gebildet, die über ihre Eltern aburteilen,« so hatte er ärgerlich geäußert. Laut auf hatte sein Nesthäkchen über die Säuglingsräte gelacht, und Klaus’ Schülerräte waren ihr recht dumm vorgekommen.
Jetzt aber in ihrer Empörung erschienen Annemarie die Schülerräte durchaus nicht mehr dumm. Im Gegenteil, dringend notwendig kamen sie ihr vor, um der bisher unumschränkten Gewalt des Lehrers eine Grenze zu setzen. Was an Klaus’ Gymnasium möglich war, ging auch bei ihnen. Sie waren ja auch im Gymnasium, sie waren auch nicht dümmer als die Gymnasiasten. Sie ließen sich auch nicht alles gefallen, wenn sie auch Mädels waren. Nein, ganz gewiß nicht!
»Du, Vera –« die neben ihr sitzende Freundin erhielt einen kleinen Rippenstoß – »du, ich gründe einen Schülerrat. Dann kann sich Fräulein Neubert aber in acht nehmen.«
»Wie? –« Vera sah verdutzt drein. Sie hatte keine Ahnung, was Annemarie eigentlich wollte.
»Einen Schülerrat gründe ich, der über Fräulein Neubert Gericht abhält und – – –«
»Vera Burkhard, gib den Inhalt des eben besprochenen Gedichtes an!« Der Lehrerin war die Unaufmerksamkeit der beiden nicht entgangen.
Vera schnellte empor und stand stumm da.
»Einst fuhren Büchsenschützen zu Schiff von Zürich nach Straßburg.« So laut auch Annemarie vorsagte, Vera verstand in ihrer Aufregung nur die Hälfte.
»Büchsen sind gefuhren nach – nach die Züricher Strraße.« Der Klang haftete nur im Ohr der Freundin.
Schallendes Gelächter erhob sich in der Klasse. Die junge Deutschpolin mit ihrem mangelhaften Deutsch lieferte oft Lachstoff. Sie hatte dann eine reizende Art, mitzulachen. Heute aber lachte Vera nicht mit den anderen. Ängstlich blickte sie zu Fräulein Neubert hin, die ein gar zu böses Gesicht machte.
»Ich denke doch, Vera Burkhard, du hättest allen Grund, mich jetzt durch doppelte Aufmerksamkeit zufriedenzustellen. Abgesehen davon, daß du jeden Augenblick dazu benutzen solltest, dein fehlerhaftes Deutsch zu verbessern. Ich kann dir in der Konferenz unmöglich die Reife für Obersekunda zusprechen.«
Die Tränen der Gescholtenen begannen zu fließen. Aber tröstend wisperte es von nebenan: »Heule nicht. Verachen, du bleibst nicht sitzen. Dafür wird schon mein Schülerrat sorgen.«
Wirklich versiegten die Tränen. Vera stellte sich unter Schülerrat etwas Ähnliches wie den Herrn Schulrat vor. Ja, wenn der dafür sorgen würde!
»Marlene Ulrich, gib du den Inhalt des Gedichtes an.«
Die Aufgerufene schien aus einer anderen Welt zu kommen, so versunken war sie noch immer in ihren Schmerz. Aber sie nahm sich zusammen.
»Im 16. Jahrhundert fuhren Büchsenschützen zu Schiff von Zürich nach – nach – – –« Sie stockte, wurde rot und senkte verlegen den Kopf.
»Nach Straßburg,« half Annemarie, trotzdem sie mehrere Plätze entfernt saß, kränzchenschwesterlich aus, während die Eulengläser ihr einen vernichtenden Blick zuwarfen.
»Nach Straßburg.« Marlene atmete erleichtert auf. »Und zum Zeichen, daß sie die Reise in einem Tage zurücklegten, brachten sie einen Kessel mit Hirsebrei, der in Zürich gekocht war, noch warm nach Straßburg,« vollendete sie fließend.
»Setzen!« Fräulein Neubert machte sich eine Notiz in ihrem Büchlein. »Zu welcher Gattung Gedichte gehört das glückhafte Schiff von Zürich?«
Die Untersekunda machte gerade keine schlauen Gesichter.
Nur ein Zeigefinger erhob sich. Er gehörte zu Annemarie Braun, die für deutsche Literatur besonderes Interesse hatte. Die Lehrerin schien es nicht zu bemerken.
»Weiß es keine?«
»Ich – ja, ich – – –« Zu überhören war Annemaries laute Stimme wirklich nicht. Aber Fräulein Neubert brachte das Kunststück fertig.
»Ist es ein lyrisches Gedicht?« fragte sie wieder.
»Nein« – »nee.« – Annemaries Stimme rief am lautesten von allen: ihr Zeigefinger fuhr wild im Kreise durch die Luft.
»Also was für eins?«
»Ein erzählendes.« – – Annemarie schrie es einfach, ohne gefragt zu sein, in ihrer Lebhaftigkeit.
»Hier hat nur diejenige zu sprechen, die ich aufrufe.« Fräulein Neubert runzelte die Stirn.
»Na, wenn ich nicht ausgerufen werde, mehr als melden kann ich mich nicht,« gab Annemarie ungezogen zur Antwort.
»Annemarie Braun, ich glaube, du willst heute zum zweitenmal nähere Bekanntschaft mit dem Klassenbuch machen.« Die Lehrerin griff nach dem gefährlichen Buch.
»Durchaus nicht – aber Luft bin ich nicht – und wenn ich mich am Unterricht beteilige – – –« Das junge Mädchen wurde bald blaß, bald rot vor Aufregung.
»Schülerinnen, welche sich ungehörig benehmen, existieren für mich nicht. Und nun wünsche ich kein Wort mehr über die Angelegenheit zu hören.« Fräulein Reubert schrieb mit schönen großen Buchstaben Annemarie Braun unter Tadel.
»Das lasse ich mir nicht gefallen – ich gehe zum Direktor. Wir bilden Schülerräte, wie das bei Klaus am Gymnasium schon eingeführt ist. Solche Behandlung brauchen wir uns nach der Revolution nicht mehr gefallen zu lassen. Die Jugend hat auch ihre Rechte, wir sind freie Menschen und keine Sklavenseelen!« wütete Annemarie vor sich hin, während Vera sie vergeblich zu besänftigen suchte:
»Nicht sprrechen so laut – du fliegen herraus!«
Annemarie war in ihrer Erregung alles gleich – keine Träne kam ihr über den Tadel. Nur Empörung, grenzenlose Empörung zeigten die jungen, ausdrucksvollen Mienen. Ohne sich um den Fortgang der Stunde noch zu kümmern, nahm sie ein Buch aus der Mappe und schlug es auf. Wenn Fräulein Neubert sie vom Unterricht ausschloß – schön, ihr sollte es recht sein.
Die Kameradinnen sahen mit erstaunt mißbilligenden Blicken auf die dreiste Annemarie. Da hatte das kecke Ding doch tatsächlich ganz offensichtlich auf dem Schultisch das französische Buch aufgeschlagen und präparierte Athalie. Marianne Davis drehte sich beinahe den Hals aus, um diese Sehenswürdigkeit eingehend zu betrachten, während Vera ihr ängstlich zuflüsterte: »Buch machen zu – Frräulein Neubert sehen herr mit grroße Eulenaugens.«
Annemarie ließ sich nicht stören. Sie hörte den Vortrag der Lehrerin über Johann Fischart, den Verfasser des vorhin besprochenen Gedichtes nicht, denn sie hatte sich absichtlich beide Zeigefinger in die Ohren gestopft. Erst als Ilse Hermann, die vor ihr saß, aufgerufen wurde und ängstlich den Kopf mit dem glattgescheitelten Blondhaar nach allen Seiten wandte, ob sich nicht eine mitleidige Seele ihrer Unwissenheit erbarmte, wurde sie aufmerksam.
»Kannst du uns wirklich kein anderes Werk dieses erzählenden Dichters nennen, Ilse Hermann?«
Ilse stand ratlos und nahm aus Verlegenheit einen ihrer langen Blondzöpfe in den Mund.
»Flöhhatz,« trompetete es da plötzlich durch die Stille. Einen Augenblick saßen die Mädels starr über Annemaries Unverfrorenheit. Dann aber brach die Klasse in ein lautes, nicht zu bändigendes Gelächter aus.
»Ruhe – ich verlange augenblickliche Ruhe!« Die Stimme der Oberlehrerin legte sich eisig auf das helle Mädchenlachen. »Annemarie Braun, du verläßt unverzüglich die Klasse.«
»Ich habe nichts weiter getan, als ein Werk von Fischart genannt.« Annemarie schlug ihren Racine mit lautem Knall zu und verließ erhobenen Hauptes den Schauplatz ihrer Heldentaten.
Aber so gleichgültig, wie sie sich äußerlich den Anschein gab, war ihr innerlich ganz und gar nicht zumute. Grenzenlos gedemütigt fühlte sie sich in ihrer Sekundanerwürde. Rausgeflogen war sie aus der Klasse – an die Luft gesetzt worden – die ganze Untersekunda war Zeuge ihrer Schmach gewesen – – Annemarie stieß wütend mit dem Fuß gegen den steinernen Flurboden, daß es laut durch die Stille hallte.