– dazu habe ich es im Schweiße meines Angesichtes bis hierher geschleppt? Ich habe mich ja bei keinem beklagt. Laßt mir doch mein Vergnügen.«
»Ein Vergnügen eigener Art – willst du meinen Rucksack vielleicht auch noch tragen, wenn es dir solch Vergnügen macht?« zog sie Ilse auf.
»I schlag’ halt vor, mer arranschiere eine Teilung«, erhob die Viehmuse die Stimme. »Acht luscht’ge Schwabe sein mer, übertreffe sogar noch das Grimmsche Märchen. Die Herre nehme halt jeder zwei Pfund in ihr Säckle, die Dame nur a halbes. Ha’ mer ‘sch.«
»Das wäre ein ganz guter Gedanke, wenn in dieser Buschwildnis eine Waage und Tüten zu haben wären«, wurde er ausgelacht.
»Vielleicht drobe.« Er wies zum Schloß, das mit seinen hohen Türmen und Zinnen näher und näher rückte, empor.
»Drobe« gab’s eine Steinbüste des Dichters Hauff, der die Burg durch seine Erzählung »Lichtenstein« allgemein vertraut gemacht hat. Da gab’s eine Pyramide, an welcher die verschiedenen Erdschichten der Alb mit ihren eigenartigen Versteinerungen deutlich erkennbar waren, und welche großes Interesse bei den Wanderern auslöste. Nur Ilse und Annemarie fanden sie gräßlich mopsig. Da gab’s eine Zugbrücke, über die Georg von Sturmfeder einst seinen Einzug gehalten. Söller und Luginsland, aus denen das schöne Fräulein Marie ins Schwabenland hinabgeschaut. Saure Milch gab’s da im Jagdhäusle nebenan und »arg guten Zwetschgekuche«. Auch eine Küchenwaage und leere Tüten brachte die nette Frau Wirtin herbei.
Aber Nesthäkchen war wirklich eigensinnig. Es ließ sich sein Mehl nicht abnehmen. Unmöglich könnte man der Frau die saubergehaltene Putzstube mit dem Mehl verstauben. Annemarie bekam plötzlich Anwandlungen von Ordnungssinn. Und überhaupt, hatte sie den schweren Rucksack bis hierher getragen, konnte sie’s auch weiter. Jetzt ging es ja bergab.
Die Sonne hatte sich inzwischen verkrochen. Wolken ballten sich dick zusammen. Von Ost und West, aus allen Himmelsrichtungen zog es dick, düster und unheilverkündend herauf.
»‘sch gibt halt a Wetter«, meinte die Wirtin. »Die Herrschafte sollte’s halt abwarte.«
»Unmöglich, wir wollen den Mittagszug erreichen. Oder aber, wir müssen auf den Besuch der Nebelhöhle verzichten«, überlegte der Referendar.
»Was – die Nebelhöhle nicht besichtigen, in der Ulrich von Württemberg als Geächteter verborgen gelebt hat? Ja, bist du denn ganz und gar hops, Hänschen? Das wäre ja in Rom gewesen und den Papst nicht gesehen«, regte sich Nesthäkchen auf.
»Wie weit ist’s bis zur Nebelhöhle?«
»A guete halbe Stund’, wenn’sch zugehe.«
»Ich glaub’, wir können’s halt noch wagen«, meinte Rudolf, sich auf Annemaries Seite schlagend. »Ich denk’, es kommt noch nit so schnell herauf. Schlimmstenfalls spielen wir Herzog von Württemberg und warten das Wetter in der Höhle ab.«
Ilse Hermann machte angstvolle Augen. Ein Gewitter war ihr an und für sich recht unbehaglich, und nun noch dazu in einer Höhle. »Ist’s denn wirklich so sehenswürdig?« fragte sie, zaghaft in die dicken, weißgrauen Wolkenschwaden lugend.
»Angstmeier! Wenn du feige bist, gehe doch den direkten Weg nach Honau zurück. Wir treffen uns dann am Bahnhof«, machte Annemarie sie herunter.
»Allein? Bei Blitz und Donner? Da bedank’ ich mich schön!« Ilse zog es doch vor, sich der Karawane anzuschließen.
Siedend heiß stand die Luft. Unbeweglich. Kein Lüftchen wehte. Kein Blatt erzitterte. Kein Vogellaut. Es war, als ob die Natur den Atem anhielte. Man schritt tapfer zu. Hinter ihnen her jagte das schwarze Wolkenungetüm, ein Stückchen Himmelsblau nach dem andern verschlingend.
Dumpf begann es in der Ferne zu grollen. Ilse nahm den Arm der Cousine. Sie traten aus dem Walde auf eine Lichtung hinaus. Da packte sie ein Wirbelwind, der sich plötzlich aufgemacht hatte. Dicke Staubwolken jagte er empor, daß man kaum die Augen zu öffnen vermochte. Mit den ersten schweren Regentropfen standen sie am Eingang der Höhle.
Drei kleine Büble, die Führer in die Unterwelt, hatten unter einem weitvorspringenden Fels Unterschlupf gesucht. Eifrig kamen sie herbei, schlossen den Zugang auf und entzündeten ihre Kienfackeln. Feuchte Moderluft schlug den Eintretenden entgegen. Gespenstisch herumirrende Lichter warfen die Fackeln in die schwarze Finsternis.
»Wollen wir da wirklich hinunter?« Ilse fand die gewitterschwere Dunkelheit draußen immer noch weniger beängstigend, als den schwarzen Schlund da unten, der ihnen entgegengähnte. Annemarie zog sie energisch mit sich.
Feuchtglitschrige Stufen, vermorschte Bretter in Morast gelegt. Von den Wänden und der niedrigen Felsdecke sickerte in gleichmäßigem Tropfenfall das Wasser hernieder. Ilse schrie auf. Gerade auf ihre Nase war es herabgetropft.
»Kann einem denn hier nichts geschehen, kann man sich hier nicht den Fuß brechen?« erkundigte sie sich vorsichtig bei einem der kleinen, wenig vertrauenerweckenden Führer. Sie hatte noch genug von der nächtlichen Rutschpartie.
»Freili«, beruhigte der sie, »i bin selbscht schon amal g’falle und hab’ mi wüscht zerschunde.« Das war ja ein recht netter Trost.
Durch ein Labyrinth von unterirdischen Gängen ging es.
»Wenigstens ein bombensicherer Fliegerunterstand«, scherzte Hans.
»Hoffentlich auch vor Donner und Blitz!« meinte Ilse inbrünstig. Unausgesetzt hörte man dumpfes Rollen und Krachen, als ob vulkanische Kräfte im Berg ihr Unwesen trieben.
Prachtvolle Tropfsteingebilde leuchteten und glimmerten aus der Dunkelheit.
»Wie in den römischen Katakomben, dieses Gewirr von Gängen; hoffentlich finden wir wieder zum Ausgang zurück.« Marlenes Worte ließen Ilses Hasenherz noch heftiger schlagen. Wenn die kleinen Buben nicht wieder zurückfanden!
Der Gang verbreiterte sich.
»Hier ischt halt d’ Kanzel, dort drübe, das ischt der Bismarck«, erklärte der größte Hosenmatz.
»Auch hier bereits alles auf den Fremdenverkehr zug’schnitten«, sagte Rudolf mißbilligend. »Ich glaub’ nit, daß der Bismarck hier unten schon zu Ulrich von Württembergs Zeiten historisch war.«
Immer tiefer in den Berg hinein. Ja, hier war der Geächtete sicher gewesen vor den Spürhunden seiner Verfolger. Tropfsteine bildeten eine Grotte. Man stand am Ende der Höhle.
»Das ischt halt der Stuhl und der Tisch, an dem der Herzog gesesse ischt.« Das Büblein wies auf einen größeren und einen kleineren flachen Felsstein. »Hierher hat ihm sein G’treuer, der Pfeifer von der Hardt, der die Nebelhöhle entdeckt hat, heimlich des Nachts Speis’ und Trank zug’trage.« Es klang so eintönig, als ob das Büble das Vaterunser herbetete.
Stumm blickten die Besucher auf den unwirtlichen Ort, an dem Württembergs Herzog dereinst Tag und Nacht in schwarzer Finsternis lebendig begraben gewesen. Alles Scherzen, alles Witzeln verging den sonst so Lustigen vor dem Ernst der Geschichte, die an dieser schaurigen Stätte aus der unheimlichen Stille heraus zu ihnen sprach.
Die Fackeln leuchteten zurück. »Hier ischt ein See, der ischt arg tief, wer da hineinfalle tut, kommt nimmer wieder.« Das Büble wies auf ein schwarzes, von Felsen umstandenes Loch. Aus dem Gestein blitzte und funkelte es wie Diamanten.
Nesthäkchen, fürwitzig und keck, mußte unbedingt hineinschauen in die Tiefe. Der feuchte Boden war glitscherig. Annemaries Fuß fand keinen Widerstand. Sie kam ins Rutschen. Sie wollte schreien – aber die Stimme versagte ihr vor Entsetzen – Barmherziger – ging es jetzt hinunter in die entsetzliche Tiefe?
Starke Arme packten sie und rissen sie empor.
»Annemarie, um Gottes willen, haben Sie sich verletzt?« Das war Rudolf Hartensteins erschreckte Stimme.
Annemarie vermochte nichts zu antworten. Sie wußte nichts davon, daß Rudolfs Arme sie noch immer umschlungen hielten, daß sie den Kopf an seine Schulter lehnte.