Knaben und Mädchen. Die hatten es gut, die durften sicher zu Hause bleiben!
»Meine dumme, kleine Annemarie», Fräulein zog den dünnen Arm des Kindes fest an sich. »Wenn dich deine Eltern nicht so lieb hätten, würden sie wohl kaum das viele Geld für dich ausgeben. Solch langer Aufenthalt an der Nordsee ist teuer. Und meinst du nicht, daß deiner Mutti und deinem Vater die Trennung noch schwerer wird als dir – ich weiß doch, wie Mutti sich nach dir gebangt hat, als du Scharlach hattest.«
Annemarie antwortete nicht. Fräuleins Worte hatten sie tief beschämt. War sie nicht wirklich ein dummes Mädel, daß sie an der Liebe ihrer guten Eltern zweifelte?
»Mir wäre auch geholfen, wenn du in Pension kämst, Annemiechen,« begann Fräulein von neuem. »Meine Mutter schreibt in jedem Brief, sie wäre leidend und möchte mich nach Haus haben.«
Was – Fräulein wollte von ihnen fort? Ihr liebes, goldenes Fräulein, an dem sie fast so hing wie an den Eltern? Ja, war denn heute die ganze Welt verhext?
»Aber wenn das eklige Jahr um ist, mußt du bestimmt wieder zu uns zurückkommen, ja, das versprichst du mir, Fräulein?« so bettelte das kleine Mädchen zärtlich.
Wie gern versprach Fräulein dies, war ihr doch ihre kleine Annemie wie ein eigenes Kind ans Herz gewachsen.
Es dämmerte schon, als Doktor Braun sein Nesthäkchen an den beiden Rattenschwänzchen in sein Sprechzimmer zog, um mit ihr zu »reden«. Da stand nun die Annemarie neben seinem Schreibtisch und begann aus Verlegenheit mit dem Hörrohr und sonstigen Instrumenten zu spielen. Sanft nahm er ihr die Dinge aus der Hand und zog das große Mädchen auf sein Knie.
»Lotte, glaubst du, daß ich dich gern fortgebe?« fragte er bloß.
Ach, wo blieben da all die dummen Gedanken, die das törichte Mädel den ganzen Nachmittag gequält? Es schüttelte den Blondkopf und schmiegte ihn fest an Vaters Brust.
»Na also! Soll ich mich nun auch vielleicht hinsetzen und heulen wie ein gewisses Fräulein heute nachmittag?«
Bei dieser Vorstellung mußte Annemarie lachen – all das, was sie bedrückt, lachte sie sich vom Herzen.
»So ist’s recht, Lotte! Wer solche feine Reise machen soll wie du, der kann auch lachen. Der Klaus möchte für sein Leben gern mit. Aber der darf nicht, der Schlingel.«
Wie merkwürdig – Annemarie kam mit einemmal ihre Verbannung gar nicht mehr so fürchterlich vor. Lag das daran, daß sie jetzt einsah, daß Vater und Mutter nur aus Liebe zu ihr in die lange Trennung willigten?
»Du bist doch mein großes, verständiges Mädel,« der Vater hob ihr Gesicht zu sich empor. »Versprich mir, Mutti nicht mehr durch unvernünftige Tränen zu quälen, du tust ihr damit weh.«
Annemarie machte ein bestürztes Gesicht. Wie häßlich von ihr, daß sie nur an ihren eigenen Jammer gedacht hatte!
Sie reichte dem Vater ihr mageres Händchen. So dunkel es auch schon war, er las in den blauen Kinderaugen das feste Versprechen, der Mutter den Abschied nicht mehr zu erschweren.
Noch an demselben Abend schrieb der Vater an ein ihm besonders empfohlenes Kinderheim in Wittdün auf der Nordseeinsel Amrum. Das Schicksal von Doktors Nesthäkchen war damit besiegelt.
Das Versprechen, das Annemarie ihrem Vater gegeben, hielt sie. Es wurde ihr nicht mal schwer, denn allmählich – begann sie sich auf die Reise zu freuen.
In der Schule war sie jetzt wieder der Mittelpunkt der Klasse. Nein, hatte die Annemarie Braun ein Glück! In eine Kinderpension kam sie, und noch dazu an der Nordsee – eine jede hätte sofort mit ihr getauscht.
Nun geht es einem im Leben oft sonderbar. Man findet eine Sache oft erst schön, wenn man von anderen darum beneidet wird. Diese Erfahrung machte auch unsere Annemarie.
Da all ihre Schulfreundinnen sich an ihre Stelle wünschten, war sie sicherlich nicht bemitleidenswürdig. Ja, es machte ihr sogar Spaß, sich mit ihrer Reise ein wenig hervorzutun.
»Auf einem großen Schiff fahren wir von Hamburg aus, hat mir Mutti erzählt. Und ein süßes Reiseköfferchen habe ich bekommen – ganz für mich allein. Und neue Sandalen und einen schwarzen Lackhut und graue Spielhosen. Und Vater sagt, ich darf barfuß laufen. Aber der hellblaue Badeanzug mit dem weißen Anker ist das Allerschönste, den mußt du dir ansehen, Margot.«
Nur zwei gab es, die ganz und gar nicht mit dem langen Aufenthalt des kleinen Mädchens an der Nordsee einverstanden waren. Die eine war Annemaries Großmama und die andere war Köchin Hanne.
Großmama kam aus dem Kopfschütteln nicht heraus. Sie fand sich in der neumodischen Welt nicht mehr zurecht. Ihre Kinder hatten auch Krankheiten durchgemacht, aber deshalb hatte doch kein Mensch daran gedacht, sie auf ein ganzes Jahr von Hause fortzugeben. Denn ein Kind gehört unter die Obhut der Eltern, das war nun mal Großmamas Ansicht. Und noch dazu den ganzen Winter durch an der Nordsee – wie leicht konnte sich ihr Liebling dort erkälten. Und was konnte der Annemarie nicht sonst noch alles am Meer passieren! Großmama durfte gar nicht daran denken. Zum erstenmal war sie mit ihrem Schwiegersohn nicht zufrieden. Aber schließlich, er mußte es als Arzt ja am besten wissen.
Hanne war noch viel entrüsteter über das Anrecht, das die eigenen Eltern »ihrem Kinde« zufügten. Konnte wohl einer noch so für die Annemarie kochen und sie mit lauter Leckerbissen füttern wie ihre alte Hanne? Mußte sie da erst zu fremden Leuten?
Trotzdem das Gesicht der treuen Köchin von Tag zu Tag grimmiger dreinschaute, gingen die Reisevorbereitungen ihren Gang. Denn Frau Doktor Braun wollte schon vierzehn Tage vor Beginn der Ferien mit Annemarie fahren. Der Vater unternahm später mit seinen beiden Jungen eine Gebirgswanderung. So waren auch diese für die Ferien versorgt.
Der Tag vor der Abreise war herangekommen.
Der »süße« Reisekoffer Annemaries stand fix und fertig gepackt. All die schönen neuen Sachen waren darin untergebracht. Das Putzlieschen strahlte, es war ganz und gar mit ihrem Geschick ausgesöhnt. Auch die Schul-und ein Teil ihrer Geschichtsbücher waren mitgewandert, sogar einige Spiele für Regentage.
Nun ging Annemarie noch einmal, Umschau haltend, ob sie auch bloß nichts vergessen hatte, durch ihr Reich. Da fiel ihr Blick auf ihre Puppe Gerda, die steif und stumm in dem kleinen Korbsessel lehnte. All die Kinderzärtlichkeit, die Nesthäkchen einst für seine Puppe empfunden, erwachte durch den bevorstehenden Abschied wieder in seiner Brust.
Sollte sie Gerda mitnehmen? Dann hatte sie doch wenigstens einen von zu Hause bei sich. Aber würden sie die anderen Kinder dort nicht auslachen und für ein Baby halten? Es gab bei ihnen in der siebenten Klasse schon einige Mädchen, welche sich zu groß zur Puppenmutter dünkten.
Annemarie blickte unschlüssig auf ihre Puppe. Irrte sie sich oder sah Gerda sie mit ihren hübschen braunen Glasaugen vorwurfsvoll an, als wollte sie sagen: »Habe ich dir nicht auch getreulich Gesellschaft geleistet, als du krank und allein warst?«
Da war der Kampf in Nesthäkchens Brust entschieden, die falsche Scham besiegt.
»Ja, du sollst mit ins Kinderheim, Gerdachen«, flüsterte sie und begann eifrig den Puppenkoffer zu packen.
Mutti hatte nichts gegen die neue Reisegenossin einzuwenden. Im Gegenteil, sie freute sich, wenn Annemarie recht viel mit Puppen spielte. Und vielleicht half die alte Lieblingspuppe ihrem Herzblatt ein wenig über die Trennung von Haus hinweg.
Großmama, die gekommen war, um ihrem Liebling Lebewohl zu sagen, wollte Nesthäkchen überhaupt nicht wieder aus den Armen lassen. Bis zum letzten Tage hatte sie gehofft, daß sich die »verdrehte Idee« mit dem Winteraufenthalt an der Nordsee nicht verwirklichen würde. Das arme, arme Kind – gewiß war es tiefbetrübt!
Nein, ganz und gar nicht! Mit freudigem Stolz zeigte Annemarie der Großmama ihr Reisegepäck. Und als die gute Großmama ihr gar noch einen Kasten Briefpapier mit Märchenbildern überreichte, damit sie ihr doch wenigstens ab und zu mal ein Briefchen schreiben konnte, war Doktors Nesthäkchen auf dem Gipfel aller Seligkeit. Annemarie fand es höchst angenehm,