wie ein Druck auf der Untersekunda. Das lateinische Versetzungsextemporale, das in der nächsten Stunde drohte, warf bereits seine beängstigenden Schatten voraus. Selbst die muntere Annemarie wurde von dieser Stimmung gefangen genommen. Fräulein Neubert aber schien wenig Verständnis für die beklemmende Atmosphäre zu haben. Sie war heute durchaus unzufrieden mit der Aufmerksamkeit und Teilnahme am Unterricht. Beide Teile, sowohl der lehrende wie der lernende, atmeten befreit auf, als die Schulglocke laut den Stundenschluß verkündete.
Ach, für die Untersekunda war es nur eine Galgenfrist. Keine mochte ihr Frühstücksbrot, das sonst meist schon in der ersten Pause vertilgt wurde, in Angriff nehmen. Jeder war die Kehle vor angstvoller Erwartung wie zugeschnürt. Marlene und Ilse hatten den dunklen und blonden Kopf zusammengesteckt und lernten noch auf Mord die ganze Schulweisheit der lateinischen Grammatik auswendig. Vera Burkhard sagte mit in den Ohren gestopften Zeigefingern die Konjugationen der unregelmäßigen Verben auf. Marianne Davis aber schrieb bereits in das lateinische Heft mit ihrer schönsten Schrift: »6. Klassenarbeit« als Überschrift.
Annemarie Braun tat nicht mit. Ach was, jetzt lernte man doch nichts mehr. Wozu sich noch die Zwischenpause verderben! Aber auch sie war lange nicht so lebhaft wie sonst. Mit einer an ihr fremden Schweigsamkeit starrte sie in das dichte Flockengetriebe hinaus. Plötzlich aber rief sie mitten in die umherschwirrenden lateinischen Vokabeln, Verben und Deklinationen: »Kinder – Kinder, ich hab’s! Ich hab’ einen famosen Gedanken!«
»Was denn« – »sag’ doch« – »so rede doch!« – – – Man umdrängte sie.
»Herwig wird sicher im Schnee stecken geblieben sein, er wohnt doch in Lichterfelde. Oder vielleicht ist er auch ausgerutscht, es ist mächtig glatt draußen. Himmlisch, wenn uns der Schnee vom Extemporale befreien würde!«
»Den Gefallen tut er Ihnen aber leider nicht,« klang da in das Geschwirr von hellen Mädchenstimmen eine heisere alte Männerstimme. In ihrer Aufregung hatten die Schülerinnen das Zeichen zur Stunde überhört. »Ihr menschenfreundlicher Wunsch ist nicht in Erfüllung gegangen, Braun. Weder ist die Bahn, noch ich selbst im Schnee stecken geblieben. Hä – hä – hä – hä!« – – – Der alte Herr lachte hüstelnd. »Und nun Extemporalehefte vor« – er schlug plötzlich einen anderen Ton an.
Die Hefte flogen auf die schwarzen Schultische – die Feder gezückt und die Ohren gespitzt. Jede glaubte, die Nachbarin müßte den lauten Schlag ihres Herzens vernehmen.
»Erster Satz: Ich hoffe, daß Karthago in Kürze besiegt sein wird,« begann Professor Herwig, zwischen den Bankreihen auf und ab schreitend, zu diktieren.
Frohlockende Mädchengesichter ringsum. Der Satz war nicht schwer, die Federn kritzelten.
»Heißen es victum
?« vergewisserte sich Vera jedenfalls noch hinter dem vor den Mund gehaltenen Taschentuch bei ihrer Freundin Annemarie.
Diese nickte. Ach, wenn es doch weiter so leicht bliebe!
»Zweiter Satz: Als Cäsar den Rubikon überschritt, sprach er die denkwürdigen Worte: – – –«
»Es klopft!« – – – rief die Klasse.
»Es klopft?« – – – Der alte Herr blickte verständnislos über seinen Kneifer hinweg. »Nein, er sprach die denkwürdigen Worte: Der Würfel ist gefallen.«
»Es klopft, Herr Professor – an der Tür klopft es!« Keine Feder setzte sich in Bewegung. Alles blickte voll Erwartung nach der Tür, als müßte von dort die Erlösung kommen.
»Öffnen Sie,« gebot der Lehrer der Zunächstsitzenden.
Herein trat Schuldiener Piefke, die graue Schirmmütze in der Hand.
»Herr Professor, ich soll melden, daß die Klassen von Untertertia bis Obersekunda von zehn bis zwölf Uhr zum Schneeschippen antreten sollen, und daß – – –«
»Juchhu« – »Piefke soll leben« – »nein, der Schnee!« – – Alle Disziplin war gelöst. Die Mädels waren ganz aus dem Häuschen vor Seligkeit.
»Ruhe im Lande – man versteht ja sein eigenes Wort nicht. Was haben Sie uns sonst noch mitzuteilen, Piefke?«
»Daß die Schülerinnen jleich in den Hof runterkommen möchten.« Piefke lächelte verschmitzt. Er gönnte den jungen Dingern die Freiheit.
»Also dann müssen wir uns fügen – wenn auch schweren Herzens – hä – hä – hä – hä – hä!« So alt Professor Herwig war, er konnte der Jugend den Jubel nachfühlen. »Aber in der nächsten lateinischen Stunde wird weiter Extemporale geschrieben.«
»Ach, das ist ja noch so lange hin« – »erst nächsten Donnerstag« – »vielleicht schneit’s dann noch immer.« Glückstrahlende Mädchenaugen – flinke Hände, die nicht schnell genug die gefürchteten Extemporalehefte zuschlagen konnten.
»Mäntel angezogen!« rief der bedächtige alte Herr der jungen Gesellschaft, die, wie sie da ging und stand, aus der Klasse stürmen wollte, nach.
Im Hof waren schon die anderen Klassen versammelt. Fräulein Hering und Fräulein Neubert verteilten Schaufeln und hölzerne Schneebesen.
»Ach, wenn doch mein geliebtes Heringchen mit uns gehen würde!« Annemarie hatte sich ihre Vorliebe für ihre allererste Lehrerin noch immer bewahrt.
Jede Schülerin erhielt eines der Geräte.
»Ihr sollt am Lützowplatz die Bahngleise freischaufeln – lauft doch nicht wie eine Herde Gänse durcheinander – in Riegen antreten!« kommandierte Fräulein Neubert.
»Ach, du meine Güte – die Neubert macht ja ’ne Turnstunde aus dem Schneeschippen. Wenn die sich an die Spitze unserer Kolonne setzt, dann ist das Vergnügen recht zweifelhaft,« murrte Annemarie ihrer Vera zu.
»Besserr – viel mehrr besserr als schrreiben das lateinische Arrbeit.«
»Da hast du ein wahres Wort gesprochen – also denn los, ganze Kompagnie!«
»Annemarie Braun, ich brauche euch, große Mädchen, wohl nicht erst darauf aufmerksam zu machen, daß ihr euch auf der Straße wohlerzogen und gesittet zu benehmen habt.«
Fräulein Neubert schritt neben der Untersekunda her, während Fräulein Hering die Aufsicht über die Tertia übernahm. So’n Pech!
Annemarie schnitt eine nicht gerade wohlerzogene Grimasse, die man aber in dem dichten Flockengewirbel zum Glück nicht wahrnehmen konnte.
»Wollen wir auskneifen, Vera? Ich glaube, bei dem Schneetreiben merkt es kein Mensch, wenn wir verduften,« schlug die unverbesserliche Annemarie vor.
»Au ja, das ganze Kränzchen!« – Ilse, die Annemaries Worte gehört, war gleich dabei.
»Nein, wir wollen doch helfen, den Verkehr aufrecht zu erhalten,« wandte Marlene verständig ein.
»Das können wir auch allein auf eigene Faust. Mit Fräulein Neubert zusammen macht es gar keinen Spaß.«
»Pst – Annemie – sie hört ja alles – sie hat sich schon nach dir umgedreht,« wisperte ihr Marianne zu.
»Ist mir wurscht ohne Fleischmarke. Heute hat sie mich sowieso noch vom Zuspätkommen auf den Strich.«
In den Straßen, welche die Untersekunda durchschritt, herrschte reges Leben. Allenthalben war man eifrig beim Fortschaffen des Schnees. Scherzworte erklangen, jubelnde Kinderstimmen, wenn der Rodelschlitten umkippte.
»Heute müßte man nach dem Grunewald rausfahren mit dem Rodelschlitten,« rief Ilse.
»Jawoll, mit Cäsar über den Rubikon müßten wir jetzt eigentlich im lateinischen Extemporale rodeln,« lachte Marianne ausgelassen.
»Annemarie sieht aus wie der Alte Fritz mit der weißen Zopfperrücke,« neckte Ilse.
»Und du wie Professor Herwig, bloß der Kneifer fehlt!« – – – Doktor Brauns Nesthäkchen blieb keine Antwort schuldig.
Inzwischen