Lotte –«
»So können wir ja in den großen Ferien hinreisen,« räumte die Kleine bereitwilligst ein.
»Vater wünscht, daß du ein ganzes Jahr lang an der Nordsee bist – natürlich würde ich die erste Zeit auch dort bleiben, bis du ganz bekannt bist –«
»Und dann?« Nesthäkchens Augen hingen in banger Ahnung an den Lippen der Mutter.
Nein, so schwer hatte sich Frau Doktor Braun das doch nicht gedacht.
»Dann bleibst du dort unter den lustigen Kindern – und wir schreiben uns viele Briefe, und vielleicht besuchen wir dich auch mal.«
»Nee!« Annemarie schüttelte ablehnend ihren Blondkopf. »Nee, ich will nicht! Meine Schulfreundinnen hier sind sicher viel netter als die dort, und Kläuschen ist mir lustig genug. Und wenn ich sechs ganze Wochen lang Nordseeluft atme, das ist reichlich. Mehr kann ich gar nicht atmen!« So entschied das kleine Fräulein, das durch die Krankheit gewöhnt war, daß alles nach seinem Köpfchen ging, höchst energisch.
Aber diesmal kam es damit nicht durch.
»Wir werden uns doch wohl nach Vaters Wünschen richten müssen, Lotte, wenn es uns auch nicht leicht wird. Vater hält es nun mal für nötig –«
»Bin ich denn wieder krank?« erkundigte sich die Kleine, ganz erstaunt, während es um ihre Mundwinkel bereits zu zucken begann.
»Bewahre – aber du bist doch noch immer matt, lange nicht so frisch wie vorher. Und damit du wieder unser lustiger rotbackiger Wildfang wirst, wollen Vater und ich das Opfer bringen und dich an die Nordsee schicken, meine kleine Lotte.« Zärtlich strichen Muttis Finger über Annemaries Locken. Wenn das Kind wüßte, wie weh ihr selbst dabei zumute war, es würde ihr das Schwere nicht noch schwerer machen.
Aber Nesthäkchen ahnte nichts von Mutters Empfindungen. Das war ganz und gar Empörung.
»Dann kann mich Vater ja lieber gleich wieder in die olle Klinik stecken, wenn ihr mich durchaus los sein wollt«, rief es ungezogen. »Vater hat ja auch vorhin erst gesagt, daß er mich nicht gebrauchen kann.« Die Kleine brach in bitterliches Schluchzen aus.
»Du bist ein ganz dummes Mädel!« Vergeblich versuchte Frau Doktor Braun, ihr Nesthäkchen zu beruhigen. Wenn das Kind sich so aufregte, was nützten da alle Kräftigungsmittel und alle Pflege, was nützte selbst die Nordseeluft dann?
Als die Brüder aus der Turnstunde heimkamen, ging Annemarie noch immer mit dick verschwollenen Augen umher.
»Warum haste denn geheult, Annemariechen?« erkundigte sich der gute Bruder Hans mitleidig.
Klaus dagegen führte einen wilden Indianertanz um das Schwesterchen auf, indem er von einem Bein auf das andere sprang, und dabei höchst unmelodisch sang: »Au, du hast Kloppe gekriegt, au, du hast Kloppe gekriegt!«
»Nee, gar nicht, du dummer Junge!« machte Annemarie wütend. Aber sie war so von Schmerz erfüllt, daß sie nicht mal auf ihn los ging, was sie sonst wohl sicher getan hätte.
»Laß unser Kleinchen in Frieden: komm, Annemarie, erzähle mir, warum du so traurig bist.« Hans machte dem Indianertanz des Jüngeren durch seine kräftigen Muskeln ein rasches Ende.
Solch einer liebevollen Anteilnahme konnte sich Annemaries verdüstertes Gemüt nicht verschließen. Doch wenigstens einer, der es noch gut mit ihr meinte!
Sie kletterte auf die Fußbank und flüsterte Bruder Hans ihren schweren Kummer ins Ohr. Etsch – Klaus durfte es zur Strafe nicht hören.
»Vater und Mutti wollen mich los sein – und – und« – Annemarie konnte vor Mitleid mit sich selbst nicht weiter sprechen. Sie begann wieder zu schluchzen.
»Und da schicken sie dich in einen dunklen Wald wie Hänsel und Grete!,« unterbrach sie der große Bruder lachend.
»Nee, aber an die Nordsee, das ist genau ebenso schlimm!« stieß die Kleine empört heraus. Sie dachte nicht mehr daran, daß Klaus es ja nicht hören sollte.
»An die Nordsee sollst du – ach, muß das fein da sein! Und dann weinste noch, du Affenschwanz?« Hans schüttelte verständnislos seinen blonden Schädel.
»Kommen wir auch mit?« Das war für Klaus unbedingt das wichtigste an der ganzen Geschichte.
»Nee,« Annemarie war enttäuscht, bei ihrem Lieblingsbruder so wenig Teilnahme zu finden. »Es ist ja nicht bloß für die Sommerferien – den ganzen langen Winter soll ich da bleiben, weil ich noch immer matt bin – ganz allein – da graule ich mich ja tot!«
Hans machte nun doch ein betroffenes Gesicht. Solange sollte Annemarie diesmal von Hause fort? Trotzdem er über vier Jahre älter war, hatte ihm das muntere Schwesterchen während der Krankheit unglaublich gefehlt.
Und schön konnte er sich das im Winter, wenn die Stürme heulten, auch nicht gerade am Meer denken – nee. ganz und gar nicht!
Klaus war entgegengesetzter Ansicht.
»Annemarie, du bist ein Glücksknopp! Da kannste fein auf der Nordsee Schlittschuh laufen und –«
»Schafsnase – das Meer friert doch niemals zu,« unterbrach der Größere seine schönen Pläne.
»Schadet nichts, famos muß es doch sein! So ähnlich wie auf dem Nordpol. Du, Annemiechen,« Klaus begann plötzlich zärtlich zu werden, ein Zeichen dafür, daß er irgendwas von ihr wollte. »Bitte doch Vater, daß er mich mitschickt. Dann bist du nicht allein dort, und eigentlich sehe ich doch auch ein bißchen angegriffen aus, und in Latein bin ich auch matt, hat unser Ordinarius erst heute gesagt,« setzte er noch überzeugungsvoll hinzu, sich in den Spiegel sehend.
Aber da blickte ihm ein so gesundheitssprühendes, rotwangiges Jungengesicht unter dem braunen Kraushaar entgegen, daß es Klaus doch zweifelhaft erschien, ob Vater es seiner angegriffenen Gesundheit wegen für nötig halten würde, ihn an die Nordsee zu schicken.
Annemarie aber schien der Gedanke durchaus einleuchtend. Mußte sie wirklich fort – und Muttis Bestimmtheit ließ eigentlich keinen Zweifel darüber – dann war es doch immerhin noch besser, mit Klaus zusammen, als allein. Wenn er sie auch oft foppte und reizte.
Beim Nachmittagskaffee, der auf dem Balkon getrunken wurde, erschien der Vater nur auf fünf Minuten aus der Sprechstunde heraus.
»Nanu, Lotte?« Er warf einen erstaunten Blick zu seinem verheulten Nesthäkchen und einen zweiten zu seiner Gattin hinüber. Aha – die Krabbe wußte schon Bescheid.
»Ich habe jetzt keine Zeit für dich, es warten noch eine Menge Leute drin. Aber heute abend haben wir miteinander zu reden, Lotte.« Doktor Braun klopfte seinem Töchterchen aufmunternd die blasse Wange und eilte wieder in sein Untersuchungszimmer.
Eigentlich war es keinem der Braunschen Kinder angenehm, wenn Vater mit einem »reden« wollte. Besonders Klaus, der immer irgend etwas auf dem Gewissen hatte, liebte solche Gespräche unter vier Augen gar nicht. Das Töchterchen, das von jeher vom Vater ein wenig verzogen worden, war eigentlich selten in die Lage gekommen, eine väterliche »Standpauke», wie die Brüder diese Unterredung nannten, zu erhalten. Trotzdem sie ahnte, um was es sich handelte, war es ihr doch unbehaglich zumute, als sie mit Fräulein ihren Nachmittagsspaziergang im Tiergarten machte.
»Du, Fräulein«, Annemarie hatte das »Du« noch aus ihrer Kleinkinderzeit her beibehalten. »Ich habe ein schreckliches Geheimnis.« Fräulein hatte nach Tisch Besorgungen gemacht und ahnte noch nichts von Annemaries Schicksalswendung.
»Du hast gewiß ein schlechtes Diktat geschrieben?« riet Fräulein.
»Ach nee, wenn es das bloß wäre!« Annemarie blickte mit so trostlosen Augen in das lichte Grün der Platanen und Buchen, daß Fräulein wirklich erschrak.
»Noch was Schlimmeres?»
»Viel – viel Schlimmeres!« mit Grabesstimme sprach es der Kindermund. »Ich soll fort von Hause – auf ein ganzes Jahr wollen mich Vati und Mutti an die Nordsee schicken. Und denn sagen