Die Zitherbegleitung dazu klappte nicht ganz, da verschiedene Saiten reparaturbedürftig waren.
Da – glockenreine Töne, eine Laute erklang von irgendwoher und übernahm mit übermütigem Blim-blim die Begleitung. Köpfe wandten sich den Klängen nach. Vom Briefkasten her kamen sie. Dort oben thronte ein bildhübsches, goldhaariges Dirndl und ließ die Zupfgeige munter mitsingen.
»Bravo – bravo!« Der Beifall nach Beendigung des Liedes galt mehr der jungen Lautenspielerin, als dem gutgemeinten Gekrächze auf dem Podium.
Nesthäkchen sprang von seinem erhöhten Sitz herab. Es griff nach seinem weichen Filzhut, »Bibi« genannt.
»Bitt’ schön, für die arme Frau!« Sie begann für die traurige Künstlerin, die ihr warmes Mitleid erregt hatte, zu sammeln. Da war nicht einer, der nicht in die Tasche griff und der liebenswürdigen Fürsprecherin gern sein Scherflein zusteuerte. Der »Bibi« füllte sich. Annemarie hatte die Freude, nachdem Hans und Rudolf Hartenstein etwas tiefer als die anderen in die Tasche gegriffen – den Studenten war dies leider beim besten Willen nicht möglich –, ja, da hatte Doktors Nesthäkchen die Genugtuung, der Frau Direktorin der berühmten Wanderkünstler »Nimmer da gewese« eine recht beträchtliche Summe, die freudestrahlend in Empfang genommen wurde, einzuhändigen.
Das Kunstbedürfnis des Schwäbischen Wanderbundes war nun befriedigt. Man überließ die Plätze den glücklichen jugendlichen Eroberern und zog weiter zum Bahnhof, um noch das Zügle ins Lichtensteingebiet zu erreichen.
»So, Annemie, ich hoffe, das war dein erster und dein letzter Schwabenstreich!« sagte Hans, die Schwester an das rosige Ohrläppchen nehmend.
»Was du denkst, jetzt geht’s erst los.« Nesthäkchen lachte den Bruder einfach aus.
»Fräulein Annemarie, ich hätt’ Ihnen halt was abzubitten«, begann Rudolf Hartenstein auf dem Wege zum Bahnhof, als sie allein gingen. »Ich war Ihnen bös’, daß Sie die Extratour auf den Briefkasten gemacht haben. Aber jetzt bin ich’s nimmer. Sie haben der Frau mehr Gutes getan, als wir mit unsern vornehmen Plätzen.«
»Sie haben mir noch mehr abzubitten, mein Herr.« Annemarie setzte eine strenge Richtermiene auf.
»Ja, das wäre?« verwunderte sich Rudolf Hartenstein.
»Diebstahl haben Sie begangen, Raub aus dem Hinterhalt – –.« Immer strafender wurde Nesthäkchens lustiges Gesicht.
»Da muß ich doch ganz energisch Protest erheben, ich fühl’ mich halt keiner Schuld nit bewußt.«
»So?« Annemarie klopfte auf den schwarzen Kasten an Rudolfs Seite.
»Aha – daher pfeift der Wind. Den Raub nehm’ ich schon auf mich.« Er dachte an ein Bild, das er neulich heimlich am Tübinger Marktplatz gestohlen hatte: Nesthäkchen mitten in der Prügelei mit Vronli und Kaschperle. Wenn sie das erst wüßte! »Ich muß doch halt eine Erinnerung an unser Beisammensein mitnehmen, wenn ich zum September in die Ferne nach Berlin geh’«, entschuldigte er sich.
»Ja, wenn’s dazu erst des Kastens hier bedarf«, entfuhr es Annemarie in ihrer raschen Art.
»Gelt, dessen bedarf’s nimmer, ich trag’ Ihr Bild auch ohnedies mit mir.« Warmen Blickes griff Rudolf nach Annemaries herabhängender Rechte.
»Neschthäkche – Neschthäkche – beeilt’s euch – ‘s Zügle wird gleich abgehe!« schrie die Viehmuse gerade zur geeigneten Zeit dazwischen. Die beiden Hände lösten sich erschreckt.
Natürlich hatte der Zug noch zehn Minuten Aufenthalt – die Viehmuse hatte mal wieder geflunkert.
Es war schon spät, als man in Honau am Fuße des Lichtensteins anlangte. Die Gasthäuser waren von Sommerfrischlern überfüllt. Man mußte sich dazu bequemen, in der Scheune zu übernachten. Der fidelen Stimmung des Wanderbundes war dieses elegante Quartier durchaus angemessen. Lachend kletterten Annemarie und Ilse die Hühnerleiter zum oberen Heuboden hinauf und betteten sich dort oben ins duftende Heu. Marlene und Ola machten es sich unten bequem. Die Herren zogen ein Bauernhaus weiter ins Heulager.
»Wehe euch, wenn ihr schnarcht oder gar aus dem Schlafe sprecht – Fräulein Ola, sind Sie auch nicht etwa mondsüchtig und fangen an zu nachtwandeln?« Es dauerte lange, bis Ruhe bei der ausgelassenen Gesellschaft eingekehrt war.
Mitten in der Nacht war’s. Da gab’s mit einem Male einen dumpfen Krach – ein erschreckter Aufschrei, dem ein dreifaches Echo folgte. Dann helles Lachen.
»Um’s Himmels willen, was ist denn das?« Marlene rieb sich die Augen. »Dieses war der zweite Streich – und der dritte folgt sogleich«, klang es lachend neben ihr.
»Sind denn das nit Sie, Fräulein Annemarie?« Ola tastete an ihre linke Seite, wo es vorher leer gewesen war. Da packte sie ein Bein.
»Halt – das ist meins!« schrie Annemarie lachend.
»Annemarie, wo bist du denn?« Ilses angstvolle Stimme erklang aus der Höhe.
»Hier!«
»Wo – wo denn? Du hast doch vorhin neben mir geschlafen.« Vergebens tastete Ilse nach der Freundin. Da fühlte sie plötzlich das Heu unter sich weichen – ein schriller Schrei – Ilse versank ebenfalls in die Unterwelt.
»Hilfe – Hilfe!« schrie es wieder von unten. »Du quetschst mich ja zu Apfelmus – keinen ganzen Knochen habe ich mehr im Leib!« Annemarie, auf die Ilse herabgesegelt war, rieb sich, mit dieser um die Wette schimpfend und lachend zugleich, Arm und Beine.
»Ja, Kinder, was ist denn das für eine heimtückische Menschenfalle hier? Man ist ja seines Lebens nicht sicher. Und dazu die Stockdusternis!« Marlene, die allmählich ganz munter geworden war, versuchte sich vergeblich zurechtzufinden.
»Herr Mond, bitte, etwas Beleuchtung!« rief Nesthäkchen, das seinen Humor wiedergefunden hatte, nachdem es festgestellt, daß alle Knochen noch heil waren.
»Ja, wie haben wir denn bloß unsere Rutschpartie zuwege gebracht, Annemie? Wir lagen doch ganz entfernt von der Leiter«, versuchte Ilse der geheimnisvollen Reise auf den Grund zu kommen.
»Ich kann’s mir halt denken.« Ola lachte so herzlich, daß sie sich gar nicht beruhigen konnte. Bei uns zu Land lassen die Bauern in der Mitte auf dem Heuboden ein Loch, durch das sie das Heu hinunterwerfen. Da sind Sie halt hineingeraten.«
»Ja, ich wollte mich bloß auf die andere Seite umdrehen, und da segelte ich plötzlich in den Orkus hinab.«
Viel wurde nicht mehr aus dem Schlaf. Es war gut, daß die Sommernacht nur kurz war und daß man in aller Frühe wieder aufbrechen wollte.
Draußen am verschlafen rieselnden Brünnle wurde Toilette gemacht.
Neckereien ohne Ende mußten sich die beiden gefallen lassen, als die Herren der Schöpfung von der nächtlichen Rutschpartie erfuhren.
Die Viehmuse lachte so dröhnend, daß die Hühner im Stall zu gackern begannen.
»Zwei Schwabenstreich’ hat’s Neschthäkche schon auf dem Kerbholz – vivant sequentes
!«
10. Kapitel
In der Nebelhöhle
Wie ein mittelalterliches Raubritternest, hoch oben auf einem steil abfallenden Felsen klebend, so schaut Schloß Lichtenstein ins lachende Tal hinab. Hinunter auf lachende junge Menschen, die, den Rucksack auf dem Rücken, den Berghang hinaufgekraxelt kommen. Ach, die Sonne scheint so heiß und stechend, trotzdem es noch früh am Tag ist. Zehn Pfund Mehl sind schwer – Nesthäkchen keucht ein wenig, trotzdem es die Anstrengung möglichst zu unterdrücken versucht.
»Fräulein Annemarie, seien’s verständig und geben’s mir das Säckle«, zum soundsovielten Male versuchte Rudolf ihr die Bürde abzunehmen. »Seien’s nit eigensinnig.«