pünktlich gewesen wie heute – –«
»So …?« Alle drei wiesen zu gleicher Zeit vorwurfsvoll auf die Uhr.
»Donnerschock. Das hab’ ich ja ganz vergessen!« Klaus brach in ein lautes Gelächter aus. »Ich habe nämlich unsere Uhren schon heute eine Stunde vorgestellt, damit wir uns allmählich an die deutsche Sommerzeit gewöhnen.«
Da stimmten auch die andern in das frische Jungenlachen ein. Selbst Hanne, die noch mal die Nudeln wärmen mußte.
Aber als Klaus ihre Weckuhr dann auch um eine Stunde vorstellen wollte, wehrte sich Hanne ganz energisch dagegen.
»An meine Uhr hat keiner nich was zu suchen – und wenn die ganze Welt varrickt jeworden is, ich steh’ auf wie alle Tage.«
»Aber Hanne, dann müssen wir ja ohne Kaffee in die Schule gehen«, jammerte Nesthäkchen.
»Ist euch janz recht, wenn ihr so’n verdrehtes Zeug mitmacht – ich wecke um sieben wie immer!«
Fräulein versprach statt ihrer, die Kinder pünktlich zu wecken. Man ging heute zeitiger schlafen als sonst, da man morgen früher aufstehen mußte. Annemarie war es recht, dann schlief Fräulein sicher schon gegen zehn Uhr.
Ein furchtbar schlechtes Gewissen hatte die Annemarie, als sie Großmama heute den Gutenachtkuß gab.
»Wenn die Uhr elf schlägt, stehst du leise auf. Dann ist es erst zehn, und wir kommen noch gerade zur Zeit. Den Hausschlüssel habe ich schon gemaust«, hatte Klaus ihr noch zugewispert.
Nesthäkchen lag im Bett und betete: »Lieber Gott, da du meine Mutti in der alten Zeit nicht hast aus dem ollen England zurückkommen lassen, so tue es doch, bitte, bitte, in der neuen Sommerzeit!« Da aber legte es sich Annemarie plötzlich schwer auf das Herz: Wie sich alles Gute in der Welt belohnte, so wurde sicher auch das Böse gestraft. Wenn der liebe Gott nun ihre Mutti überhaupt nicht nach Haus kommen ließ, als Strafe für ihr heimliches Auskneifen? Sollte sie nicht gehen? Aber Klaus würde sie dann für ganz ungebildet halten – »lieber Gott, mach’ doch, daß ich schon eingeschlafen bin, wenn die Uhr elf schlägt!« so betete Annemarie inbrünstig.
Und wirklich – es dauerte nicht lange, da senkten sich die langen, goldenen Wimpern über die blauen Sterne – Nesthäkchen schlummerte sanft und fest.
Es hörte nicht das Schlagen der Uhr, nicht das vorsichtige Tappen der Jungenfüße an der Kinderstubentür.
»Annemarie, bist du auf?« flüsterte es leise.
Keine Antwort.
Klaus öffnete die Tür. Er hatte Annemarie versprochen, sie mitzunehmen, und – es war ihm auch gemütlicher in Gesellschaft, als ganz allein mitten in der Nacht.
»Annemarie, so wach’ doch auf«, er tastete sich zu ihrem Bett, um sie am Arm munter zu rütteln.
Bums – da war er in der Finsternis gegen einen Stuhl gerannt, mit lautem Gepolter flog derselbe um.
Fräulein und Annemarie fuhren zu gleicher Zeit erschreckt hoch.
»Was ist denn los?« Fräulein knipste das elektrische Licht. Da sah sie Klaus mit Hut und Mantel und dem dümmsten Gesicht von der Welt mitten im Zimmer stehen.
»Ich – ich …« stotterte er und war im Augenblick um eine Ausrede verlegen.
Annemarie aber mußte lachen, sie konnte sich nicht helfen.
»Ach, Klaus, sagen wir es doch ganz ruhig, es wird ja nun doch nichts draus«, Annemarie ward es ungeheuer leicht ums Herz. »Aber du darfst nicht schimpfen, Fräulein, das mußt du mir vorher feierlichst versprechen.« Dies geschah. Und nun beichtete Nesthäkchen.
So mußte das »welterschütternde Ereignis«, daß der Zeiger der Rathausuhr statt auf elf gleich auf Mitternacht rückte, ohne die Anwesenheit der Braunschen Sprößlinge vonstatten gehen.
Am nächsten Morgen aber weihten sie die neue Sommerzeit ein, indem sie trotz der am vorigen Tag bereits gestellten Uhren alle miteinander verschliefen. Aber zum Glück waren Klaus und Annemarie nicht die einzigen in der Klasse, die zu spät kamen. Allenthalben mußte man sich erst an die neue Zeit gewöhnen.
Droben am Himmel aber stand die goldene Maiensonne und lachte die dummen Menschen aus, welche ihr ins Handwerk pfuschen wollten. Ja, sie und Doktors Hanne, die wußten alle beide besser, was die Glocke eigentlich geschlagen hatte.
Aber selbst Hanne vermochte sich der neuen Zeit, die sich viel schneller einbürgerte, als jeder geglaubt, nicht zu entziehen. Sie konnte doch unmöglich »ihre Kinder« jeden Morgen ohne Kaffee in die Schule gehen lassen. Und wenn sie abends, nach ihrer Uhr um halb acht, noch schnell zum Kaufmann herumspringen wollte, hatte der längst geschlossen. Es half nicht, auch die rebellische Hanne mußte sich der deutschen Sommerzeit unterordnen. Nicht lange, da meinte sie ganz ausgesöhnt: »Es is wirklich jar nich so ohne, wenn man sich so’n schönen Maiabend auch mal bei Tage besieht!«
Nicht lange dachte kein Mensch mehr daran, daß es eigentlich eine Stunde früher war. Auch Großmama hatte sich trotz aller Altmodischkeit darein gefunden.
In der Heimat sowohl, als auch draußen an der Front, regierte die neue Zeit, und Deutschlands Feinde machten es sämtlich nach.
So verging der Wonnemonat, und der erste Juni ließ wieder ein farbenfreudiges Flaggenmeer über die deutschen Gaue flattern. Diesmal galt der Fahnengruß der Marine, den »Blaujacken«. Die erste große Seeschlacht war am Skagerrak geschlagen, Deutschlands junge Flotte hatte einen glänzenden Sieg über Englands weltbeherrschende Seemacht errungen.
»Unser Hänschen brauchte bloß zur Marine zu gehen, da gibt’s gleich einen großen Sieg!« jubelte Doktors Nesthäkchen.
Es saß unter wallenden Fahnen auf dem Balkon und schrieb an den Bruder. Die Junisonne blitzte und flimmerte vom Himmel herab, sie machte die Siegesfahnen alle noch leuchtender und ließ Annemaries Blondhaar wie lauter Gold flimmern. Bis ins innerste Herz hinein sandte sie dem jungen Kinde ihren Schein. Da ward es Nesthäkchen so freudig, so erwartungsvoll zumute, es wußte allein nicht, was das nur war.
Die liebe Sonne am Himmel aber wußte es. Die lachte sich ins Fäustchen und sandte ihre Strahlen jetzt durch das Fenster des prustend in Berlin einfahrenden V-Zuges, an dem eine schlanke, blonde Frau feuchten Auges die Türme ihrer Heimatsstadt nach langer Zeit wieder grüßte.
Annemarie schrieb und schrieb. So ausgelassen die Sonnenlichter auch über das Papier huschten. Ja, ahnte denn das dumme Nesthäkchen noch immer nichts?
Durch die stille Straße ratterte ein Auto. Es hielt vor dem Braunschen Hause. Jetzt endlich hob Annemarie den Blondkopf und spähte neugierig über Tausendschönchen und Stiefmütterchen hinweg.
Da ging es wie ein elektrischer Ruck durch die Kindergestalt – – –
»Mutti – meine einzige Mutti! – – –« ein Jubelschrei gellte durch die stille Straße, wie dieselbe ihn noch nie vernommen.
Waren es nur wenige Sekunden – eine Ewigkeit dünkte es Nesthäkchen noch, bis es die Treppen hinuntergesaust war, bis es endlich, endlich wieder am Mutterherzen lag.
»Meine Lotte – mein Nesthäkchen – mein liebes Kleines – solange hab’ ich dich entbehren müssen!« fest, ganz fest hielten sich Mutter und Kind umschlungen.
Was fragten die zwei nach fast dreijähriger Trennung danach, daß hier und da neugierige Gesichter an den Fenstern auftauchten, daß die Autoführerin noch immer auf ihre Bezahlung warten mußte?
Erst als polternde Jungenfüße, von einem Freudengewinsel Pucks begleitet, auf die Straße herausgestürmt kamen, ließ Mutti ihr Nesthäkchen aus dem Arm, um den braunen Krauskopf ihres Jungen zu herzen und zu küssen.
Da mußte sich die Autoführerin noch ein Weilchen gedulden. Aber sie tat es gern, stieg es ihr doch selbst heiß in die Augen bei diesem Wiedersehensglück.
In jedem Arm eins ihrer Kinder, so betrat Frau Doktor Braun wieder ihr Haus. Auf dem untersten