auf, daß die Lauschenden schmerzlich zusammenzuckten. »Gehen Sie – bitte gehen Sie – oder…«
»Was – oder –?« fragte der Mann gelassen. »Sie wollen doch nicht etwa handgreiflich werden, gnädige Frau?«
»Und ob!« funkelte es in ihren Augen unheimlich auf. Die Hände hoben sich, die der Professor rasch ergriff und in den seinen behielt.
»Aber gnädige Frau, wie kann man nur –«, sagte er gütig. »Ich will Ihnen doch helfen.«
»Wie wollen Sie das wohl anfangen«, klang es nun schon wieder ganz vernünftig, nur unsagbar bitter. »Können Sie mir mein Kind wiedergeben?«
»Das nicht. Ich kann Ihnen aber die Hand reichen, um Sie aus dem düsteren Dorngestrüpp, in das Ihr bisheriger Schicksalsweg Sie geführt, hinauszugeleiten auf eine gangbare Straße – ganz sachte und leise, meine liebe gnädige Frau.«
»Aus dem Dorngestrüpp –«, murmelte sie. »Wissen Sie denn auch, wie das ist, wenn man sich an Disteln und Dornen nicht nur Hände und Füße blutig reißt, sondern auch das Herz?«
»Ja, das weiß ich, weil ich ihn selbst gehen mußte, den Schicksalweg durch Dornengestrüpp. Und zwar, als ich meine beiden blühenden Söhne im Kriege hergeben mußte – und bald darauf meine Frau, der das Herz brach.«
»Und wie haben Sie aus dem Dorngestrüpp herausgefunden?« fragte sie mißtrauisch.
»Langsam, Schritt für Schritt. Ganz allein mußte ich ihn gehen. Mußte mit harten Händen Dornen und Disteln aus dem blutenden Herzen reißen. Und weil ich weiß, wie entsetzlich weh das tut, will ich Ihnen helfen, den Weg sachte und leichter aus dem Gestrüpp zu finden. Wollen Sie mir das gestatten?«
»Nein!« begehrte sie wild auf, indem sie versuchte, ihre Hände aus denen des Mannes zu lösen. Das irre Lachen blitzte aufs neue in ihren Augen auf. Die Zähne bissen sich zusammen, zwischen denen sie hervorstieß: »Lassen Sie mich los – oder ich…«
»Was denn – wollen Sie etwa beißen? Aber, aber – meine liebe gnädige Frau, wer tut denn so was?«
»Ich –! Ja, ich! Ich will den Dornenweg nicht zu Ende gehen – ich will sterben, heute noch! Lassen Sie mich los.«
Ihre Stimme schrillte, die Augen rollten – und dann brach sie bewußtlos zusammen.
Nun kam Leben in die Gestalt des Professors. Er winkte Holger zu, der herbeieilte.
»Schnell, wir müssen sie fortbringen, bevor sie zu sich kommt.«
Er riß eine Decke von dem Diwan, hüllte die regungslose Gestalt darin ein und trug sie mit Holgers Hilfe in das Hadebrandtsche Auto, das unten stand. Zum Glück war es dunkel, so daß den Straßenpassanten das traurige Bild entging. Dann fuhr der Wagen an – und Holger ging in die Wohnung zurück, wo seine Mutter in einem Sessel saß und fassungslos weinte. Hilfesuchend streckte sie dem Sohn die Arme entgegen, der die bebende Gestalt fest an sein Herz nahm.
»Ach, Holger, wie entsetzlich ist das doch alles! Mein Herz bricht mir fast vor Jammer.«
»Meines nicht minder, Muttchen«, entgegnete er gequält. »Wir müssen machen, daß wir aus dieser trostlosen Umgebung kommen. Ich kann es hier nicht mehr aushalten.«
Mit ihren verweinten Augen sah sie dem Sohn in das zuckende Antlitz und raffte sich auf. Er verschloß sorgfältig die Türen, nahm die Schlüssel an sich und führte seine noch immer am ganzen Leibe zitternde Mutter behutsam die Treppe hinab auf die Straße. Dort holte er ein Mietauto herbei, das sie rasch nach Hause fuhr. Zwar waren sie von der traurigen Stätte in ihr helles, lichtes Heim geflüchtet – allein, Sorge und Not waren mit ihnen gegangen.
*
Einige Wochen weilte Mechthild schon im Sanatorium. Noch immer machte sie ihren Pflegerinnen und dem Professor arg zu schaffen, die in nimmermüder Geduld um sie bemüht waren. In der ersten Zeit hatten sich die Irrsinnsanfälle beängstigend gesteigert, so daß man die Kranke verschiedene Male gewaltsam zur Ruhe bringen mußte. Sie konnte direkt bösartig werden, wenn sie eine junge blonde Schwester sah, die sie an die Tochter erinnerte.
Es wurde besser, als sie fortan in ihrem Zimmer blieb und eine ältere, dunkelhaarige Pflegerin sie betreute.
Nach zwei Wochen verfiel Mechthild dann in einen Stumpfsinn, aus dem keine gütigen Ermahnungen und gelegentliche Strenge des Professors sie aufrütteln konnten. Gleichgültig hörte sie alles mit an. Ob sich jemand um sie bemühte oder nicht, das war ihr alles egal.
In den letzten Tagen schien es aber besser geworden zu sein. Wenn die Schwester sie auch nur auf Augenblicke verließ, zeigte sich bei der Kranken eine leichte Unruhe.
An einem Tage Ende Oktober saß Mechthild in ihrem bequemen Lehnstuhl am Fenster. Draußen tobte der Herbststurm, der Regen floß in kleinen Rinnsalen die Scheiben entlang. Die fast kahlen Bäume bogen ihre Äste nur widerwillig unter der rohen Wucht des dahintosenden Gesellen. Es war ein trostloses Bild von Sterben und Verges-
sen.
Solange die Pflegerin bei Mechthild im Zimmer war, saß diese stumpfsinnig da wie gewöhnlich. Das Bett und der Lehnstuhl am Fenster, das waren die einzigen Plätze, auf die sie sich gutwillig führen ließ. Einen andern einzunehmen, dazu war sie nicht zu bewegen. Also ließ man ihr den Willen.
Die Schwester, die immer strickend und schweigend bei ihr saß, erhob sich, um dem Ruf einer Kollegin Folge zu leisten. Wie sie aus Erfahrung wußte, konnte sie sich unbesorgt auf einige Minuten entfernen, ohne daß die Kranke davon Notiz nahm. Doch kaum hatte sie die Tür geschlossen, trat ein Ausdruck von Angst in Mechthilds trübe Augen. Unruhig rutschte sie auf dem weichen Polster herum, ließ die Blicke nach draußen und dann wieder wie hilfesuchend durch das behagliche Gemach schweifen und schrie die Schwester an, als diese nach kaum zwei Minuten zurückkehrte:
»Warum lassen sie mich allein? Mindestens zwei Stunden sind Sie fortgewesen. Das ist unerhört!«
Erschrocken eilte die Pflegerin auf die Erregte zu, griff nach den eiskalten Händen.
»Aber liebe gnädige Frau«, beschwichtigte sie gütig. »Ich bin doch sofort wiedergekommen.«
»Reden Sie sich nicht heraus! Sie sind unzuverlässig. Ich werde mich beim Professor über Sie beschweren. Rufen Sie ihn!«
Die Pflegerin kam dem Befehl nach, indem sie auf einen Knopf drückte, der versteckt angebracht war. Gleich darauf betrat der Professor das Zimmer.
»Gut, daß Sie kommen«, empfing Mechthild ihn aufgebracht. »Ich muß mich über die Pflegerin beschweren. Fünf Stunden hat sie mich allein gelassen.«
»Nanu, der Dausend, Schwester, was fällt Ihnen denn ein?« tat er entrüstet…
»Da muß ich Sie fristlos entlassen und der gnädigen Frau eine zuverlässigere Pflegerin besorgen.«
»Nein!« rief Mechthild angstvoll dazwischen. »Die Schwester soll nicht fort. Sie ist sonst ganz gut. Bloß sieben Stunden soll sie mich nicht allein lassen – weil, weil ich so große Angst habe«, setzte sie kläglich hinzu.
»Wovor denn?« fragte er erstaunt. Mechthild duckte sich, indem sie mit den Augen nach draußen zeigte. Ihre Stimme klang geheimnisvoll…
»Vor den dürren Armen dort, die mir immerzu drohen. Und – und ich habe doch – nichts Böses – getan.«
»Ganz gewiß nicht Frau Mechthild«, beruhigte der Mann gütig. »Deshalb brauchen Sie auch keine Angst zu haben. Schon gar nicht vor den Ästen der Bäume, die der Herbststurm tüchtig zerzaust. Schauen Sie mal mit festem Blick hinaus, dann werden Sie mir recht geben.«
»Ja«, erklärte sie kleinlaut, nachdem sie die Bäume genau betrachtet hatte. »Ich bin wirklich töricht.«
Ruhig wandte der Professor sich ab und gab der Pflegerin verstohlen einen Wink, ihm zu folgen. Die andere, die das Essen brachte, blieb bei der Kranken. Draußen huschte ein Lächeln über das Antlitz des Arztes, das sich noch verstärkte, als Frau Hadebrandt und