herrschte, keine passende Wohnung finden. Darum war Elli mit ihrem Kleinen inzwischen bei den Eltern.
»Ach ja, das gefällt mir am besten, ich weiß schon, wie ich’s mache, damit jeder was von meiner Hilfe hat. Morgens arbeite ich bei der Ernte: vormittags gehe ich Tante Käthchen zur Hand, und nachmittags kommt zur Belohnung Bübchen heran.«
»Das will ich mir auch ausgebeten haben, daß du mich jetzt nicht im Stich läßt, wo die Arbeiter so knapp sind, und man mit den polnischen ewig seinen Ärger hat.« Onkel machte ein möglichst ernstes Gesicht. »Wer essen will, muß auch arbeiten.«
»Also morgen früh um vier Uhr!« Annemarie gähnte verstohlen. Sie war reichlich müde von der Reise. »Habt ihr nicht eine Weckuhr?«
»Bei uns weckt der Hahn. Gute Nacht, Annemie.«
Nun stand Doktors Nesthäkchen oben am Fenster des netten Giebelstübchens und blickte über den Hof und die Scheunen, über die Wiesen, die sich in der matten Lichtflut des Mondes badeten, weit, weit hinaus. In langen Zügen atmete Annemarie die würzige Heuluft, die der Nachtwind hereinfächelte. Irgendwo blökte ein Kalb. Horch – die Nachtigall, zart und süß, Lange stand das Großstadtkind und lauschte dem Atem der Natur. War das ein Gottesfrieden hier!
Als der Gutsherr am andern Morgen bald nach vier Uhr aufs Feld hinausritt, warf er einen verschmitzten Blick zu den Fenstern des Giebelstübchens hinauf. Da waren die grünen Fensterläden noch fest geschlossen.
Zwei Stunden später begann auch Tante Käthchen ihren Rundgang durch den Geflügelhof, in die Kälberkinderstube und in den Obstgarten. Auch sie lugte zum Fremdenzimmer hinauf. War ja kein Wunder, daß das Mädelchen nach der langen Reise müde war.
Bübchen erschien um halb acht, frisch gewaschen und ausgeschlafen. Aber die neue Tante, die mit ihm spielen wollte, war noch nicht sichtbar.
Peter, der in aller Herrgottsfrühe schon mit dem Vater hinausgeritten war, trat mit wahrem Bärenhunger bereits zum zweiten Frühstück an, während Herbert gerade seinen Kaffee trank.
»Ist unser holdes Cousinchen noch nicht aus den Federn gekrochen?«
»Die schläft noch wie ’ne Ratze – macht mir selbst Konkurrenz an Faulheit.«
»Na, dann wollen wir sie mal ein bißchen aus dem Traumland in die Wirklichkeit zurückholen.« Peter begann kleine grüne Äpfel, die der Wind heruntergeschlagen hatte, zu sammeln und die grünen Fensterläden des Giebelstübchens geschickt zu bombardieren.
Drinnen fuhr Annemie erschreckt hoch. »Himmel – sie schießen!« Das war bestimmt eine Bombe. Die Fensterläden schlitterten ja nur so, und die Scheiben klirrten.
War denn wieder Revolution – Spartakistenunruhen?
Annemarie war ein beherztes Mädel. Mit beiden Beinen sprang sie zugleich aus dem Bett, um zu sehen, was denn eigentlich los sei.
Verschlafen blickte sie um sich in der fremden Umgebung.
Herrgott, sie war ja gar nicht in Berlin in ihrem Mädchenzimmer. Sie war ja auf Gut Arnsdorf. Sollten das am Ende die Polen sein, von denen gestern abend die Rede gewesen war, die den Gutshof beschossen? Annemarie wagte sich ein paar Schritte weiter zum Fenster hin.
Da aber sprang sie mit einem entsetzten Schrei zurück.
Die Fensterläden waren plötzlich aufgeflogen – »eine Bombe – eine Bombe!« Annemarie hielt sich ihre blutende Nase, gegen welche die Bombe gesaust war.
Unten hörte man lautes Lachen. Das war doch der Peter …
Ein blonder Struwwelkopf mit angstvoll aufgerissenen Blauaugen und blutender Nase wurde einen Augenblick am Fenster des Giebelstübchens sichtbar. »Peter – Peterchen – sie schießen – die Polen bombardieren das Haus!« Zweistimmiges Gelächter übertönte jeden weiteren Hilferuf des Backfisches. Die Vettern hielten sich unten den Bauch vor Lachen.
»Laß dich nur nicht von den Polen totschießen, Annemie.« Das klang doch gar nicht so gefährlich, Annemarie nahm das furchtbare Geschoß, das ihre Nase verwundet hatte, näher in Augenschein: Ein harmloses grasgrünes Apfelchen war’s.
»Verflixte Bengel!« Im Nu hatte es Annemarie jetzt erfaßt, daß die Vettern sie zum besten gehabt hatten. Na, wartet nur! Die Wasserkaraffe ergreifen und ihren Inhalt über die noch immer unten Lachenden in kaltem Strahl herabbrausen lassen, das war eins.
»Kleine Kröte!« Die beiden lachten jetzt nicht mehr. Wie begossene Pudel schlichen sie davon. Jetzt war es Annemarie, die hinter ihnen herlachte: »Für den Fall, daß die Polen das Gut anzünden, wollte ich gleich löschen.«
Die Sonne brannte bereits heiß auf den Gutshof, als ein allerliebstes Bauernmädel, im schwarzgeblümten Kleid und rosenroten Brusttuch am Frühstückstisch erschien. Vier Uhr war sicher schon längst vorbei. Aber daß es bereits auf zehn ging, ahnte Annemarie zum Glück nicht. Denn sie hatte in ihrer gestrigen Reisemüdigkeit vergessen, ihre Uhr aufzuziehen.
Herbert lag mit einem Buch in dem Liegestuhl unter dem Nußbaum. Er war inzwischen wieder getrocknet.
»Gesegnete Mahlzeit, Annemie,« begrüßte er sie. »Willst du wirklich noch Kaffee trinken? Wir essen gleich Mittagbrot.«
»Wie – was? Wie spät ist es denn?«
»Dreiviertel zwölf. Schade, daß die polnische Bombe dich aus deinem Dornröschenschlaf geweckt hat. Du wärst am Ende erst bei deiner Abreise wieder aufgewacht.«
»Dann hättet ihr ja auf eure Morgendusche verzichten müssen.« Annemarie ließ sich die fette Milch, goldgelbe Butter und Honig zu dem kräftigen Landbrot schmecken. Mit den Herren Vettern wollte sie’s schon aufnehmen.
Etwas beschämend war es immerhin, daß sie als Stadtmädel so in den Tag hineingeschlafen hatte. Denn wenn auch Herbert sicher schwindelte, früh war es keineswegs mehr. Mittagsdunst begann bereits die Klarheit des Hochsommermorgens abzulösen.
Tante Käthchen in ihrem Wirtschaftsreich aufzustöbern, war nicht so einfach. Annemarie lugte in den warmen Kuhstall. Da brummte es satt und zufrieden, schlug mit der Schwanzquaste nach surrenden Fliegen und glotzte erstaunt auf das allerliebste Bauernmädel. Die Stalluft war nichts weniger als erquickend. »Komisch, daß die Leute immer behaupten, Kuhstalluft sei gesund,« dachte Annemarie, die Nase rümpfend. »Ich finde sie ähnlich, wie bei unserer Landpartie mit der Berliner Abfuhrgesellschaft.«
Tante Käthchen war jedenfalls nicht hier im Stall. Denn wenn die junge Großstädterin sich auch nicht allzu weit hineinwagte – solche Kuh war unzurechnungsfähig, die konnte plötzlich mit einem der vier Beine ausschlagen – so ließ sich der Stall auch vom Eingang her ziemlich übersehen. Hoffentlich brauchte sie hier nicht etwa beim Melken zu helfen – das überlebte sie nicht.
Auch nebenan in der Kälberkinderstube fand sich Tante Käthchen nicht. Hier gefiel es Annemarie schon besser. Die unbeholfenen Sprünge der weichen, zarten Tierchen machten ihr Spaß. Die Hofleute schienen alle auf dem Felde bei der Ernte zu sein. Nirgends ließ sich jemand blicken. Erst bei den Schafställen tauchte der grausträhnige Kopf des alten August auf.
Annemarie war ordentlich froh, ein menschliches Wesen wieder zu erblicken.
»Guten Morgen, August, haben Sie nicht meine Tante irgendwo gesehen?«
»Nu jo, jo, nee, nee – nu jo, jo, nee, nee,« begann August in seiner schönsten schlesischen Mundart. »De Frau mecht woll halt im Obstgarten stecken tun, und Bären klauben.«
»Bären haben Sie jetzt hier auf dem Gut?« Der jungen Berlinerin begann es ungemütlich zu werden.
»Nu halt die Johannisbären, die sein jetzt gerade reif.«
Annemarie biß sich auf die Lippen, um nicht laut loszuplatzen. Gut, daß die Vettern das nicht gehört hatten.
»Au, da muß ich dabei sein, Johannisbären esse ich für mein Leben gern.« Annemarie war noch rangenhaft genug, dem biederen Alten seine Bären nachzumachen.
»Nu,