die Puppe hatte sich zu früh gefreut.
Als sie jetzt alle drei einträchtig miteinander aus dem Fenster schauten, fragte Klaus, dem die Äcker und Wälder allmählich langweilig wurden, das Schwesterchen mit treuherzigem Gesicht: »Du, Annemie, wollen wir mal ›Wind‹ spielen?«
»Au ja, Kläuschen!« Auch Annemie hatte nun genug von den Wiesen und Feldern, die alle ziemlich gleich aussahen.
»Hui« – machte Klaus pfeifend, und noch einmal »hui« – da flog Puppe Gerdas Strohhütchen aus dem Fenster mitten in den roten Mohn hinein.
»Mein Hütchen – mein schöner Hut!« schrie Gerda, oder war es Annemie gewesen? »Der Zug soll halten, du sollst nicht weiterfahren, du oller Zug!« Bitterlich weinte die Kleine.
Die Eisenbahn aber ratterte weiter, unbekümmert um Annemies und Gerdas Jammer – ratteratta – ratteratta – puff – puff – puff – ratteratta – immer weiter. Und es hörte sich sogar an, als ob sie Klein-Annemie noch obendrein auslachte. Oder war das etwa der ungezogene Klaus, der sich ins Fäustchen lachte?
Als Fräulein ihn ausschalt, hatte er noch einen großen Mund: »Was plärrt denn das dumme Ding, sie hat doch selbst gewollt, daß wir Wind spielen!«
Aber da Fräulein mit ernstem Gesicht sagte: »Du, es geht heute noch ein Brief an Mutti ab, Klaus«, da wurde er recht kleinlaut und mit einemmal wieder ein wahrer Musterknabe.
Gerda bekam eine Zipfelmütze aus Nesthäkchens Taschentuch, weil sie doch unmöglich ohne Hut nach Arnsdorf kommen konnte. Was hätten wohl die Kühe dazu gesagt!
Annemie aber beschäftigte sich jetzt damit, eine in der Ecke sitzende Dame angelegentlich zu betrachten, welche die Augen geschlossen hatte.
»Die Tante schläft!« teilte sie Fräulein mit lauter Stimme mit.
»Stst« – machte Fräulein und legte mahnend den Finger auf den Mund.
Die Dame bewegte sich unruhig, machte aber die Augen nicht auf.
»Die Tante schläft noch immer«, erklang es nach einem Weilchen zwar etwas gedämpfter, aber doch noch so laut, daß Fräulein aufs neue den Finger auf den Mund legen mußte.
Die Schlafende hatte jetzt ihre Lippen geöffnet, sanfte Schnarchtöne entquollen ihnen.
»Chch – chchch – chchchch – pfff – pfff –« das klang beinahe so schön wie die Eisenbahnmusik.
»Die Tante schnarcht!« flüsterte Nesthäkchen in heller Begeisterung.
Aber als jetzt ein ganz besonderes grunzendes chchch – chchchch – pff – pfff – einsetzte und der Zug auch gerade dazu »ratteratta – puff – puff« – machte, da sahen sich Klaus und Annemie zuerst erschrocken an, und dann lachten sie plötzlich beide laut los.
Die Dame fuhr zusammen und riß die Augen auf.
»Seht ihr, nun habt ihr die Dame gestört,« sagte Fräulein ärgerlich, »verzeihen Sie, gnädige Frau.«
»Das macht ja nichts«, lächelte die Dame freundlich und schloß aufs neue die Augen.
»Weißt du was, Annemiechen, schlafe du auch ein bißchen«, schlug Fräulein vor und nahm Nesthäkchen, das sich die Augen rieb, auf den Schoß.
»Nein, ich kann nicht schlafen, sonst kommt der alte Wind wieder und weht am Ende meine Gerda aus dem Fenster.« Die Kleine warf einen vielsagenden Blick auf den gerade mit Großmamas Bonbonkorb liebäugelnden Klaus.
»Ich passe schon auf«, beruhigte Fräulein das von der Reise ermüdete Kind. Da klappten Annemies Augenlider zu, und nach einem Weilchen auch die von Fräulein. Nur Puppe Gerda schlief nicht, die saß aufrecht in ihrer Ecke und hielt Wache.
Da sah sie denn, wie der unnütze Klaus vorsichtig die Goldschnur von dem Bonbonkörbchen, das Großmama doch ihr geschenkt hatte, löste, und einen Bonbon nach dem andern in seinen Mund spazieren ließ.
»Du, der maust mir meine Bonbons!« Weinerlich zupfte die Puppe ihre schlafende kleine Mama an dem einen Rattenschwänzchen.
Annemie fuhr erschreckt hoch, wie vorhin die Dame, und weckte weinend Fräulein.
Klaus bekam einen Klaps auf die Hände und Annemie ein Stück Schokolade von der Dame, die inzwischen ausgeschlafen hatte.
Und nun war man auch gleich da. Endlich! Fräulein setzte Annemie das Hütchen auf, und Annemie zog Gerda ihre Zipfelmütze kleidsamer.
Der Zug hielt. Onkel Heinrich stand aus dem Bahnsteig und hob Annemie und Gerda mit lachendem »Na, du Dreikäsehoch, bist du da?!« aus dem Abteil. Dann gab er Klaus einen zärtlichen Nasenstüber: »Immer noch solch Bandit wie früher, Junge?« und nahm Fräulein die Reisetasche ab.
Nun ging es zu dem Wagen. Denn man hatte noch über eine Stunde bis zum Gut Arnsdorf zu fahren. Auf dem Bock saß stramm in seinem blauen Rock mit blanken Knöpfen August, der Kutscher, und legte die Hand an die Mütze.
Nesthäkchen knickste in tiefer Ehrfurcht vor ihm. Der sah ja noch viel vornehmer aus als ihr Portier in Berlin. Klaus aber klopfte die beiden Braunen, an die Klein-Annemie sich nicht recht herantraute, freundschaftlich auf den Rücken, schwang sich zu dem feinen August auf den Bock und bettelte ihm seine Peitsche ab. Damit knallte er lustig, während der Wagen den Landweg entlang holperte.
»Siehst du, Kleinchen, das ist eine Windmühle, da mahlt der Müller sein Korn, und von dem Grasberg dort kann man fein heruntertrudeln. Dies hier sind schon unsere Wiesen, da fahren wir nächstens ins Heu«, unterhielt Onkel Heinrich sein kleines Nichtchen, das er liebevoll auf den Schoß genommen.
Aber als das Plappermäulchen zu all den verlockenden Aussichten schwieg, und Fräulein ihm lächelnd zuwinkte, da sah sich Onkel die Annemie näher an.
Holla – das Fräuleinchen schlief ja. Den Blondkopf hatte es fest an Onkels Ärmel eingekuschelt, die Bäckchen waren gerötet und das Mündchen leis geöffnet. Die lange Reise hatte die Kleine allzusehr ermüdet. Auch Puppe Gerda hatte die Augen zugeklappt. Fest schlafend, so hielten die beiden kleinen Reisenden ihren Einzug in Arnsdorf.
14. Kapitel
Kikeriki – der Hahn ist schon wach
Über die taufrischen Wiesen von Arnsdorf kam der Morgenwind daher. Er schaute in den Gutshof hinein, dort lag noch alles in tiefstem Schlaf. Nur der goldrote Hahn, der auf dem Misthaufen schlief, machte ein halbes Auge auf und blinzelte den Morgenwind verschlafen an. Da pustete ihn dieser übermütig ins Gesicht, daß er sogleich beide Augen aufriß und mit den goldroten Flügeln schlug.
Dann aber erklang es plötzlich in den höchsten Tönen »Kikeriki – kikeriki« – dabei kniff der Hahn die Augen wieder zu, denn er konnte sein Lied schon auswendig.
»So, den Langschläfer hätten wir geweckt«, dachte der Morgenwind und klirrte gegen die Fensterscheibe des Fremdenzimmers, das nach dem Hofe zu lag.
Da drinnen bewegte es sich. Ein Kinderbeinchen streckte sich zum Himmel empor und verschwand dann wieder unter der Decke.
Der Morgenwind machte ein erstauntes Gesicht. Nanu, wer lag denn heute da drin im Kinderbettchen?
Ein fremdes, kleines Mädchen und eine fremde Puppe, die er noch niemals hier auf dem Gute gesehen hatte. Das Gesicht hatte die Kleine noch tief in den Kissen vergraben.
Aber das Wecken verstand der Morgenwind, das war ja sein Amt hier aus dem Gut. Er nahm eine Weidenranke, die da gerade an der Mauer hing und schlug damit lustig gegen die Fensterscheibe.
Das fremde, kleine Mädchen steckte das zweite Beinchen heraus und die Ärmchen dazu, aber es schlief weiter.
Da gab der Morgenwind seinem Freund, dem Hahn, ein Zeichen, und der ließ sich nicht lange bitten. Aufs neue erklang