bloß unser Kriegskind, und ich kann doch meinen Freundinnen nicht zumuten, mit einer, die auf den Höfen gesungen hat, zusammen Kaffee zu trinken«, beschwichtigte Annemarie das lästige Empfinden in ihrem Innern.
Doch das wollte sich nicht zur Ruhe bringen lassen. Konnte die Trude denn was dafür, daß sie das Kind armer Eltern war? War es nicht anerkennenswert, daß sie in Wind und Wetter gesungen hatte, um für die blinde Mutter den Lebensunterhalt zu verdienen? Und wie freundlich die Trude trotz der Abweisung gewesen war, nicht die Spur beleidigt … Ach, am Ende war es auch gar nicht so schlimm, daß sie das Kriegskind nicht zum Bleiben aufgefordert hatte! Nesthäkchens sorgloses Wesen bekam wieder die Oberhand.
Aber es war merkwürdig. So richtig von Herzen vergnügt, so vor Übermut sprühend, wie sie es sonst war, konnte Annemarie heute nicht im Kränzchen sein. Sobald ihr Blick auf Trudes Winterstrauß fiel, wurden Nesthäkchens lustige Augen ganz ernst und nachdenklich. Was hätte es wohl geschadet, wenn das Kriegskind mit seinem Strickzeug hier unter ihnen gesessen hätte? Und für dasselbe wäre es sicher ein Festtag in dem armseligen Dasein gewesen.
Das Weihnachtskittelchen für den kleinen Max war soeben fertig geworden. Nun wurde hin und her überlegt, was man das nächstemal vornehmen wollte. Da sagte Annemarie plötzlich, die sich bisher nicht an den Verhandlungen beteiligt hatte: »Wenn Fräulein so gut wäre, uns zu helfen, möchte ich euch bitten, für unser Kriegskind ein Sonntagskleid zu nähen. Trude hat nur das alte ausgewachsene von mir, das muß sie Wochentags und Sonntags tragen. Was meint ihr dazu?«
»Ach, Annemarie, solch großes Kleid werden wir nicht zustande kriegen«, gab Margot zu bedenken.
»Warum denn nicht, da sind die Nähte eben etwas länger«, rief Ilse lustig.
»Muttchen hat mir ein wunderhübsches Kleid genäht, ganz einfach, die Ärmel wurden gleich angeschnitten: nach dem Muster könnten wir es ganz gut machen«, Marianne stimmte eifrig zu.
Auch Marlene und Vera wollten sich gern beteiligen.
Annemaries nettes Fräulein war niemals Spielverderberin. Sie erklärte sich bereit, die Oberaufsicht zu übernehmen und die Maschinennähte zu nähen.
»Den Stoff liefere ich – Tante Albertinchen war so gut, mir gestern Geld zu einem Opernhausbillett zu schenken, ich sollte ›Hänsel und Gretel‹ sehen. Aber wenn ich sie bitte, daß ich statt dessen lieber Kleiderstoff für Trude kaufen möchte, wird sie es mir sicher erlauben«, rief Annemarie lebhaft. Sie fühlte plötzlich, wie die schwere Last, die ihr den ganzen Nachmittag auf der Seele gelegen, schwand. Ohne Unbehagen konnte sie jetzt des Kriegskindes Winterstrauß anschauen.
Noch eine wichtige Frage gab es zu erörtern – die Farbe des Kleides. Die meisten der unpraktischen kleinen Damen waren für mattblau. Aber schließlich bekannten sie sich doch zu Fräuleins Ansicht, daß ein rotes Kleid für die Trude praktischer sei.
Am nächsten Tage blieb der kleine Mittagsgast aus. Bis gegen Abend hielt Hanne das Essen warm, doch das Kriegskind kam nicht. Als es aber auch den darauffolgenden Mittag nicht erschien, meinte die Großmama: »Da ist sicher irgendwas nicht in Ordnung. Ich werde heute nachmittag Hanne mit dem Essen hinschicken und nachfragen lassen.«
Annemarie, deren Gewissen sich wieder bemerkbar machte – denn am Ende kam die Trude nicht mehr, weil sie ihr böse war – erbot sich, mit Fräulein hinzugehen.
So wanderten Fräulein und Doktors Nesthäkchen am Nachmittag in die schmale, schmutzige Gasse, die bei dem fahlen Dezemberlicht noch düsterer ausschaute.
»Hier wohnt die Trude?« unwillkürlich rümpfte Annemarie die Nase, als Fräulein ein baufälliges, wenig einladendes Haus betrat.
Auf dem engen Hof kribbelte es von Kindern. Sie mußten denselben durchschreiten, um in das Quergebäude zu kommen, in dem das Kriegskind zu Hause war.
»Puh – ist das hier eine Luft!« Das verwöhnte kleine Fräulein hielt sich die Nase zu, als es eine altersschwache Treppe emporstieg.
Vier Treppen hoch an einer Tür klopfte Fräulein. Ein kleiner musbeschmierter Junge öffnete. Annemarie blickte durch dicken Wäschedunst in die Küche, in der eine Frau am Waschfaß stand.
Fräulein fragte nach Trudes Mutter.
»Fritze, zeig mal die Damens Bescheid«, die Frau rubbelte weiter auf ihre Wäsche los.
Der musbeschmierte Fritze lief voran in einen stockdunklen Gang. Dort öffnete er eine der vielen Türen und schrie hinein: »Frau Lehmann, Se kriegen Besuch!«
Nesthäkchen hielt sich bang hinter Fräulein. Es war ihr unsäglich beklommen zumute in dieser Dunkelheit, Enge und Armut. Aber die kleine Stube, die sie jetzt betraten, war bei aller Dürftigkeit nett und sauber. Am Fenster, vor dem ein Primeltöpfchen blühte, saß die Blinde mit ihrem Strickzeug. Trude lag daneben auf einem aus zwei Holzstühlen gebildeten Ruhebett.
Als sie Fräuleins und Annemaries ansichtig wurde, verklärte sich ihr blasses Gesicht.
»Bleiben Sie sitzen, Frau Lehmann«, Fräulein drückte die blinde Frau, die höflich aufgestanden war, wieder auf ihren Schemel. »Wir kommen nur mal auf einen Augenblick heran, um zu hören, was mit unserem kleinen Mittagsgast los ist, warum die Trude sich nicht mehr bei uns sehen läßt?«
»Hast du einen schlimmen Fuß?« Annemarie wies erschreckt auf das linke, in festem Verband liegende Bein des Mädchens.
»Ich bin neulich gefallen, als ich von euch kam und habe mir das Bein gebrochen«, gab Trude Auskunft.
»O weh, armes Kind, mußt du große Schmerzen aushalten? Habt ihr auch einen Arzt?« erkundigte sich Fräulein mitleidig.
Ja, der Armenarzt war dagewesen, er hatte Stilliegen verordnet und wollte mal wieder mit vorsprechen.
Nesthäkchen, das sonst so kecke und redselige, brachte kein Wort heraus. Hätte es doch die Trude bloß nicht fortgelassen an jenem Kränzchennachmittag! Abends war Tauwetter eingetreten, da wäre die Trude sicher nicht gefallen.
»Aber wäre es nicht besser, wenn du im Bett bleiben würdest, Trude, du liegst so schlecht auf den Stühlen«, meinte Fräulein.
»Ich habe kein Bett«, Trude wurde rot bis an die hellblonden Haare.
»Wir haben es verkaufen müssen, wie es uns so schlecht ging«, entschuldigte sich die blinde Frau. »Trude schläft seitdem auf dem Strohsack. Ich möchte, daß sie jetzt mit dem kranken Bein in meinem Bette liegt, aber das will das Kind durchaus nicht.«
Lieber Gott – so arm war die Trude, daß sie nicht einmal ein Bett besaß? Und kein Sofa im Zimmer, nur die notwendigsten Möbel – in der Ecke auf der Erde der Strohsack. Annemarie tat das Herz weh. Zum erstenmal sah sie der Not so grade ins Angesicht. Und da hatte sie die arme Trude durch ihren dummen Stolz noch um ein paar frohe Stunden gebracht?!
»Ich komme bald wieder, sehr bald, Trude«, versprach Nesthäkchen beim Abschied.
Und das führte Annemarie auch aus. Sie überwand die Abneigung gegen das düstere, schmutzige Haus mit der Armleuteluft tapfer, um der kranken Trude durch ihren Besuch eine Freude zu machen. Bald brachte sie ihr ein hübsches Buch mit, bald einen besonders schönen Apfel oder ein Stückchen Kuchen, das sie sich selbst vom Munde abgespart. Doktors Nesthäkchen hatte es gelernt, an andere zu denken.
Gleich am nächsten Tage ließ die gute Großmama ein altes Bettsofa aus ihrer eigenen Wohnung in das armselige Stübchen bringen. Von nun an brauchte Trude nicht mehr auf dem Strohsack zu liegen. Jeden Abend trug Hanne der blinden Frau und ihrem Töchterchen das Essen zum nächsten Tage hin. Und das tat sie aus eigenem Antrieb, denn »man hat doch auch ’n Herz im Leibe.«
Aber als die Weihnachtskerzen zum zweitenmal das Dunkel der Kriegszeit durchleuchteten, da ward auch in das Stübchen der Not ein brennendes Tannenbäumchen geschoben. Und ein großer Korb dazu mit Eßwaren und praktischen Dingen. Obenauf aber lag das nette, rote Kleid, das Annemarie und die Kränzchenschwestern eigenhändig für das Kriegskind genäht hatten.