einzuwenden. So saßen die Kinder des Glückes und das Kind der Armut denn an den langen Winternachmittagen traulich beisammen und strickten, beide um die Wette, für die Feldgrauen. Wie der Krieg draußen an der Front ein kameradschaftliches Band zwischen arm und reich gewoben, so tat er es auch in der Kinderstube.
Aber ein kleines Restchen von Vorurteil und überhebendem Stolz war trotz alledem in Nesthäkchens Herzen geblieben.
Annemarie und ihre fünf Freundinnen hatten in diesem Winter zum erstenmal ein Kränzchen. An jedem Sonnabend kamen sie zum Kaffee zusammen. Entweder wurde für die Soldaten gestrickt, oder sie nähten unter Fräuleins Anleitung für ihren Junghelferinnenjungen Kittelchen. Das waren wunderhübsche Nachmittage. Eine las irgendeine hübsche Erzählung vor, und die andern waren fleißig bei der Arbeit. Auch Veras blasse Wangen röteten sich dann vor Eifer, und ihre Augen bekamen wieder Frohsinn und Glanz im Kreise der fröhlichen Genossinnen.
Heute war bei Annemarie Kränzchen. Sie hatte ihr Zimmer besonders hübsch aufgeräumt und den Tisch eigenhändig zierlich gedeckt. Da Großmama auch Besuch erwartete, tranken die Kränzchenschwestern im Kinderzimmer Kaffee. Annemarie war durchaus einverstanden damit, sie fand es besonders gemütlich, Trude hatte ihr neulich einen Winterstrauß roter Beeren und Tannengrün, den sie in einem Blumengeschäft, für das sie öfters Botengänge tat, geschenkt bekommen, netterweise mitgebracht. Der prangte in der Mitte des weißgedeckten Tisches und machte ihn ganz festlich.
Es war gegen vier Uhr, gleich mußten die Freundinnen kommen. Annemarie stand am Fenster und spähte aufgeregt zu Margots Wohnung hinüber, die stets die erste war, da sie es am nächsten hatte.
Da klopfte es leise.
»Herein«, rief Annemarie und sprang zur Tür, in der Meinung, daß es Margot wäre.
Die schmale Gestalt des Kriegskindes schob sich schüchtern hinein.
»Wenn du erlaubst, Annemarie, kann ich heute nachmittag bei dir bleiben, Mutter braucht mich nicht«, sagte es bescheiden.
Annemarie schoß das Blut in das Gesicht. Sie wollte die Trude nicht gern verletzen, aber – das war doch wirklich unmöglich!
Trude, der ihr Zögern nicht entging, bemerkte jetzt erst den festlichen Tisch mit den sechs Tassen.
»Ach, du bekommst Besuch – entschuldige, das wußte ich nicht. Da will ich dich natürlich nicht stören«, freundlich nickte sie ihr noch einmal zu und zog sich ebenso bescheiden zurück, wie sie gekommen war.
Nesthäkchen