wiederholen wollen, ist es aber wirklich höchste Eisenbahn,« unterbrach Marlene Ulrich, eine sehr gewissenhafte Schülerin, die Ausgelassenheit. »Annemie, hole Papier und Bleistifte. Margot, du nimmst die Grammatik und diktierst aus Lektion 12-18, Deklination, Konjugation, Vokabeln und Sätze, alles durcheinander. Das übt am meisten.«
Bald saß das lustige halbe Dutzend mit gezücktem Bleistift vor dem leeren Bogen. Aber die Lustigkeit verging einigen von ihnen bald.
»Nicht so schnell, Margot – wer soll denn da mitkommen,« begehrte Ilse auf.
Auch Marianne kam nicht mit. »Weil du selber kein Latein kannst, denkst du wohl, wir müssen es aus dem Ärmel schütteln!«
»Bitte, sage das letzte Satz noch eine Mal mehrr, ich nicht haben verstanden!« Selbst Veras blasse Wangen begannen sich zu röten.
»Konjugation, Margot – Herwig will uns diesmal besonders mit Konjugieren zwiebeln. Ach, zu Ablativ bist du wohl zu dämlich,« meinte Doktors Nesthäkchen treuherzig, ohne es böse zu meinen.
Aber Fräulein Margot war empfindlich. »Lernt doch euer lateinisches Zeug allein, wenn ihr glaubt, daß ich zu dämlich dazu bin!« Damit schlug sie die Grammatik zu, während ihr Tränen in die Augen stiegen.
»Aber Margotchen, ich wollte dich doch nicht beleidigen!« Annemaries lustiges Gesichtchen schaute plötzlich betreten drein. »Sei kein Frosch und diktiere weiter.«
»Ach, wenn du immer so zu mir bist, so – so – überhebend – und überhaupt, wie du noch nicht mit Vera Burkhard befreundet warst, hast du mich viel lieber gehabt und – und – ich kann doch nichts dafür, daß ich nicht auch im Gymnasium bin – – –« Das Mitleid mit sich selbst überwältigte Margot. Ein Taschentüchlein mit rosa Kante erschien auf der Bildfläche.
»Ach, Marrgot, wie kannst du nurr glauben dies. Annemarrie lieben dirr gerade so viel wie mirr und überhaupt, wirr sein doch alle Schwesters – Krränzchenschwesters,« begütigte Vera in ihrer lieben Art.
»Wer Annemarie etwas übelnimmt, der hat wirklich einen kleinen Piep. Das weiß doch jede von uns, daß die es mit dem Mund nicht so genau nimmt und schnell mal was hinsagt.«
»Du, sei still, Ilse, du bist selbst oft übelnehmend,« verteidigte sich Annemarie. »Aber nun denke ich, wir fahren wirklich fort in unserm Latein.«
Hanne aber, die alte Köchin bei Doktors, welche alle drei Braunschen Sprößlinge einst auf ihren derben Armen gewiegt hatte, war anderer Meinung. Sie öffnete ohne Umschweife die Tür, stellte eine kalte Speise – »Blubber« nannten ihn die Mädels – mitten auf den Tisch neben die lateinische Grammatik und verkündete: »So – nu Schluß mit die Jelehrsamkeit! Jetzt wird erst mal ’n bißchen jefuttert. Vorn Magen sorjen is besser als vorn Kopp.« Hanne war ein Unikum. Sie nahm nie ein Blatt vor den Mund. Doktors hielten ihrer bewährten Treue manch offenes Wort zugute. Mit Nesthäkchens Gymnasiallaufbahn war sie ganz und gar nicht einverstanden. »Puren Unverstand« nannte sie es, daß das »Kind« all das gelehrte Zeug in seinen Kopf pfropfen mußte.
»So, Annemiechen, kram man das Jeschreibsel zusammen, daß ich die Teller rumsetzen kann.« Hanne duzte immer noch Annemarie, trotzdem die ihr fast schon über den Kopf gewachsen war. Aber wenn sie zu dem Hausmädchen von ihr sprach, sagte sie nicht anders als »unser Fräulein« – anders tat Hanne es nicht.
Die Backfischchen waren durchaus nicht böse über die angenehme Unterbrechung. Sie zeigten fast noch größeren Eifer bei der eingehenden Beschäftigung mit der Speise als vorher bei der lateinischen Konjugation. Und als man seine Pflicht voll und ganz erfüllt hatte, indem man die Kränzchenspeise bis zum letzten Körnchen vertilgt hatte – wenn Klaus sich nicht als bedachter Mann noch rechtzeitig eingestellt, hätte er das Nachsehen gehabt – ja, nachher war es auch zu spät geworden, um noch einmal mit Latein zu beginnen. Denn der noch immer trotz Friedens knappen Lebensmittel wegen fand das Kränzchen ohne Abendbrot statt. Um acht Uhr mußte eine jede daheim sein. Und Marlene und Ilse hatten einen weiten Weg.
Mit vielen Küssen trennte sich das lustige halbe Dutzend.
»Auf Wiedersehen – auf Wiedersehen« – – – »Daumen drücken zu Montag!« – – – Nur Margot, die in demselben Haus wohnte, blieb noch ein Weilchen und ward dadurch wieder von ihrem Schmerz geheilt, denn jetzt war sie wieder Annemaries »Beste«.
2. Kapitel
Die Untersekunda schippt Schnee
Es schneite – schneite – was nur vom Himmel herunter wollte. Große dicke Watteflocken, kleine zierliche Silbersterne – jetzt eine große weiße Puderwolke, ein lustiger Schneewirbel – und nun wieder still und stetig, gleichmäßig und sacht.
Ein dicker weißer Samtteppich breitete sich über die Plätze und Straßen Berlins. Die Häuser schauten ganz merkwürdig aus hohen weißen Zipfelmützen heraus.
Auf dem Blumenbrett vor Nesthäkchens Fenster türmten sich die Schneemassen. Kaum vermochte Annemarie am Morgen über den hohen Schneeberg zu ihrer Freundin Margot hinüberzuspähen.
»Eine Gottesmauer – eine weiße Gottesmauer! Ach, wenn sie doch unser ganzes Haus umschlösse, dann könnte ich nicht in die Schule gehen!« Das Backfischchen blickte von seinem Morgenfrühstück zweifelnd in das Schneegestöber hinaus, ob es wohl so weit kommen könnte.
»Aber Lotte, du bist doch sonst nicht so faul,« meinte die Mutter erstaunt, während sie dem Töchterchen die Schulbrote zurecht machte.
»Na, erstens ist heute Montag, da ist’s immer eklig, in die Schule zu gehen. So dunkel und kalt ist’s an keinem anderen Tage in der Woche! Und dann das lateinische Versetzungsextemporale heute – ach, wenn uns doch die Gottesmauer davor bewahren möchte!«
Frau Doktor mußte lachen.
»Bist du ein Kindskopf, Lotte! Lerne doch lieber vorher fleißig zum Extemporale, dann brauchst du keine Angst zu haben.«
»Bammel heißt es bei uns auf dem Gymnasium,« unterbrach Annemarie sachgemäß die Mutter. »Aber wo ist denn Vater und Klaus?« Sie wies verwundert auf die noch unberührten Gedecke. Der Vater, der in seinem ärztlichen Beruf sehr angestrengt war, hielt darauf, die Mahlzeiten mit seiner Familie gemeinsam einzunehmen. Waren dies doch die einzigen Ruhestunden, die der vielbeschäftigte Arzt sich gönnte.
»Wenn du wüßtest, wo die beiden stecken.« Die Mutter machte ein verschmitztes Gesicht. »Sie sorgen dafür, daß keine Gottesmauer um unser Haus wächst, damit du heute dein Extemporale schreiben kannst.«
»Was – wieso denn?« Nesthäkchens rundes Gesicht sah so verständnislos drein, daß die Mutter laut lachen mußte.
»Ja, da staunst du! In aller Herrgottsfrühe hat der Hausmeister heute schon die Mieter zum Schneeschippen auffordern lassen. Jeder gesunde Mensch ist dazu verpflichtet, weil der Magistrat sonst nicht dieser unaufhörlich sich erneuernden Schneemengen Herr werden kann, und der ganze Verkehr dadurch stockt. Da ist Vater noch vor seiner Sprechstunde zum Schneeschippen hinuntergegangen, und den Klaus hat er mitgenommen.«
»Vater schippt Schnee?« Hellauf lachte ihr Nesthäkchen. »Das muß ich sehen« – und spornstreichs wollte es hinaus nach dem Balkon, wo der Schnee schon die halbe Tür bedeckte.
»Hiergeblieben, Lotte!« rief die Mutter hinter ihr her. »Ich kriege ja das nasse Zeug ins Wohnzimmer herein. Wenn du nachher zur Schule gehst, kannst du den Vater unten bewundern.«
»Ich gehe nicht in die Schule,« erklärte plötzlich das Töchterchen mit Bestimmtheit. »Ich bin ebenso zum Schneeschippen verpflichtet wie Klaus. Ich bin auch ein gesunder Mensch – Hurra, das lateinische Extemporale können sie ohne mich schreiben!«
»Jawohl, daraus wird nichts, Fräulein Faulpelz,« tönte es von der Tür her, und herein trat der Vater mit kältegerötetem Gesicht. »Eine Pflicht darf nicht