Dazu einen Bademantel mit Kapuze. Hans verehrte ihr seinen alten Tuschkasten, der noch gar nicht sehr abgenutzt war. Und Klaus, der wollte natürlich auch nicht zurückstehen. Von seinen Spielen konnte er nichts verschenken. Die waren alle kurz und klein. Geld, irgend etwas zu kaufen, besaß er nicht. Aber hatte Vater unter all den Probemitteln, die ihm zugesandt wurden, nicht auch ein Schächtelchen mit Pralinés stehen? Klaus, der überall herumschnüffelte, hatte sie vor einigen Tagen entdeckt. Leider war er durch Muttis Eintritt nicht mehr dazu gekommen, eins zu probieren. Denn naschen war seine Lieblingsbeschäftigung.
Jetzt aber erinnerte er sich der Pralinés. Vater dachte sicher gar nicht mehr an das Schächtelchen, und Annemarie würde sich gewiß freuen. Zehn Stücke waren drin, der Schlingel teilte sie redlich zwischen dem Schwesterchen und sich.
»Da, Annemie,« ein Praline nach dem anderen schob er ihr und sich abwechselnd in den Mund, »da, das schenke ich dir zum Abschied.«
Eigentlich mundeten sie Annemarie nicht besonders. Die Schokolade war ja ganz schön, aber die Füllung schmeckte greulich. Doch sie mochte Klaus, der sie ihr verehrt, nicht durch eine Ablehnung beleidigen. So zwang sie sich die fünf Schokoladendinger hinein.
Am nächsten Tage aber befanden sich die beiden Sprößlinge von Doktor Braun in einem bejammernswerten Zustand, denn die Pralinés waren mit – Rizinusöl gefüllt gewesen.
Annemaries Reise mußte um einige Tage verschoben werden und auch die Keile, die Klaus vom Vater für sein Heldenstück versprochen wurde.
Schließlich aber kam doch der Tag, wo Nesthäkchen, mit dem Weinen kämpfend, immer wieder sein Händchen aus dem Eisenbahnfenster heraus dem untenstehenden Vater zum Abschied entgegenstreckte. Wo Doktor Braun, selbst bewegt, seinem Töchterchen liebevoll drohte: »Tapfer sein – ganz tapfer, denke an dein Versprechen, meine Lotte!« Wo der Eisenbahnzug sich so plötzlich und unvermutet in Bewegung setzte, daß Doktors Nesthäkchen nun doch, trotz aller Tapferkeit, in Tränen ausbrach und das Gesicht rasch hinter seiner Puppe verstecken mußte. Nur Gerdas Zelluloidhand winkte dem zurückbleibenden Vater einen Abschiedsgruß zu.
6. Kapitel
Nesthäkchens Seereise
Kindertränen trocknen schnell. Besonders, wenn Mutti neben einem sitzt und einen tröstend in die Arme nimmt. Dann empfindet kein Kind, daß es in die Fremde hinausgeht, seine Heimat, die Mutter, ist ja bei ihm.
Und kann man denn überhaupt noch traurig sein, wenn man an einem schönen Sommernachmittag im lustig ratternden Eisenbahnzuge durch die Welt saust? Die grünen Wiesen, mit goldgelben Dotterblumen und tiefblauen Vergißmeinnicht bestickt, die weiten Felder, auf denen Gottes Segen der Ernte entgegenreift, die wie Spielzeug dazwischen gestreuten Häuslein, Landleute und Kühe, das alles lachte die kleine Reisende so heiter an, daß sie selbst auch bald wieder mitlachte. Das umfangreiche Futterpäckchen, das Hanne »ihrem Kind« vorsorglich mitgegeben, wohl in der Annahme, daß es die nächsten acht Tage nichts zu essen bekäme, wirkte ebenfalls höchst aufmunternd. So war Doktors Nesthäkchen, als der Zug gegen Abend in die Bahnhofshalle der Stadt Hamburg brauste, so vergnügt, wie nur ein Kind sein kann, dem die ungebundene Ferienfreiheit winkt.
Sollte sie doch heute nacht zum erstenmal in einem richtigen Hotel schlafen, da das Schiff schon früh am anderen Morgen abfuhr. Mit scheuer Ehrfurcht hatte Doktors Nesthäkchen in Berlin stets die stolzen Portiers mit den goldbetreßten Röcken, die den Hoteleingang bewachen, bewundert. Und nun nahm solch vornehm aussehender Mann tief die Mütze vor ihnen ab und ließ sie durch die sich drehende Glastür eintreten. Diese wie ein Karussell kreisende Glastür mit ihren abgeteilten Nischen hatte schon längst Annemaries Begeisterung erweckt. Nie hatte sie zu hoffen gewagt, jemals so glücklich zu sein, selbst durch eine solche Tür gehen zu dürfen. Konnte man es ihr daher verdenken, daß sie nicht sofort wieder aus ihrer Türnische heraus wollte? Daß sie, nachdem Mutti schon die Vorhalle des Hotels betreten, immer noch wie ein Pferd in der Mühle mit ihrer Tür im Kreise herumlief? Himmlisch war es, Annemarie wäre gern die ganzen Ferien über in der Türnische geblieben. Der stolze Portier machte gar kein ärgerliches Gesicht; im Gegenteil, er lachte. Oft mochte es ja wohl auch nicht vorkommen, daß ein Gast sich dieses besondere Vergnügen leistete.
Da jedoch erinnerte sich die zum Fahrstuhl schreitende Mutter, daß sie ja noch ihr Töchterchen bei sich gehabt.
»Aber Lotte, wo steckst du denn?« suchend sah sie sich um. Nun entdeckte sie den im Kreise herumwirbelnden schwarzen Lackhut ihrer Lotte, und damit hatte das Vergnügen für Annemarie ein Ende.
Aber das junge Fräulein leistete sich alsbald ein neues, wenn auch etwas aufregenderes.
Durch den mit Blumen und Palmen geschmückten Vorraum schritten sie zum Fahrstuhl. Der war ganz anders als die, welche Annemarie von Berlin her kannte. Es war ein doppelter, sogenannter amerikanischer Fahrstuhl, ohne Tür, der in ständiger, selbsttätiger Bewegung war. Der eine, auf der rechten Seite, ging in die Höhe, der links zur Tiefe. Während der ganz langsamen Fahrt mußte man ein-und aussteigen, da der Fahrstuhl nie anhielt. Das kleine Mädchen vergaß ihre Drehtür über diese neue herrliche Fahrgelegenheit.
»Ach, wenn Hänschen und Kläuschen doch auch mitfahren könnten,« rief sie begeistert.
Das Einsteigen ging ohne Schwierigkeiten vonstatten. Ein Stockwerk ging es hinauf, noch eins – »paß auf, Lotte, jetzt müssen wir gleich heraus,« rief die Mutter und stieg zuerst aus.
Aber Annemarie war noch so vertieft in die Schönheit dieses unbekannten Genusses, daß sie nicht daran dachte, daß der Fahrstuhl ja nicht anhielt, und sich voll Gemütsruhe Zeit mit dem Aussteigen ließ.
»Mutti – Mama – Mutti« – angstvoll gellend klang es plötzlich zu Frau Doktor Braun von ihrem weiter in die Höhe reisenden Nesthäkchen herab.
Vorbei war es mit Annemaries Entzücken, sie schrie und heulte.
Immer weiter, immer höher stieg der Fahrstuhl, mitleidslos gegen Annemaries Angst, mit der brüllenden Kleinen und der sich nicht weniger ängstigenden, aber stummen Puppe auf ihrem Arm.
Sollte denn das bis in alle Ewigkeit so fortgehen? Das dumme Mädel dachte in seiner Aufregung nicht daran, einfach auf irgendeinem anderen Stockwerk auszusteigen. Jetzt war es oben in den obersten Bodenräumen. Hier ging der Fahrstuhl auf die linke Seite hinüber und fuhr nun abwärts, während der andere vom Kellergeschoß jetzt rechts aufwärts stieg.
Gott sei Dank – es ging wieder hinunter. Annemarie atmete auf und hielt mit Schreien inne. Jetzt – da war ihre Mutti – »komm, Lotte, schnell, schnell«– – – Frau Doktor Braun wollte ihr Nesthäkchen herausziehen, aber da – hatte sie nur Puppe Gerda im Arm. Annemarie hatte in ihrer Aufregung den richtigen Moment verpaßt.
Wieder ging die Reise weiter, noch viel mehr begann Annemarie jetzt zu schreien, denn nun war sie ja ganz allein. Diesmal ging es zur Abwechselung in die Tiefe.
Auf den verschiedenen Stockwerken sammelten sich neugierig Hotelgäste und Bediente. Aber ehe sie noch daran dachten, den reizenden kleinen Schreihals aus seiner Gefangenschaft zu befreien, war der Fahrstuhl mit Annemarie schon davon. Bis in den Keller ging es jetzt – hu – war es hier dunkel. Annemarie graulte sich tot. Wie am Spieß schrie sie, während der Fahrstuhl zur rechten Seite hinüberging und nun wieder aufwärtsstieg.
Diesmal aber wollte sie sofort herausspringen, sobald sie Mutti nur sah, das nahm sich Annemarie fest vor.
Aber es kam gar nicht so weit. Als sie die blumengeschmückte Vorhalle erreichte, stand da der feine Portier – ein Griff, und er hatte das schreiende kleine Mädchen im Arm.
»Na, weine man nicht mehr, Mausechen, ich bring’ dich auch nach deine Mama,« tröstete er freundlich.
Hotelgäste, Kellner und Zimmermädchen wollten sich vor Lachen ausschütten über den kleinen Blondkopf, der solche unfreiwillige Reise gemacht. Annemarie aber stieg an der Hand des Portiers die breiten Marmortreppen