ermatteten Wanderer wachsen. Der fragt nicht danach, wer die Pflaumen pflückt – – –«
»Aber der Pächter um so mehr!« Wie aus der Erde gewachsen stand plötzlich ein zorngeröteter Mann, eine Sense in der Hand, vor ihnen. »So, jetzt kommen’s halt mit zum Herrn Ortsvorstand, meine Zwetschge, die solle’s mir bezahle.«
»Das wollen wir halt gern, lieber Mann«, begütigte ihn Rudolf, der sah, daß Annemarie, trotz all ihrer Unverfrorenheit, erschreckte Augen machte. »Drei Pfund, mehr sind’s gewiß nit gewesen. Was verlangen Sie dafür?«
»Halt dreißig Mark.«
»Was? Na, Sie sind billig!« lachte jetzt auch Hans. »Zehn Mark das Pfund Pflaumen, das geht ja noch über Schieberpreise.«
»Dreißig Mark Buß’ koscht’s, wenn eins von fremde Obstbäum’ halt’ was pflücke tut. Kommen’s nur mit zum Herrn Ortsvorstand, der wird’s Ihna scho’ weise.« Es half nichts. Nicht einmal Neumanns Zigarren verfingen hier. Sie mußten bei der Sonnenglut den fast zweistündigen Weg zum Dorf wieder zurückmarschieren, den sie soeben gekommen.
Die Damen stöhnten. Nesthäkchen wütete. Hans räsonierte auf die Schwester, die ihnen die ganze Suppe eingebrockt hatte. Rudolf besänftigte. Neumann machte betrübte Augen, und Viehmuse zog das Büchlein hervor: »So – das wär’ halt der fünfte Schwabestreich, Neschthäkche.«
Diesmal mußte Doktors Nesthäkchen daran glauben. Oder vielmehr der Bruder Hans. Denn die Barschaft der Schwester reichte nicht so weit. Trotz aller Beredsamkeit des preußischen Referendars, trotz Rudolfs und der beiden Schwaben Fürsprache wurde die Studentin Fräulein Annemarie Braun aus Tübingen dazu verurteilt, die Buße von dreißig Mark zu zahlen.
Das waren teure Pflaumen. Sie lagen Nesthäkchen so schwer im Magen, daß sie fürs erste keine Pflaumen wieder essen mochte.
Doch nicht lange, so war der Ärger verflogen, und nur die Neckereien und Witze, mit denen man Annemarie reichlich bedachte, erinnerten noch an das kleine Mißgeschick.
In froher Laune marschierte die fidele Gesellschaft an der sprudelnden blauen Donau dahin. Doktors Nesthäkchen mit der Laute stets voran. Aber Annemarie, sonst von unverwüstlichem Frohsinn, war nicht gleichmäßig in ihren Stimmungen. Bald die ausgelassenste von allen, bald ungewöhnlich nachdenklich und in sich gekehrt. Besonders in ihrem Verhalten Rudolf Hartenstein gegenüber kam dies zum Ausdruck.
»Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt.
Glücklich allein ischt die Seele, die liebt«.
deklamierte Neumann elegisch. Er ahnte nicht, wie sehr er bei Annemarie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
Nach Möglichkeit vermied Annemarie ein Alleinsein mit Rudolf. Der tat, als merke er es gar nicht, daß sie ihm geflissentlich aus dem Wege ging. Wenn er sie trotzdem mal allein erwischte, duzte er sie mit liebevoller Selbstverständlichkeit.
»Ich bin kein ›Du‹, ich bin ›Sie‹ für Sie«, hatte Annemarie ihm empört das erstemal geantwortet.
»Ja, was, bin denn ich schlechter als die Viehmus’ und das Karpfenaug’? Darfst halt auch zu mir ›du‹ sagen und ›Rudi‹. Ich mein’, wir trinken ganz offiziell Brüderschaft, gelt, Herzle?«
»Niemals!« Nein, nie würde sie es fertig bringen, das harmlos kameradschaftliche »Du«, das ihr den jungen Studenten gegenüber so leicht über die Lippen gegangen, bei Rudolf zu gebrauchen.
»Nimmer? Schau, Herzle, wenn ich dir alles glaub’, das halt nit«, lachte sie Rudi belustigt aus.
»›Herzle‹ verbitt ich mir. Ich mag diese Vertraulichkeit nicht«, bullerte Nesthäkchen los.
»So–o?« sagte Rudolf und nichts weiter.
An diesem Tage war die lebhafte Annemarie ganz besonders still. Sie mußte es ihm sagen, daß sie niemals seine Frau werden konnte. Daß sie Vaters Assistentin werden, und er seiner Schwester das ersehnte Heim schaffen müsse. Warum zögerte sie denn? Seit Tagen wollte sie doch schon offen mit Rudolf sprechen. Und stets verschob sie es wieder.
Weil’s gar so weh tat da drin in der Brust, darum hatte sie es bis jetzt immer wieder hinausgeschoben. Und weil sie wußte, daß sie ihm ganz genau so weh damit tun würde. Aber feige war Doktors Nesthäkchen noch nie gewesen. Es mußte sein – also bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit!
Man legte das letzte Stück Weges nach Ulm mit der Bahn zurück.
Rudolf, der sich heute scheinbar um Annemarie gar nicht kümmerte, mußte immer wieder seinen Blick über den zwischen ihnen sitzenden Neumann hinweg zu der mit ernsten Blauaugen in die verschwimmende Abendlandschaft Hinausstarrenden wandern lassen.
Armes Dingle, wie es sich um nix und wieder nix quält, dachte er mitleidig. Seine Hand begann die Annemaries, die aus der Banklehne lag, sanft zu streicheln.
Ein Weilchen ließ die Hand es sich gefallen. Das Streicheln ging in einen zarten Druck über. Da entzog sie sich ihm. »Was wollen’s denn halt immer von meiner Hand, Doktor?« verwunderte sich Neumann, die Karpfenaugen zu dem aus der Glasglocke trübe herabblinzelnden Gasflämmchen elegisch emporschlagend. Rudolf Hartenstein biß sich auf die Lippen und wurde rot.
Annemarie aber platzte plötzlich mit hellem Lachen heraus. Sie hatte den Irrtum durchschaut. Ihr niedergehaltener Übermut brach sich impulsiv wieder Bahn. Die andern, welche von dem Intermezzo nichts gemerkt hatten, bestürmten sie mit neugierigen Fragen. Aber die Beteiligten verrieten nichts. Auch Neumann war nett genug, reinen Mund zu halten.
Ulm – Annemarie konnte es kaum erwarten, bis der Zug hielt. Jetzt plötzlich, wo das Wiedersehen mit den Eltern näher und näher rückte, fühlte sie es erst, wie sehr sie sich, wenn auch unbewußt, nach Vater und Mutter gebangt hatte. Oder war das Neue, das seit der Nebelhöhle über sie gekommen und ihr die kindlichfrohe Unbefangenheit genommen hatte, schuld daran? Daß sie sich danach sehnte, sich wieder an Vaters Brust zu schmiegen, sich von Mutters Zärtlichkeit umsorgt zu fühlen, als sei dies der Hafen, in dem kein Sturm und keine Unruhe ihr etwas anhaben könne.
Doktor Brauns wurden erst für den nächsten Tag mit dem gegen vier Uhr von Stuttgart kommenden Zug erwartet. Der Vormittag war der Besichtigung der interessanten alten Donaustadt gewidmet. Die Donau bildet hier die Landesgrenze. Alt-Ulm diesseits des jetzt breit und majestätisch dahinfließenden Stromes ist württembergisch, Neu-Ulm am jenseitigen Ufer bayerisch.
»Hie gut Württemberg allezeit!« Der Wahlspruch des Herzogs Ulrich galt auch für den Schwäbischen Wanderbund. Die malerische alte Stadt fesselte sie mehr als die vornehm stolzen Neubauten am bayerischen Ufer. Ilse schwelgte wieder in Giebelzacken und Renaissanceerkern, in rieselnden Brünnle und krummwinkligen Gäßle. Das Überwältigendste aber blieb doch der Münster, dieses Denkmal vollendeter Hochgotik.
Sie standen und schauten und glaubten, in den Himmel hineinzufliegen. Selbst der Viehmuse ging die Sprache vor andächtigem Staunen aus. Und das wollte schon viel heißen.
Das Bauratstöchterlein machte die andern auf die künstlerische feine Durchbruchsskulptur des in die Wolken ragenden Turmes aufmerksam. Als es dann aber hieß, den Turm zu besteigen, wurde Ilse recht kleinlaut.
Marlene, die gute Cousine, wollte Ilse keinesfalls allein lassen. Es schien auch ihr ein etwas zu kühnes Wagnis, bis in den Himmel hineinzuklettern. »Wir hören lieber das Kirchenkonzert, das um zwölf Uhr im Münster stattfinden soll.«
»Das lockt mich halt auch mehr«, schloß sich Ola, die sehr musikalisch war, den beiden an.
»Also schön, die Damen bleiben unten.« Hans war einverstanden.
»Nee, durchaus nicht, ich bin auch eine Dame«, meldete sich Nesthäkchen. »Ich denk’ ja gar nicht dran, unten zu bleiben. Auf die Besteigung des Münsters habe ich mich am allermeisten gefreut. Und heute ist gerade ein herrlich klarer Tag.«
»Mir wär’s lieber, Annemie, du bliebst bei den andern Damen, ich habe jetzt reichlich genug von deinen Schwabenstreichen«, meinte Hans bedenklich. »Wenn du vom