Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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Schule verließen, merkten in ihrer Freude nichts davon. Annemarie schien die ganze Welt verändert. Sie sah kein schmutziges Regengrau mehr, nur noch, wie lustig die Tropfen auf dem Asphalt zersprangen. In ihr hüpfte und sprang es ganz ebenso ausgelassen.

      »Ich weiß gar nicht, Annemie, daß du so vergnügt sein kannst, wo du doch immer noch einmal getadelt auf der Zensur hast,« verwunderte sich Marlene.

      »Ach was, einmal ist keinmal,« lachte Annemarie sie aus.

      »Gib doch den Tadel einfach für den Konditortadel aus, dann ist er weniger schlimm,« schlug Ilse pfiffig vor.

      »Ja, du können doch garr nicht wissen, welches Tadel sie haben gestrreicht.« Auch Vera fand die Mogelei erlaubt.

      »Nee – mach’ ich nicht. Muttchen beschwindle ich nicht. Noch dazu heute, wo jeder bemüht ist, mir was Liebes anzutun.« Ohne Besinnen rief es Annemarie.

      »Und wer an seinem Geburtstag schwindelt, der lügt das ganze Jahr,« warnte Marianne.

      Es bedurfte dieser Mahnung ganz und gar nicht. Annemarie Braun war bei all ihren kleinen Schwächen ein durch und durch ehrliches Mädel.

      Wohl stieg sie, als man sich einander nach endlosem Hin-und Herbegleiten schließlich mit vielen Küssen bis zum Nachmittag getrennt hatte, ein wenig zögernd die Treppen daheim hinauf. Eigentlich dämlich, daß der Direktor nicht gleich den andern Tadel mitgestrichen hatte. Es war ja nicht ihrethalben, i wo! Aber ihrem Muttchen hätte sie gern jede unangenehme Minute erspart.

      »Hanne, ich bin Obersekundanerin!« Wie ein Wirbelwind ging’s an der öffnenden Küchenfee vorüber.

      »Na, denn biste was rechts, Annemiechen!« Hanne vermochte sie nicht damit zu imponieren.

      Der Mutter aber, die bereits vom Erkerfenster Ausschau nach ihrem so lange säumenden Nesthäkchen hielt, war ein Stein vom Herzen.

      »Na, Lotte, nun beichte mal, was dir heute morgen so schwer auf der Seele gelastet hat, war’s bloß die Versetzung?«

      »Ja, die Versetzung und das hier.« Annemarie wies auf den säuberlich geschriebenen Tadel, den die Mutter noch nicht entdeckt hatte. »Aber du brauchst dich gar nicht darüber aufzuregen, Muttchen, denn Fräulein Neubert war geladen auf mich und selbst schuld an meiner ungehörigen Antwort.«

      »Na, na, Lotte, den Tadel wirst du wohl durch vorlautes Wesen verdient haben. Nun bist du schon sechzehn Jahre alt, wann wirst du endlich lernen, bescheiden den Mund zu halten?«

      Stürmisch umfaßte sie die Gescholtene.

      »Muttchen, es lohnt wirklich nicht, daß du dich auch nur die Spur deshalb aufregst. Ja, wenn es noch ein Doppeltadel wäre. Aber so haben wir wirklich nur Grund, dankbar und zufrieden zu sein.«

      »Diese Auffassung leuchtet mir nicht so recht ein, Lotte. Deine Freundinnen haben sicherlich keinen Tadel. Die sind bescheiden und höflich.« Wirklich ganz bekümmert sah die Mutter aus.

      »Bescheiden und höflich, die? Ja, vielleicht Marlene und Vera. Aber Ilse tut bloß so, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte, und Marianne ist auch oft mit dem Mund voraus. Ein paar Mädel in meiner Klasse haben sogar nur ›im ganzen befriedigend‹ im Betragen. Und Vater sagt immer, man solle unter sich sehen und nicht über sich, damit man nicht neidisch wird.«

      »Na, Lotte, so habe ich das nun wirklich nicht gemeint.« Lautes Lachen kam von der Tür her. »Ich habe das nur auf soziale Verhältnisse bezogen. Wenn es sich darum handelt, sich an besseren Schülerinnen ein Beispiel zu nehmen, hast du sogar die Pflicht, nach oben zu sehen und nicht nach unten. Nun laß mal deine Zensur anschauen und hole dir deine Keile dafür, du Schlingel.« Vater packte sein Nesthäkchen, wie er es so gern tat, im Nacken wie den Puck.

      »Du, Vater, du vergißt, daß ich heute sechzehn Jahre alt bin.« Annemarie reckte sich, daß sie nicht mehr viel kleiner war als Doktor Braun. »Mit Schlingel und mit Keile hat es jetzt ein Ende – ich bin Obersekundaner.«

      »Donnerdoria – wirklich versetzt? Ich habe nach der Einleitung sicher gedacht, du wärest sitzengeblieben. Und ›gut‹ im Betragen, was will man mehr? Bloß einmal getadelt – für solche Prachtzensur muß nun auch die Belohnung kommen.« Der Vater zwinkerte so drollig mit dem einen Auge, daß auch die Mutter wieder lachen muhte. »Ihr habt doch mit der Geburtstagsbescherung auf mich gewartet, wie?«

      »Ja, freilich, auf dich und auch auf die Großmama. Sie wollte gern dabei sein und – – –«

      »Großmuttchen ist wie immer pünktlich auf die Minute.« Annemarie raste aus dem Zimmer, um der besten aller Großmütter selbst die Tür zu öffnen.

      »Ja, unser Nesthäkchen wächst heran, wir haben bald eine große Tochter, Elsbeth!« Doktor Braun sah seiner hübschen Jüngsten mit Vaterstolz nach.

      »Du verziehst sie noch heute genau so wie früher, Ernst. Ich bin ärgerlich wegen des Tadels auf der Zensur. Du lachst darüber. Wenn nicht solch guter Kern in unserem Mädel steckte – – –«

      Da betraten die zwei, Großmutter und Enkelin, Arm in Arm das Zimmer. Frau Doktor Braun brach ihre Rede ab und begrüßte die Mutter.

      »Großmuttchen ist seit letztem Sonntag kleiner geworden, ganz bestimmt – ich bin heute einen halben Kopf größer,« stellte Annemarie frohlockend vor dem großen Eckspiegel fest.

      »Ich glaube eher, daß du inzwischen gewachsen bist, Herzchen,« lachte Großmama.

      »Von mir aus kann die feierliche Bescherung nun losgehen,« verkündete Annemarie. »Auf Klaus wird nicht gewartet, der kann pünktlich sein.«

      »So, meinst du?« Der Genannte hatte sich plötzlich hinter sie geschlichen. »Da reiße ich mir nicht nur ein, sondern alle beide Beine aus, um für dich, Leckermaul, Mandelschokolade, die du so gern ißt, aufzutreiben, und das ist dann der Dank vom Hause Habsburg.«

      »Richtiggehende Mandelschokolade? Ach, Kläuschen, nun ist wirklich Frieden. Ich danke dir tausendmal.« Sie wollte ihm einen Kuß auf die ersten bescheiden sich kaum hervorwagenden Schnurrbarthärchen drücken, aber er schüttelte sie ab.

      »Geschenkt – für so ’ne Leckereien bin ich nicht.«

      Inzwischen hatte der Vater die breite Schiebetür, die das Wohnzimmer von dem Speisezimmer trennte, zurückgerollt. Lichterschein sprühte von dem mit weißem Damasttuch gedeckten Gabentisch und warf seine goldenen Reflexe auf den sich glücklich über die Geschenke neigenden Blondkopf.

      »Siebzehn Lichte, in heutiger Zeit, ihr seid mir aber Verschwender,« drohte Großmama lächelnd.

      »Ohne die Geburtstagslichte tut es Ernst nun mal nicht, die sind ihm wichtiger als der Kuchen. Er hat sie für unser Nesthäkchen vom Weihnachtsbaum abgespart.«

      »Nesthäkchen, Muttchen? Nesthäkchen lesen den Struwwelpeter und nicht den Gerhart Hauptmann.« Annemarie hatte bereits die Nase in einen der Bände hineingesteckt. »Und Nesthäkchen brauchen auch noch kein Tanzstundenkleid – ach, ist das süß!« Das Backfischchen probierte bereits den Rosenknospenmull vor dem Spiegel. »Noten – fein! Den Auszug aus den Meistersingern habe ich mir brennend gewünscht. Goldig sind die Lackschuhe – – –«

      »Du scheinst farbenblind zu sein, Annemie, die Lackschuhe sind schwarz.« Primanerlogik kann manchmal recht unbequem sein.

      Annemarie pflegte sie einfach zu überhören. Die drückte ihre Mutter vor Dankbarkeit fast entzwei und flüsterte ihr ins Ohr: »Auf der nächsten Zensur soll sicher kein Tadel mehr stehen, Muttichen, ich will mir alle eure Liebe verdienen.« War doch ein Prachtmädel, ihre Lotte, trotz allen Übermutes. Böse sein konnte man ihr nicht.

      Nun kam der Vater heran. Erneute Auflage von Küssen und Dankesbezeigungen. Von da ging’s zur Großmama.

      »Großmuttchen, ich danke dir vielmals.«

      »Wofür denn?« verwunderte sich die alte Dame. »Ich habe dir doch gar nichts geschenkt, Kind. Bei den heutigen schweren Zeiten hielt ich es für richtiger, es bei den guten Wünschen