Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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Inhaltsverzeichnis

      Der Aushungerungsplan Englands durch Absperrung der Lebensmittelzufuhr begann sich allmählich in Deutschland fühlbar zu machen. Die Lebensmittel, besonders die Fette, wurden knapp. Aber trotz alledem durften die Engländer ihren schändlichen Plan, Deutschland durch Aushungerung zu einem schmählichen Frieden zu zwingen, nicht verwirklichen. Das deutsche Volk hielt durch, selbst wenn die Butter ganz vom Brot verschwand, selbst wenn statt der zwei fleischlosen Tage in der Woche deren sieben eingeführt werden sollten.

      Wie draußen an der Front die Männer, so standen daheim die Frauen und Kinder tapfer und opferfreudig im Kampf gegen jederlei Entbehrungen, alle von demselben Willen beseelt: »Wir müssen siegen!«

      Dank glänzender Einteilung und sparsamer Fürsorge der Regierung wurde mit den Vorräten weise hausgehalten, daß Deutschland auf Jahre hinaus versorgt war. Da gab es Brot-und Mehlkarten, Eier-, Butter-, Zucker-und Fleischkarten, Kartoffel-und Milchkarten, ja selbst solche für Seife.

      Jetzt galt es, auch seine Gedanken bei jedem Einkauf zusammenzuhalten, und das wurde nicht jedem leicht.

      Doktors Nesthäkchen, das mit seinen Gedanken oft ganz wo anders weilte, als wo sich seine kleine Person gerade befand, wußte bald ein Lied davon zu singen.

      Annemarie holte für ihr Leben gern ein. Und galt es gar, der lieben Großmama einen Weg abzunehmen, dann war Nesthäkchen doppelt schnell bereit. Früher machte es der alten Dame Spaß, selbst einige Besorgungen zu übernehmen. Aber seitdem die Lebensmittel auf Karten ausgegeben wurden, war das für Großmama viel zu anstrengend. Sie konnte sich unmöglich in der Menge drängen und lange stehen, bis sie an der Reihe war. Einmal war die alte Dame selbst gegangen und nie wieder. Als sie nach langem Warten glücklich bedient werden sollte, hatte sie statt der Zuckerkarte die Milchkarte aus der Tasche gezogen, und als sie schnell den Schaden gut machen wollte, erschienen Fleischkarte und Kartoffelkarte auf der Bildfläche. Nun mußte erst die Brille herausgeholt werden, was bei alten Leuten immer etwas umständlich zu sein pflegt. Die andern Käufer, die sich in Scharen drängten, waren ärgerlich, daß sie solange aufgehalten wurden, und auch die Verkäuferin verlor die Geduld und die ihr zukommende Höflichkeit. Nein – nie wieder ging die Großmama jetzt einkaufen.

      Meistens fiel Fräulein diese Aufgabe zu, da Hanne mit der Wirtschaft reichlich zu tun hatte. Aber während der Sprechstunden konnte Fräulein schlecht fort. Es kamen immer noch Patienten, die nicht wußten, daß Doktor Braun im Felde war, und die seinem Vertreter überwiesen werden mußten. Das verstand Fräulein am besten.

      Da ward öfters Nesthäkchen das Ehrenamt, für die »Lebensmittelzufuhr« des Braunschen Hauses zu sorgen. Annemarie entledigte sich dieser Aufgabe mit viel Geschick. Es kam ihr gar nicht darauf an, stundenlang vor einem Geschäft zu stehen. Nur schade war’s, daß sie trotz des geduldigen Wartens ohne das Gewünschte heimkehrte. Und zwar aus dem einfachen Grunde, weil das vergeßliche kleine Fräulein die zum Kauf berechtigende Karte auf dem Kinderstubentisch hatte liegen lassen.

      Viel Spaß machte es den Kindern, die den Ernst der Zeit nicht durchschauten, zur sogenannten »Butterpolonäse« anzutreten. Da standen die Leute zu vieren aufgestellt, oft von einer Straßenecke bis zur andern, viele Stunden um ein Viertelpfund, oder wenn’s hoch kam, ein halbes Pfund Butter. Aber manchmal geschah’s auch, daß die Butter, nachdem man Gott weiß wie lange gestanden und bei der Winterkälte fast erstarrte, ausverkauft war.

      Trotz aller dieser Schwierigkeiten und Opfer erlahmte der Wille zum »Durchhalten« im deutschen Volke nicht.

      Großmama wollte nicht erlauben, daß Nesthäkchen sich in Sturm und Regen durch das lange Stehen einer Erkältung aussetzte. Klaus durfte schon eher der Witterung trotzen, das war ein kräftiger Junge. Denn weder Hanne noch Fräulein konnten solange von Hause fortbleiben.

      Aber leider hatte Klaus nicht viel Geduld. Nicht nur, daß er drängelte und sich dadurch bei den Umstehenden unbeliebt machte, er hatte es sogar mal gewagt, anstatt ganz hinten anzutreten, wie es sich gehörte, sich gleich in die ersten Reihen hineinzumogeln. Das war ihm aber schlecht bekommen. Der Polizist, der stets die Ordnung bei der Butterpolonäse aufrecht erhielt, zog ihn am Ohr hervor, und er durfte sich überhaupt nicht wieder mit anstellen. Seitdem war er nicht mehr zum Butterladen zu kriegen; lieber futterte er Marmeladenstullen mit Käse oder Wurst belegt.

      Gewiß, die Jugend konnte sich behelfen. Großmama aber sollte nicht um ihr Butterbrötchen kommen. Dafür sorgte Nesthäkchen getreulich. Nach Tisch, wenn Großmama ihr Nachmittagsschläfchen hielt, machte sich Annemarie mit warmen Überschuhen, mit Pelzkäppchen und Muff, wie zu einer Nordpolfahrt ausgerüstet, auf den Buttereinkauf. Oft verabredete sie sich dazu mit Margot und Vera. In Gesellschaft der Freundinnen war das Warten nur halb so schlimm.

      »Also Punkt halb vier am Savignyplatz zur Butterpolonäse!« rief Annemarie den Freundinnen heute beim Abschied nach der Schule wieder zu.

      Es war ein tolles Schneewetter. In wildem Tanz wirbelte der Sturm die Silberflocken zur Erde herab, man konnte kaum die Augen aufhalten. Wie die Schneemänner sahen die Leute auf den Straßen aus.

      Und trotzdem wand sich bereits eine lange, lange Menschenschlange an den Häusern entlang, als Doktors Nesthäkchen, den Blondkopf weiß überpudert, vor dem großen Buttergeschäft an der Ecke erschien. Der Verkauf begann eben erst. Dabei standen die Leute schon seit Mittag um zwölf, um nur ganz bestimmt noch etwas Butter zu erhalten. Manche hatten sich Stühlchen mitgebracht und ließen sich darauf nieder. Hier und da strickte eine fleißige Frau für den fernen Mann oder Sohn an dem feldgrauen Strumpf, soweit sie es mit ihren klammen Fingern vermochte.

      Vergeblich spähte Annemarie in dem Schneegetriebe nach Vera aus. Ob die am Ende des schlechten Wetters wegen nicht kommen durfte? Margot hatte bereits aus demselben Grunde abgesagt. Auch Fräulein wollte Annemarie durchaus nicht fortlassen. Aber die hatte lachend behauptet, sie sei nicht aus Zucker, daß so ein bißchen Schnee sie gleich aufweichen würde. Sie hatte sich doch an der Nordsee gründlich gegen jede Witterung abgehärtet. Und Großmama hatte schon zum Frühstück keine Butter gehabt, da wollte Annemarie sie abends damit überraschen.

      Nein, Vera kam sicher nicht mehr. Annemarie mußte sich jetzt auch unbedingt anstellen, denn von Minute zu Minute wuchs die Schlange. So lang war sie noch nie gewesen. Auf zwei bis drei Stunden Wartens konnte sich Nesthäkchen gefaßt machen.

      Aber diese Aussicht schreckte Annemarie nicht. Es ging ganz gemütlich bei den Butterpolonäsen zu. Sie waren ja alle Leidensgefährten, die da standen, das verband sie miteinander. Und da man sonst nichts zu tun hatte, verkürzte man sich die Zeit durch Unterhaltungen über die Kriegs-und wirtschaftliche Lage. Die Frauen tauschten Kochrezepte aus, bei denen keine Fette notwendig waren, oder lasen sogar Feldpostbriefe ihrer Angehörigen vor. Nein, Annemarie fand es immer sehr ulkig bei der Butterpolonäse.

      Heute aber wurde die Geschichte nach und nach etwas ungemütlich. Det seine Schnee, der Nesthäkchen zuerst Spaß gemacht, drang allmählich mit seiner Nässe durch die Sachen und machte einen frösteln. Trotz der Überschuhe und trotzdem Annemarie, soweit es bei der Enge möglich war, von einem Fuß auf den andern sprang, wurden ihr die Füße allmählich ganz steif.

      »Ach wat, in ’n Schützenjraben bei so’n Wetter zu liejen, is ooch jrade keen Verjnijen nich, und lieber laß ich mir die Schneeflocken um de Näse sausen als de Kugeln«, meinte die Grünkramfrau von nebenan, die in ihrer ganzen stattlichen Breite sich neben Annemarie aufgepflanzt hatte.

      Da lachten sie alle und empfanden nicht mehr die Unbill der Witterung. Wenigstens für eine Weile.

      Unmerklich nur schob sich die Menschenschlange vorwärts. Annemarie benutzte die gute Gelegenheit, sich inzwischen das Gedicht, das sie morgen für die deutsche Stunde zu lernen hatte, einzuprägen. Es war Schillers »Glocke«.

      Wenn die Leute nur nicht in einem fort um sie herum geschwatzt hätten, dann wäre es ganz gut mit dem Lernen gegangen.

      »Kocht des Kupfers Brei,

       Schnell das Zinn herbei –«

      deklamierte Annemarie im Geiste.