sich ihr Teil.
Annemarie war immer eine gute Schülerin gewesen. Sie hatte stets zu den Ersten gehört, niemals hatte ihr das Lernen irgendwelche Schwierigkeiten gemacht. Wenn die Lehrer wirklich mal etwas an ihr auszusetzen hatten, dann trug höchstens ihre allzu große Lebhaftigkeit daran die Schuld. Die ließ sie nicht immer die strengen Grenzen, welche die Schuldisziplin erheischt, innehalten.
Sorgenvollen Herzens legte sich Doktors Nesthäkchen am Vorabend ihres sechzehnten Geburtstages zu Bett.
»Nu schlaf man recht schön, Annemiechen,« hatte Köchin Hanne zu ihr gesagt, »und paß auf, was dir träumt. Denn was man vor dem Jeburtstag träumt, trifft ein.«
Ach, sie würde, wenn sie überhaupt in dieser Nacht Schlaf fand, sicherlich von Tadeln und von Sitzenbleiben träumen, von Fräulein Neubert mit den Eulenaugen und von dem mißglückten Schülerrat. Hatte sie bei all ihrer sonstigen Offenherzigkeit doch nicht gewagt, davon zu Hause zu erzählen. Weniger wegen der Strafpredigt der Eltern, als aus Furcht vor den Neckereien des Bruders. Der durfte nicht erfahren, wie unsterblich sie sich in der Schule blamiert hatte.
Nein, sie würde sicherlich heute nacht kein Auge zutun, dachte Doktors Nesthäkchen und – da schlief es bereits, tief und traumlos schlief es bis zum andern Morgen.
Grau und unfreundlich blinzelte der 9. April ins Fenster hinein, als hätte er noch nicht recht ausgeschlafen. Auch das Geburtstagskind blinzelte müde aus seinen Kissen heraus. War es nicht das beste, heute überhaupt nicht aufzustehen? Aber die Geburtstagsfeier nachmittags mit den Freundinnen, all die Geschenke – – – »ach was, ich bin feige!« Damit sprang Annemarie in ihre roten kleinen Pantoffeln.
Meistens war ihr Geburtstag in den Osterferien gewesen. Fiel Ostern spät, dann pflegte der Geburtstagstisch erst mittags, wenn sie aus der Schule kam, ihrer zu warten. Mutter fürchtete sonst mit Recht, daß die Gedanken ihrer Lotte daheim bei den Geschenken blieben. Auch heute wurde erst mittags beschert. Nur ein Strauß Frühlingsblumen prangte vor Annemaries Frühstücksplatz. Und dann die große Torte, die Hanne alljährlich, selbst in den schweren Kriegsjahren, für »ihr Kind« zu backen pflegte. »Für unser Nesthäkchen« stand stets darauf in unbeholfener Zuckerschrift.
»Hanne, ich glaube, zu meinem siebzigsten Geburtstag backen Sie mir auch noch die Nesthäkchentorte,« lachte Annemarie, die sich mit ihren sechzehn Jahren dem Nesthäkchenalter ungeheuer entwachsen fühlte.
»Allemal, wenn ich denn noch leben tu. Unser Nesthäkchen biste und bleibste!« Zärtlich klopfte die gute Hanne die rosigen Wangen ihres Lieblings.
Annemarie, sonst ein strahlend heiteres Geburtstagskind, mußte sich heute ordentlich zusammennehmen, um einigermaßen froh zu erscheinen. Es lag wie eine Bergeslast auf ihrer jungen Seele. Als der Vater sie liebevoll in seine Arme schloß: »Mach’ uns weiter Freude wie bisher, meine Lotte,« da hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte losgeheult. Und war dabei doch sonst gar keine Tränenweide, die Annemarie.
Muttchen aber, die ihr Kind in jeder Ader kannte, hatte sie an ihr Herz gezogen: »Nun wollen wir wünschen, daß die heutige Osterzensur zur Zufriedenheit ausfällt, was, Lotte?«
Das Töchterchen hatte stumm genickt und sich blutübergossen schnell abgewandt. Aha – da stimmte was nicht.
Essen konnte Annemarie absolut nichts heute morgen, nicht einmal Kuchen.
»Versetzungsfieber,« stellte Klaus als Doktorsohn sachgemäß fest.
Annemarie machte, daß sie fortkam.
Draußen sah es nicht viel heller aus als in des Geburtstagskindes Seele. Der Schnee, der wochenlang die Straße weiß und licht eingebettet hatte, war schmutzigem Tauwetter gewichen. »Matschwetter« nannte es der Berliner. Schneeflocken, mit kaltem Regen untermischt, schüttete ein tiefhängender grauer Wolkenhimmel auf die Dahineilenden aus. Grau in grau alles. Hu – kam denn die Sonne gar nicht wieder zum Vorschein?
Margot Thielen, mit der Annemarie täglich den Schulweg zurücklegte, hatte es gut. Die brauchte keine Angst zu haben, nicht nach Obersekunda versetzt zu werden. Die war solche pflichteifrige und bescheidene Schülerin, daß sie sicher wieder mit einer Prämie nach der ersten Klasse hinüberkam.
Die Kränzchenschwestern in der Schule waren alle miteinander aufgeregt. Würde Fräulein Neubert ihnen den Konditortadel auf die Zensur geschrieben haben?
»Du hast wenigstens heute Geburtstag, Annemie. Da wird das Donnerwetter bei dir zu Hause nicht allzu arg werden,« meinte Ilse ein bißchen neidisch.
»Wenn die Neubert mir das ›Lobenswert‹ im Betragen verdorben hat, darf ich bestimmt heute nachmittag nicht zu dir kommen,« überlegte Marianne bedrückt. Marlene Ulrich sagte nichts. Keinen Ton brachte sie vor Aufregung hervor. Ganz blaß sah sie aus. Vera hielt Annemaries kalte Hand in der ihren.
»Man wirrd versetzen dirr bestimmt, Annemie. Du brrauchen nicht ängsten,« tröstete sie leise. Dabei schlug ihr eigenes Herz nicht weniger beklommen. Wer konnte wissen, ob in der Versetzungskonferenz nicht an ihrem fehlerhaften Deutsch Anstoß genommen worden war.
Endlos lange erschien den Mädels heute die Feier in der Aula. Der Gesang der Schülerinnen, die Rede des Direktors, die Entlassung der Abgehenden, die Prämienverteilung – – – endlich, endlich betrat der Ordinarius einer jeden Klasse die Kanzel, um die Namen der Glücklichen, die versetzt wurden, zu verlesen. Da krampfte sich manches Mädchenherz zusammen. Der Atem stockte, die Augen lasen die Worte, die Sein oder Nichtsein bedeuteten, von den Lippen.
Professor Herwig, der Ordinarius der Untersekunda, schneuzte sich umständlich, ehe er den großen Bogen entfaltete. Dann nahm er noch eine Prise aus seiner Tulardose, hüstelte einige Male und begann darauf mit belegter Stimme: »Von Untersekunda nach Obersekunda werden versetzt: Arndt, Auerbach, Below – – –«
»Ach, wenn mein Name doch mit Z beginnen würde,« dachte Doktors Nesthäkchen, während die Aula mit allen Mädeln, der alte Professor droben wie Räder vor ihren Augen zu kreisen begannen.
»Below, Bock, Braun, Burkhard.« – Ein schwer unterdrückter Freudenjuchzer wurde hier in der atemlosen Stille hörbar. Die Köpfe wandten sich der dritten Reihe zu, wo er laut geworden. Aber das reizende blonde Mädel, das da in überströmender Seligkeit den Arm der danebensitzenden Schwarzhaarigen fast entzwei quetschte, merkte davon absolut nichts.
»Versetzt, Vera, alle beide – und die andern auch!« Die Namen Davis und Hermann waren inzwischen an ihrem Ohr vorübergeglitten. Nur Marlene hatte lange auf den Namen Ulrich zu warten. Aber bei der war es ja außer Zweifel, daß sie versetzt wurde. Die bangte nur vor dem Tadel.
»Ich möchte Herwig am liebsten einen Kuß aus Dankbarkeit geben,« flüsterte Annemarie wieder ausgelassen.
»Biete serr, aberr Frräulein Neubert hat verrdienen die Kuß mehrr.« Auch Vera war überglücklich. Trotzdem die eigentliche Zeugnisverteilung noch ausstand.
»Himmel, die Eulenaugen spießen mich schon wieder auf.«
Die Oberlehrerin hatte in der Tat verweisende Blicke zu den Störenden gesandt.
Was nun noch kam, war allen ganz gleichgültig. Hauptsache war, man war in die Obersekunda gerutscht. Die kleine Standpauke, die Professor Herwig Annemarie Braun bei der Überreichung ihrer Zensur hielt, daß es ihn schmerze, auf dem sonst guten Zeugnis einen Tadel zu sehen, machte zur Verwunderung des alten Herrn gerade einen entgegengesetzten Eindruck. Die blauen Mädchenaugen strahlten in reinem Glück: Bloß einen Tadel – dem Himmel sei’s getrommelt und gepfiffen!
Auch die Kränzchenschwestern waren wie aufgebunden: Der Konditortadel war nicht mit auf die Zensur gekommen.
»Habe ich der Neubert gar nicht zugetraut, daß sie so anständig sein könnte,« rief Ilse Hermann unvorsichtig laut.
»Pst!« Marlene, die wieder etwas Farbe bekommen hatte, hielt ihr den Mund zu. »Am Ende haben wir das deinem Schülerrat zu verdanken, Annemie.«
Annemarie wurde zuerst ein wenig rot. Dann aber warf sie sich in die Brust: »Ist schon möglich,