Else Ury

Die beliebtesten Jungmädelgeschichten von Else Ury


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ich denn sonst wohnen?« Lenchen riß ihre blauen Augen erstaunt auf.

      »Na, in einem richtigen Hause mit Treppen«, belehrte sie das Landkind.

      »Unser Schiff hat auch eine Treppe!« Stolz wies das Flachsköpfchen auf die kleine Stiege, die zum Wohnraum hinabführte.

      Ach richtig – nein, war das niedlich – wie eine Puppenwohnung kam Annemie alles vor. »Habt ihr denn auch einen Portier?« erkundigte sie sich.

      »Einen Port – tjeh?« Lenchen stotterte etwas bei dem Wort, sie hatte es noch niemals gehört. »Meinst du vielleicht ein Portemonnaie?«

      »Aber nein,« lachte Annemie, »weißt du nicht mal, was ein Portier ist? Denn weißt du wohl auch gar nicht, was ein Kaiser ist?«

      »Doch«, Lenchen nickte, daß die abstehenden Zöpfchen zum Himmel flogen. Den Kaiser kannte sie.

      »Na ja, also ein Portier ist sowas Ähnliches, der bewacht das Haus, daß kein Dieb rein kommt«, belehrte sie Annemie.

      »Ach, nun weiß ich« – das Schiffer-Lenchen sprang vor Freude in die Höhe, und die kleinen Holzpantinen klappten dazu ganz wundervoll – »solchen Portier, der das Schiff vor Dieben bewacht, haben wir auch, aber bei uns heißt er ›Karo‹.« Als ob sie ihn gerufen hätte, erschien plötzlich ein gelbes Hündchen neben Lenchen.

      Annemie wollte sich ausschütten vor Lachen.

      »Ein Hund ist doch im Leben kein Portier!« stieß sie, immer von neuem lachend, hervor. »Wir haben auch einen Hund, Puck heißt er, und sechs Puppen habe ich, hast du auch welche?«

      Natürlich hatte Lenchen auch eine Puppe. Sie lief gleich mit klappernden Pantinen hinab, um sie Annemie zu holen. Aber bis sie ihre Puppe vorgekramt hatte, kam Fräulein und nahm Nesthäkchen an die Hand, um weiterzugehen. Nur aus der Ferne konnte Annemie dem kleinen Rotröckchen noch einen Gruß zuwinken.

      »Ich habe eine neue Freundin, Lenchen heißt sie und wohnt auf einem richtigen Schiff!« Es gab keinen in der ganzen Wohnung, dem Annemie diese wichtige Neuigkeit nicht mitteilte. Sogar Puck und Mätzchen mußten davon Kenntnis nehmen.

      Klaus interessierte sich sehr für die Sache, er hatte viele Schulfreunde, aber leider wohnte kein einziger auf einem Schiff.

      »Vater, wenn du ein Schiffer wärst, hätte ich dich noch mal so lieb!« sagte Nesthäkchen beim Gutenachtkuß.

      »Aber Lotte, was soll denn das heißen?«

      »Ja, dann brauchte ich jetzt nicht in die olle Kinderstube und könnte wie Lenchen in der niedlichen Stube auf dem Wasser schlafen.«

      »Na, wir können ja tauschen, Lenchens Vater und ich, er macht meine Kranken gesund, und ich rudere sein Schiff; das würde dir so gefallen, was, Lotte?« lachte Doktor Braun.

      Am nächsten Tage kam Puppe Gerda mit in den Tiergarten, um dem Schiffer-Lenchen vorgestellt zu werden. Denn Annemie hatte am frühen Morgen noch kaum die Augen geöffnet, da quälte sie ihr Fräulein auch schon: »Nicht wahr, wir gehen doch heute wieder zu Lenchen?«

      Als sie in die Uferpromenade einbogen, leuchtete Lenchens rotes Röckchen ihnen schon entgegen. Sie schien auf ihre neue kleine Freundin bereits gewartet zu haben.

      »Fräulein, liebstes, bestes Fräulein, setze dich doch, bitte, auf die Bank,« bat Annemie, »daß ich mich mit Lenchen wieder unterhalten kann.«

      »Auf der Bank ist’s zu sonnig, da kriegt man einen Sonnenstich«, meinte Fräulein unschlüssig.

      »Ach, das schadet doch gar nichts, wenn du auch einen Sonnenstich kriegst, Fräulein«; treuherzig sah die Kleine sie an. »Ich hatte doch auch neulich so viele Mückenstiche, Sonnenstiche werden auch nicht mehr jucken«, sie wies ihre nackten Ärmchen.

      Fräulein lachte.

      »Wenn du mir versprichst, Annemie, ganz brav zu sein und nicht etwa über das Gitter zu klettern, dann will ich mich hier in den schattigen Seitenweg setzen.«

      »Aber wie werde ich denn über das Gitter klettern, Fräulein, dann kommt doch der Wächter und bringt mich zur Polizei«, flüsterte Annemie in scheuer Ehrfurcht.

      Da wußte Fräulein, daß sie ganz beruhigt sein konnte, denn vor dem Tiergartenwächter hatte die Kleine eine Heidenangst.

      Annemie durfte ihre Freundschaft mit dem Schiffer-Lenchen fortsetzen.

      Diesmal kam auch die Mutter der Kleinen zum Vorschein. Sie hatte ebenso schöne Holzpantinen wie Lenchen, und hing Wäsche auf dem Schiffe auf; das sah drollig aus. Dann ging sie wieder in die kleine Küche, die neben dem Wohnraum lag. Der Rauch, der bald darauf aus dem dünnen Schornstein lustig zum Himmel aufwirbelte, verriet, daß sie für Lenchen Mittag kochte.

      Inzwischen hatten sich die kleinen Mädchen gegenseitig ihre Puppen gezeigt. Lenchen sah voll Bewunderung auf die feine Gerda, die heute ein rosenrotes Kleidchen trug. Diese aber blickte sehr stolz und von oben herab auf das armselige Püppchen des Schifferkindes.

      So ’ne olle Rike – die hatte ja nicht mal Haare, sondern eine schwarze, angemalte Porzellantolle, und ein anständiges Kleid schien sie auch nicht zu besitzen – bloß so ’n olles, zerlumptes Kattunkleid, da war sie doch viel feiner!

      Ihre kleine Mama Annemie aber war viel netter und viel weniger stolz als die hoffärtige Gerda. Die fragte freundlich: »Wie heißt denn deine Kleine, Lenchen?«

      Und als sie hörte, daß Lenchens Puppe Gustel hieß und vom Jahrmarkt in Oderberg stammte, sagte sie: »Siehst du, die ist schon mehr in der Welt herumgekommen als du, Gerda.«

      Da schämte sich Puppe Gerda ihres dummen Stolzes und blickte neugierig auf die weitgereiste Gustel mit der schwarzen Porzellantolle.

      Dann fütterten Annemie und Lenchen gemeinsam die Entchen, und die Ente aus bunten Puppenlappen fraß den anderen wieder das meiste fort.

      Annemie hatte heute Kirschen mit zum Frühstück. Lenchen machte begehrliche Augen, als sie sich zwei wunderschöne, dunkelrote Zwillingskirschen als Ohrringe über jedes Ohr hing.

      »Möchtest du auch welche?« fragte Annemie gutherzig.

      Lenchen nickte.

      Da warf Annemie eine Kirsche vom Ufer aus das Schiff zu.

      Bautz – die flog in die Grasböschung. Ein frecher Spatz holte sie sich.

      Aber die zweite Kirsche, die Annemie mit aller Kraft schleuderte, traf schon besser ihr Ziel. Lenchen fing sie jubelnd in ihrer kleinen, blauen Küchenschürze auf.

      Das gab ein lustiges Spiel. Eine Kirsche Annemie, eine Lenchen, bis die Tüte zu Ende war. Dazwischen aber lief Klein-Annemie alle paar Minuten zu dem Seitenweg, um Fräulein zu zeigen, daß sie auch noch da war.

      So sahen sich Annemie und das Schiffer-Lenchen fast jeden Tag, und immer mehr freuten sie sich aufeinander. Auch die Puppen hatten inzwischen Freundschaft geschlossen.

      Da sagte eines Tages Lenchen, als Annemie wieder an dem Ufer erschien, während Fräulein im Seitenweg Platz nahm, ganz traurig: »Heute geht es retour.«

      »Retour – wo liegt denn das?« fragte Annemie und dachte nach.

      Diesmal lachte Lenchen ihre kleine Freundin aus. »Retour, das ist doch nach Oderberg bei Großmuttern.«

      »Wann fahrt ihr denn?« Annemie machte ein erschrockenes Gesichtchen.

      »Bald, vielleicht schon gleich, Vater macht ja schon los.«

      Richtig, auf dem Schiff ließ sich ein lebhaftes Hin und Her bemerken.

      »Kommst du bald wieder, Lenchen?« Annemie fühlte zum erstenmal in ihrem jungen Leben, wie traurig Abschied nehmen ist.

      »Ich weiß nicht«; Lenchen sah ebenfalls betrübt auf die kleine Freundin.

      »Ich möchte dir so gern was schenken, wenigstens einen Kuß, aber wir können ja nicht zueinander.« Annemie warf zärtlich Lenchen eine Kußhand zu.