Ansichten zutage. Die meisten neigten der Ansicht zu, daß sie vier Beine hätte. Margot Thielen meinte: »Gar keine, nur zwei Flügel!« was ihr ein schmeichelhaftes »Haach – ist die dumm!« von ihrer verfeindeten kleinen Freundin Annemarie eintrug. Hilde Rabe aber schrie: »Hundert!« Der kam es auf ein paar mehr gar nicht an.
»Na, ich will es euch sagen: Eine Fliege hat sechs Beine. Wieviel Beine hat denn ein Fisch? Na, Marlenchen?«
»Das kann man doch nicht sehen, weil die Fische sie ja immer ins Wasser stecken«, antwortete der kleine Schlaukopf.
»Habt ihr denn noch niemals einen Fisch in der Küche gesehen?«
»»Ja – natürlich – heute mittag gibt es bei uns Fisch«, ging es wieder lustig durcheinander.
»Na, da erzähle uns mal morgen, wieviel Beine der Fisch gehabt hat, Elli«, scherzte die Lehrerin. »Ei, Ruth, willst du es uns sagen?«
»Ein Fisch hat gar keine Beine, bloß einen Schwanz«, deklamierte Ruth und nickte dazu mit dem Köpfchen, als ob sie ein Gedicht aufsagte.
Jetzt lachte aber die ganze Klasse hellauf.
»Keine Beine – hahaha – womit sollten die Fische dann wohl schwimmen?« machte sich Annemarie lustig.
»Ruth hat ganz recht, sie ist die einzige in der Klasse, die schlau ist. Eigentlich müßte sie euch nun auslachen und nicht ihr sie. Ein Fisch hat keine Beine, sondern nur Flossen und einen Schwanz. So – und nun wollen wir mal die Naturkundestunde für heute beendigen und unser Schweinchen kneten«, sagte Fräulein Hering.
Da wurden die merkwürdigsten Schweinchen geschaffen.
Das von Ilschen glich einem Igel, das von Marlenchen einer Eidechse. Hilde hatte einen Tisch mit vier Beinen und einem Schwanz geformt, der sollte ein Schwein vorstellen. Annemaries Schwein sah aus wie eine vierfüßige Wurst und das angeklebte Schwänzchen dazu wie der Wurstzipfel. Aber als sie jetzt auf Margots Kunstwerk schielte, vergaß Annemarie wieder mal, daß sie doch mit ihrer Freundin böse war.
»Das ist ja ein Elefant und kein Schwein!« rief sie laut.
Margot sah gekränkt auf ihr mißratenes Schweinchen, dessen Rüssel, allerdings etwas zu lang geworden war. Nein, wenn die Annemarie so war, dann wurde sie überhaupt nicht wieder mit ihr gut!
Das Bösesein wurde noch schwieriger, als mittags Annemaries Fräulein die beiden kleinen Feindinnen von der Schule abholte. Sonst kamen sie immer umschlungen die Treppen heruntergehopst. Heute erschien Nesthäkchen allein, und zwar ziemlich langsam, denn sie fürchtete Fräuleins Fragen.
Die blieben auch nicht aus.
»Wo ist denn Margot?« erkundigte sich Fräulein.
Klein-Annemarie zuckte die Schultern und wandte das erglühende Gesicht zur Seite. Zum Glück tauchte Margots roter Hut da gerade auf, daß Fräulein nicht weiter forschte.
Aber als dann eine kleine Freundin links von Fräulein spazierte und die andere rechts, als Annemarie in einem Redestrom blieb, um nur ihr Fräulein nicht zu Wort kommen zu lassen, während Margot befangen schwieg, merkte Fräulein doch den Sachverhalt.
»Nanu, Kinder, ihr habt euch doch nicht etwa gar gezankt?« erklang die peinliche Frage.
Margot drehte den Kopf nach links und Annemarie den ihren nach rechts. Beide wurden sie puterrot, beide gaben sie keine Antwort.
»Na, das ist ja recht nett,« sagte Fräulein, »kleine Mädchen dürfen doch nicht miteinander böse sein. Wenn ihr Freundinnen sein wollt, müßt ihr euch vertragen. Gebt euch mal die Hand und seid wieder gut!«
Aber Annemarie wandte den Kopf rechts und Margot links. Eigentlich hätten sie sich alle beide wieder sehr gern vertragen, aber sie waren so dumm, sich vor Fräulein zu schämen.
So machte Margot, zu Hause angelangt, nur einen eiligen Knicks vor Annemaries Fräulein, und ohne sich anzusehen, gingen die beiden kleinen Mädchen heute auseinander.
Annemarie wurde den ganzen Tag nicht recht froh. Sie wußte gar nicht, was so schwer auf ihrer kleinen Seele lastete. Nesthäkchen war ein zärtliches Kind mit einem liebebedürftigen Herzchen. Es war Annemarie ein bedrückender Gedanke, wenn irgend jemand in der weiten Welt sie nicht mehr lieb hatte.
Und daß dieser jemand ihre beste Freundin war und gar nicht irgendwo in der weiten Welt wohnte, sondern drüben am Kinderstubenfenster, halb verborgen von der Gardine, stand und ebenso verstohlen herüberspähte wie sie selbst, war um so trauriger. Aber keins von den beiden Trotzköpfchen nickte heute einen Gruß hinüber.
7. Kapitel
Ein fortgejagter Schüler
Am anderen Morgen war dasselbe Schauspiel wie am Mittag zuvor. Eins ging hüben, eins drüben, nur daß zwischen den beiden kleinen Feindinnen heute nicht Fräulein, sondern das Kindermädchen Emilie wanderte.
Aber noch einer wanderte mit den dreien mit, und zwar heimlich, ohne daß jemand eine Ahnung davon hatte. Das war ein kleiner Vierfüßler mit seidenweichem, weißem Fell. Puck war mit durch die geöffnete Korridortür entwischt und folgte jetzt seiner kleinen Herrin getreulich in die Schule.
Als das Kindermädchen sich unten verabschiedete, dachte Puck gar nicht daran, dasselbe zu tun. Anstatt kehrtzumachen, lief er in plötzlichem Bildungsdrang dreist hinter dem nichtsahnenden Nesthäkchen her in die zehnte Klasse.
Dort entstand durch das Erscheinen des vierfüßigen Schülers ein wilder Aufruhr.
»Ein Hund – ein Hund!« so schrien sie erschreckt durcheinander. »Ein Hund ist in der Klasse – der beißt – ach, ich habe ja solche Angst!«
Auf die Bänke und Tische kletterten die kleinen Hasenfüßchen in ihrer Furcht, denn zur Schande der zehnten Klasse muß es gesagt sein, daß da so manches kleine Fräulein darunter war, das sich nicht an einen Hund heranwagte.
Puck aber sprang lustig blaffend in der Klasse umher, als ob der ganze Tumult nur zu seinem Vergnügen stattfände. Je höher die Beinchen der kleinen Mädchen in ihrer Hundescheu hopsten, um so höher hopsten auch vor Freude die Hundebeine.
Annemarie war, trotzdem sie gar keine Angst vor Hunden hatte, ebenfalls an dem lauten Schreien beteiligt. Da die Kinder ein dichtes Knäuel um das Hündchen bildeten, ahnte sie nicht, wie nah der gefürchtete Eindringling ihr stand.
Da erschien Fräulein Hering in der Klassentür.
»Nanu, was ist denn hier los?« fragte sie ärgerlich über den ungehörigen Lärm.
»Ein Hund – ein großer Hund – er beißt!« kreischte es wieder durcheinander.
Puck hatte sich respektvoll beim Erscheinen der Lehrerin unter einer Bank verkrochen.
»Wo – wo ist er denn?« Fräulein Hering glaubte, ein Riesenköter habe die Kinder so in Schrecken gesetzt.
»Da – da!« aufgeregt wiesen die kleinen Mädchen unter die Schulbank.
Dort hockte das winzige weiße Zwerghündchen und wedelte mit dem Puschelschwänzchen, um seine harmlose, freundschaftliche Gesinnung zu bekunden.
»Aber Kinder, habt euch doch nicht!« lachte jetzt Fräulein Hering beim Anblicke des gefürchteten Feindes. »Vor dem süßen Hündchen habt ihr Angst?« sie griff unter die Bank und hielt den kleinen Eindringling in die Höhe. »Hier ist unser neuer Schüler!«
»Puck!« schrie Annemarie los, die den Hund jetzt zum erstenmal richtig zu sehen bekam, »das ist ja unser Puck!«
Kaum war der Name ihr entschlüpft, da entschlüpfte auch der neue Schüler der Lehrerin. Mit einem Satz war er bei seiner rechtmäßigen kleinen Herrin, unbekümmert darum, daß sein weißes Pfötchen in das offene Tintenfaß eintauchte.
Nesthäkchen