Nur ein Gruß und Glückwunsch muß ich dir noch bestellen, Lotte, von Schwester Lenchen.« Vater erhob sich.
»Schwester Lenchen – wer ist denn das?« verwunderte sich Annemarie.
»Lotte, ich glaube doch, du schläfst schon mit offenen Augen«, lachte der Vater sie aus. »Erst kennt meine dumme Lotte den eigenen Vater nicht und jetzt nicht mal die Tante Lenchen aus Wittdün, die ein ganzes Jahr lang für sie gesorgt hat.«
»Ach, Tante Lenchen! Ist sie in deinem Lazarett, Vater?« Annemarie, die schon ein wenig schläfrig gewesen, wurde plötzlich wieder ganz munter.
»Nein, Kind, aber sie pflegt in einem Etappenlazarett, in dem Onkel Heinrich liegt. Er ist verwundet, gottlob nur leicht. Ich habe meine Reise unterbrochen und ihn aufgesucht. Da stellte sich mir seine Pflegerin, als sie hörte, wer ich sei, als eine mütterliche Freundin von meinem Nesthäkchen vor. Ja, Berg und Tal kommen nicht zusammen, aber Menschen!«
»Onkel Heinrich hat doch bisher immer in Rußland gestanden, wie kommt der plötzlich nach dem Westen?« fragte Hans ganz erstaunt.
»Es sind kolossal viel Truppen wegen der großen französischen Offensive vom Osten nach Westen geworfen worden. Onkel Heinrich ist durch Berlin gekommen. Aber er konnte euch nicht benachrichtigen, da die Truppenverschiebungen geheim gehalten werden. Er mußte es sich sogar versagen, seine Frau und Kinder nach Breslau kommen zu lassen. Aber nun gute Nacht – ach, ihr wißt ja gar nicht, was das für ein Gefühl ist, sich wieder daheim im eigenen Bett strecken zu können.«
Am nächsten Morgen wehte es schwarz-weiß-rot von Doktor Brauns Balkon in die Frühlingsluft. Die Umwohnenden und Vorübergehenden horchten erwartungsvoll auf Extrablätter oder Glockengeläut, die einen Sieg verkünden sollten – nichts dergleichen. Ja, warum flaggte man da oben denn bloß? Die Leute zerbrachen sich den Kopf. Keiner kam auf die richtige Lösung, daß ein glückseliges Kinderherz seinem Jubel über die Heimkehr des Vaters aus dem Felde durch das höchste, was es kannte, Ausdruck gab – durch Freudengeflatter der Siegesfahne.
Mit unsagbarem Stolz schritt Nesthäkchen nicht mehr an der Hand, nein, jetzt schon am Arm des Vaters durch die Straßen Berlins. Nicht einen Schritt ließ Annemarie ihn allein gehen. Sie und Puck – wie sein Schatten folgten die zwei ihm getreulich.
Sogar in die Klinik des Vaters, in der sie vor Jahren wochenlang an Scharlach gelegen, begleitete sie ihn. Dieselbe war inzwischen in ein Lazarett verwandelt. Von Bett zu Bett schritt Annemarie und verteilte Apfelsinen, Schokolade und Zigarren. Selbst die Verwundeten, die heftige Schmerzen duldeten, lächelten beim Anblick des glückstrahlenden, reizenden Blondkopfs.
Ach, daß die dumme Schule wieder beginnen mußte! Sonst hatte sich Annemarie stets auf eine neue Klasse gefreut. Aber diesmal sah sie dem Schulanfang mit wenig freudigen Gefühlen entgegen. Zwei Vormittage und ein ganzer Nachmittag gingen ihr von Vaters knapp bemessenem Urlaub durch die Schule verloren. In drei Tagen mußte er schon wieder fort.
Und dann gab es noch etwas, was dem kleinen Mädchen im Gedanken an die Schule höchst unbehaglich war. Wie, wenn Marianne Davis noch an die alberne Geschichte mit dem Pfänderauslösen dachte und irgendeine scherzhafte Bemerkung machte, daß sie mit der ›Polnischen‹ in der Pause gehen sollte. Es war ihr nur peinlich vor Vera, die es vielleicht merken konnte. Denn sie dachte ja gar nicht daran, mit der zu gehen. Nein, ganz bestimmt nicht!
Annemarie bat den Vater so lange, bis dieser ihr den Gefallen tat, sie zur Schule zu begleiten. Es war nicht nur der Wunsch, noch soviel wie möglich mit ihm zusammen zu sein, es war auch ein kleines Teilchen Eitelkeit dabei. Die Schulkinder sollten ihren Vater, auf den sie so stolz war, mit seinem Eisernen Kreuz sehen, vor allem die polnische Vera.
Aber das schwarzlockige Mädchen, das sonst oft auf der andern Seite gleichen Schritt mit Annemarie und Margot hielt, und sehnsüchtig zu den Freundinnen herüberblickte, war heute leider nicht zu sehen.
»Mein Vater ist auf Urlaub gekommen, wenn ihr schnell ans Fenster geht, könnt ihr ihn noch sehen, er hat mich zur Schule begleitet.« Mit diesen Worten betrat Annemarie Braun, lebhaft wie immer, die neue Klasse.
Nanu, die Mädel waren ja so ruhig und machten so komische Gesichter. Manche liefen zwar ans Fenster, aber die meisten steckten tuschelnd die Köpfe zusammen oder sahen scheu nach links.
Annemarie folgte der Richtung ihrer Blicke.
Da saß auf der vorletzten Bank ein blasses Kind in düsteren Trauerkleidern. Schwarze Locken fielen auf das schwarze Kleid – Vera.
Annemaries noch eben so fröhlich schlagendes Herz krampfte sich bei diesem Anblick schmerzlich zusammen. War Veras Onkel oder Tante gestorben? Es drängte sie, zu dem stillen bleichen Mädchen hinzueilen und sie zu trösten, aber ehe sie noch das letzte Restchen falscher Scham in sich besiegt hatte, betrat bereits Herr Doktor Winter, der neue Ordinarius, die fünfte Klasse.
Es fand heute noch kein Unterricht statt. Der Lehrer nahm nur die Namen seiner Schülerinnen auf, gab den Stundenplan und teilte die für das neue Schuljahr anzuschaffenden Bücher mit.
»Annemarie Braun – Beruf des Vaters?«
»Oberstabsarzt«, freudig stolz klang es.
Nachdem Annemarie Braun noch verschiedene andere Fragen beantwortet, folgte ihr unmittelbar nach dem Alphabet Vera Burkhard.
»Beruf des Vaters?«
»Papa ist – tot.« Vera schlug plötzlich aufschluchzend beide Hände vor das blasse Gesicht.
»Richtig – armes Kind!« Der Lehrer trat teilnehmend zu ihrem Platz und streichelte das weiche schwarze Haar. »Ich hörte bereits, daß dein Vater den Heldentod für unser Vaterland in der Karpathenschlacht erlitten. Du mußt stolz auf deinen Vater sein – wir aber, ich weiß mich da sicher eins mit der ganzen Klasse, wir wollen der armen Vera von Herzen den schweren Verlust tragen helfen.«
Weiter ging es in der Schülerinnenliste. Beschämte Mädchengesichter neigten sich allenthalben tief über den Schultisch. Mitleidig verstohlene Blicke wanderten hier und da zu der blassen Vera.
Auf dem zweiten Platz aber saß ein blondes Mädel, dem rollten die Tränen unaufhaltsam über die blühenden Wangen. Wo blieb Annemaries kleiner eitler Stolz? Wo ihre falsche Scham? Davongespült wurden sie von ihren bitteren Reuetränen. Die, welche sie der Verachtung der ganzen Klasse preisgegeben, die sie als Spionin verschrien, hatte jetzt dem Vaterland das Liebste, was sie noch besessen, dahingegeben. Was wogen all die kleinen Opfer, die sie selbst getragen, gegen dieses gewaltige, schmerzliche?
Als die Schulglocke die Stunde schloß, eilte Annemarie, ohne noch zu überlegen, zur vorletzten Bank. Ungestüm schlang sie ihre Arme um die zusammenzuckende Vera und küßte warmherzig ihre bleiche Wange.
»Kannst du mir verzeihen, Vera, daß ich so schlecht zu dir gewesen bin? So schlecht – du weißt ja gar nicht, wie sehr! Es tut mir ja so schrecklich leid, und ich will alles wieder gut machen. Ich werde dich von nun an sehr lieb haben. Du sollst meine Freundin sein.« Unter Tränen flüsterte es Doktors Nesthäkchen!
Da irrte wie ein Sonnenstrahl ein kaum merkliches Lächeln um den ernsten Kindermund, oder war das Lächeln nur in Veras großen dunkelblauen Augen, die sie dankbar zu Annemarie aufschlug? Still reichte sie der neuen Freundin, die ihr soviel Böses getan, die Hand.
Aber auch die andern drängten sich jetzt herzu. Ebenso wie Annemarie Brauns schlechtes Beispiel die Mitschülerinnen gegen Vera eingenommen, folgten sie jetzt ihrem guten. Jede drückte der armen Vera die Hand, hatte den Wunsch, ihr irgend etwas zu Liebe zu tun, das Häßliche, das man ihr zugefügt, gut zu machen.
Annemarie schnallte ihr die Mappe auf, Margot reichte ihr den schwarzen Hut. Dann nahmen die beiden Freundinnen die so lange Ausgestoßene in die Mitte. Arm in Arm, so schritten sie heimwärts.
Das, was Vera viele Monate ersehnt, um was sie den lieben Gott jeden Abend gebeten, hatte sich erfüllt. Die Kinder behandelten sie nicht mehr abstoßend, alle waren sie nett zu ihr. Und Annemarie, zu der sie sich trotz ihres häßlichen Benehmens am meisten hingezogen gefühlt, war ihre Freundin geworden. Aber wie