Leni Behrendt

Leni Behrendt Staffel 5 – Liebesroman


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schluchzte die Dame an den Tränen. »Daher kann ich Frau Runards Schmerz so gut verstehen. Ich habe wenigstens noch meinen Mann, aber die Ärmste steht nun ganz allein, zumal sie immer sehr zurückgezogen gelebt hat. Ich habe direkt Angst um sie.«

      Während die beiden Damen bekümmert miteinander sprachen, saß Mechthild unweit vorm Grabe ihres Kindes auf einer Bank, die in einer Lebensbaumhecke versteckt stand und so den Augen der Vorübergehenden entging. Also ein Plätzchen wie geschaffen für die müde, schmerzdurchwühlte Frau, die keinen Menschen sehen wollte. Allein wollte sie bleiben mit ihrem Leid – ganz allein.

      Wenn sie doch den Mut aufbringen könnte ein Ende zu machen, damit sie an der Seite ihres Kindes ruhen konnte, über allen Schmerz, über aller Not, über alle Ewigkeit hinweg. Wie schön mußte das sein! Aber sie war auch so müde, so grenzenlos müde, daß sie sich nicht einmal zu dem letzten Schritt aufraffen konnte.

      Oftmals hatte sie das Gefühl, als müsse sie irrsinnig werden vor Schmerz – wie zum Beispiel heute, als der Verhaßte plötzlich vor ihr stand – da hatten ihr Kopf und Herz zu bersten gedroht von einem glühheißen Strom, der ihr fast die Besinnung nahm.

      Nun gut, mochte der Irrsinn kommen, ihr jedes Denken nehmen. Das war immerhin noch barmherziger als dieser wütende, anhaltende Schmerz in ihrem von Disteln und Dornen blutig gerissenen Herzen.

      Sie schrak zusammen, als hinter der dichten Hecke Stimmen laut wurden. Sie duckte sich zusammen, um nur nicht gesehen zu werden.

      »Guten Abend, Frau Kollega«, sprach eine Männerstimme. »Was führt Sie an diese Stätte der Trauer?«

      »Guten Abend, Herr Direktor. Ich habe die Gräber meiner Eltern besucht.«

      »Ich tat es gleichfalls. Übrigens stehen wir hier an dem Grabe der kleinen Runard. Es ist ein Jammer um dieses blühende Menschenleben.«

      »Das ist es wohl!« bestätigte die Dame traurig. »Aber wenn man darüber nachdenkt, so ist es die beste Lösung für dieses unruhige Blut. Aus der Kleinen wäre nie was Rechtes geworden. Sie hätte durch ihre unglückselige Veranlagung ihren nächsten Menschen doch nur Kummer bereitet.

      Es ist nicht Unbarmherzigkeit, die mich so sprechen läßt, Herr Direktor. Aber ich kannte die Ebba besser als alle andern, da ich von Sexta an ihre Klassenlehrerin war und sie stets scharf beobachtet habe. Es steckte ein fauler Kern in dieser schönen Hülle – leider.«

      »Ja, die Beobachtung habe ich auch machen können«, meinte der Herr versonnen. »So viel Beschwerden wie über die kleine Runard sind über keine andere Schülerin bei mir eingegangen. Ich war manchmal schon nahe daran, sie von der Schule zu weisen, jedoch aus Rücksicht auf die arme Mutter unterließ ich es immer wieder. So war ich ordentlich froh, als dieses frühreife, hochfahrende Mädchen abging.

      Und doch hat mich sein jähes Ende zutiefst erschüttert. Schon um der armen Mutter willen, die nun schweres Leid um ihr so früh dahingegangenes, einziges Kind trägt.

      Ich habe nie begreifen können, wie diese feine, vornehm denkende Frau zu so einer Tochter kommen konnte.«

      »Vielleicht ähnelte sie dem Vater«, fiel die Dame ein, doch er winkte entschieden ab.

      »Nein. Ich habe den Herrn ganz gut gekannt. Wahrscheinlich stammte diese Nichtnutzigkeit von einer anderen blutsverwandten Linie her: Die Natur geht ja oft seltsame Wege.«

      Die Stimmen verklangen – und Mechthild stöhnte auf wie ein gepeinigtes Tier. Aber immer noch nicht genug. Wieder hörte sie Stimmen, die sie als die Frau Wentrucks und Doritts erkannte.

      »Ach, Mutti, warum mußte Ebba so früh sterben«, klagte das Mädchen. »Wenn sie auch nicht gut war, aber den Tod hatte sie denn doch nicht verdient.«

      »Vielleicht hat der liebe Gott es gut mit ihr gemeint, als er sie so plötzlich zu sich nahm«, antwortete die Mutter tröstend. »Damit hat er dem kleinen Nichtsnutz vielleicht mehr gedient, als wenn er ihn noch lange auf der Erde hätte wandeln lassen – sich selbst zur Unzufriedenheit und seinen Lieben zu Kummer und Leid.«

      »Weißt du, Mutti, mir tut jedes schroffe Wort nun weh, daß ich ihr gesagt habe. Ich hätte ihr noch viel mehr Geld geben sollen, als ich es getan habe. Ihr auch nicht die Halskette als Pfand abfordern sollen, um sie damit zu zwingen, mir die geliehenen vierzig Mark wiederzugeben. So ging sie denn zu Onkel Holger…«

      Die Tochter klagte sich an, die Mutter tröstete – und so bekam Mechthild den Schwindel mit der Kette ausführlich zu hören. Es war nur gut, daß die beiden bald gingen, sonst wäre die bis aufs Blut gepeinigte Frau doch noch vorgesprungen – und…

      Was – und? Ach, sie wußte es selber nicht. Sie wußte nur, daß alle Menschen ihr so zuwider waren, daß sie nun nicht mehr eine Luft mit ihnen atmen mochte.

      Daher fort von dieser Welt – nur fort, so schnell wie möglich. Nun hatte sie auch die Kraft, das zu tun, was sie sofort hätte tun müssen, nachdem man ihr die Todesnachricht von ihrem Kind brachte.

      *

      Holger Hadebrandt saß dem Professor des Nervensanatoriums gegenüber. Es war ein unscheinbarer Mann, der im ersten Augenblick der Bekanntschaft enttäuschte. Erst wenn man in seine Augen schaute, dann war man gefangen. Fest und machtvoll, gütig und beruhigend schauten sie aus dem unschönen Antlitz. Mit seiner Stimme zusammen konnte sie bändigen und trösten. Und die schlanken, nervigen Hände konnten zupacken und streicheln – nach Veranlassung der von ihm Betreuten.

      Ruhig hörte er Holgers Schilderung mit an, ohne sie auch nur einmal zu unterbrechen. Als sie geendet, da fragte er kurz:

      »Sie haben mir nichts verschwiegen, Herr Hadebrandt?«

      »Nichts, Herr Professor.«

      »Gut, ich werde Sie zu Frau Runard begleiten.«

      An Mechthilds Wohnung begehtren sie vergebens Einlaß. Dafür öffnete sich die gegenüberliegende Tür, aus der zu ihres Sohnes Überraschung Frau Hadebrandt trat.

      »Mutter, wo kommst du denn her?«

      »Da Mechthild nicht zu Hause ist, habe ich bei ihrer Nachbarin gewartet«, zeigte sie auf die Dame, die nun auch erschien und lauschend verharrte.

      »Sie kommt«, flüstere sie aufgeregt. »Ich erkenne sie an dem müden Schritt.«

      Energisch schob der Professor Mutter und Sohn in die Nachbarwohnung.

      »Warten Sie hier«, sagte er leise, aber bestimmt. »Ich werde dafür sorgen, daß die gegenüberliegende Tür nur angelehnt wird. Sie können dann durchschlupfen und versteckt der Unterredung beiwohnen.«

      Schon wurde Mechthild sichtbar.

      »Guten Abend, gnädige Frau«, hörten die hinter der Tür Lauschenden Arles freundlich sagen. »Ich spreche doch mit Frau Runard?«

      »Ja. Was wünschen Sie, mein Herr?«

      »Ich möchte Sie um eine Unterredung bitten.«

      »Danke«, kam es unliebenswürdig zurück. »Ich bin für niemand zu sprechen.«

      »Gnädige Frau, ich bin bestimmt kein aufdringlicher Bettler.«

      »Das glaube ich Ihnen – aber ich –«

      Das klang schon weniger schroff – und nach einigen Sekunden:

      »Bitte, kommen Sie mit mir.«

      Die Tür wurde aufgesperrt und dann nur angelehnt, wie die am andern Ende Lauschenden wahrnehmen konnten. Frau Hadebrandt nebst Sohn schlüpften hindurch und stellten sich im Korridor so hin, daß sie Mechthild durch die geöffnete Wohnzimmertür beobachten konnten, ohne selbst von ihr gesehen zu werden. Nachdem sie dem Besucher Platz angeboten hatte, ließ sie sich ihm gegenüber nieder.

      »Bitte, mein Herr…«

      »Arles ist mein Name, gnädige Frau. Ich bin gekommen, um mit Ihnen zu sprechen wie Mensch zu Mensch.«

      »Mensch zu Mensch«, wiederholte sie mit unendlich bitterem Lachen.