sie nicht mehr – sie brannten wie versteckte Funken in den Höhlen.
Ein solch glimmender Blick fuhr über den kleinen José hin, der sich scheu vor dem Manne mit der starken, schneidigen Stimme zurückzog und sich mit beiden Händchen ängstlich der Rechten seiner Begleiterin bemächtigte, die sie beim Verlassen der Stube in die Kleiderfalten geschoben hatte, als bemerke sie nicht, daß er das Verlangen habe, geführt zu werden.
»Wem gehört der Junge?« fragte der Rat seine Schwester kurz und rauh und schwer atmend.
»Weiß ich's?« fragte sie unter Achselzucken zurück und starr in seine funkelnden Augen sehend – sie zuckte mit keiner Wimper. – »Ich ging in meine Stube, da hörte ich vom Boden her ein Kind schreien – dein Veit hatte sich den Spaß gemacht, das Kind fremder Leute in unsere Rumpelkammer zu sperren –«
»Und dafür hast du ihn gemißhandelt?« brach er los, wie rasend vor Wut und Erbitterung.
»Gemißhandelt!« wiederholte sie mit kalter Ironie. – »Ich habe ihm die wohlverdienten Fünfundzwanzig aufgezählt, die ihm von Rechts wegen gebührten,« setzte sie in ihrer gewohnten energischen Ausdrucksweise hinzu.
Diese unerschrockene Ruhe wirkte ernüchternd – der Rat fühlte, daß er durch sein Aufbrausen an der zeitlebens behaupteten Überlegenheit einbüße. Er bezwang sich und sagte verbissen: »Eine solche brutale Züchtigung meines Kindes gestatte ich mir selbst nicht –«
»Zu seinem Schaden – aus dem Jungen wird sein Lebtag nichts!« – Noch nie war ihr dem Bruder gegenüber eine solche unumwundene Kritik entschlüpft – sie war offenbar nicht ganz Herr ihrer selbst.
»So – meinst du, Therese?« fragte er beißend. Sein tiefgebräuntes Gesicht verfärbte sich vor zorniger Überraschung; aber er fuhr nicht wieder auf – um die Mundwinkel spielte ihm nur sein schlimmes, hämisches Lächeln. – »Es wäre ja doch zu schrecklich, wenn dermaleinst auch mir mein Sohn mit einer Tanzmamsell bei Nacht und Nebel auf und davon liefe!«
Die Majorin schwieg. Sie biß die Zähne fest zusammen und entzog mit einem plötzlichen Ruck dem kleinen José ihre Hand.
Der Rat sah das – er strich sich hohnvoll mit der großen, braunen Hand über den dünnen Kinnbart. »Ach ja, ich weiß es längst – mein Veit ist nicht nach deinem Geschmack,« fuhr er fort. »Er denkt für ein Kind seines Alters zu scharf, sein Wille ist zu kräftig, und als ein echter Wolfram verlegt er sich nicht aufs Schmeicheln und Schöntun ... Solch ein Hanswurst, wie der da –« er zeigte auf den Knaben – »der gefällt dir wohl besser – wie? ... Hm, die Einbildungskraft der Weiber ist stets geschäftig – der Henker mag wissen, was du alles in ihm siehst –«
»Das, was er ist – das Kind fremder Leute,« versetzte sie mit demselben starren Blick wie vorhin; aber ihr Atem ging tief, und in dieser klangvollen Frauenstimme grollte ein Ton mit, wie der eines tiefgereizten Raubtieres.
»Ei, das versteht sich ja von selbst – freilich muß er fremder Leute Kind sein, wir Wolframs haben ja kein verwandtes Blut draußen in der Welt,« sagte er leichthin. – »Ich meinte nur, da dir mein Veit nicht gefällt, du hättest so eine Art Idealschablone, in die der Junge da mit seinem Flachskopf passe ... Wie kommt er aber in mein Haus und hier herauf, wenn nicht durch dich? – Hereingeschneit ist der Junge doch nicht?«
»Veit hat ihn jedenfalls hereingebracht –«
»Veit, und immer wieder Veit! Der arme Kerl muß es stets gewesen sein; er kriegt die Prügel, und der Bursche da ist natürlicherweise das unschuldige Lamm ... Wie bist du in das Haus gekommen?« schnauzte er, seiner nicht mehr mächtig, das Kind an, das entsetzt zurückwich und keinen Laut herausbrachte. »Wirst du wohl antworten, Bursche?« knirschte er und griff in gesteigertem Grimm nach dem Knaben, um dessentwillen sein Sohn gestraft worden war.
Bei dieser drohenden Bewegung fuhr die Majorin empor, als habe sie selbst einen Schlag erhalten, und streckte den Arm zwischen ihren Bruder und den kleinen José – ihre Augen funkelten, und unter der krampfhaft emporgezogenen Oberlippe erschien eine schöne, feste, weiße Zahnreihe. Die Frau mit dem kräftigen und doch so elastisch schlanken Gliederbau hatte in diesem Augenblick etwas von einer Tigermutter, die ihr Junges verteidigt – aber nur sekundenlang; der Rat trat unwillkürlich zurück, und sie sagte scheinbar gelassen, wenn auch mit belegter Stimme: »Du wirst dich nicht an einem fremden Kinde vergreifen, das ohnehin aufgeregt ist durch den Streich, den Veit ihm gespielt hat.«
Sie beugte sich zu José herab, um nun selbst die gestellte Frage zu wiederholen; allein es war, als gebe es für die seltsame Frau keine Sprache der Welt, in der sie mit diesem Kinde reden könne – es sah mit seinen wunderschönen, blauen, beredten Augen zu ihr auf, und da schlossen sich ihre bleichen Lippen nur noch fester aufeinander.
Der Kleine gab jetzt die Antwort von selbst – er fühlte sich durch die Frau beschützt. »Ich bin mit dem großen Jungen durch den Zaun gekrochen,« sagte er mit seiner sanften, treuherzigen Stimme. »Er kriecht immer durch den Zaun und wirft mit Steinen nach den Enten, die auf dem Teiche schwimmen. Nachher wollte er mir seine Lapins zeigen –«
»So –« sagte der Rat; er drehte und zerrte wie zerstreut an seinem grauen Lippenbart – der befremdende, wenn auch unglaublich rasch wieder niedergekämpfte Gesichtsausdruck seiner Schwester gab ihm offenbar zu denken – »durch den Zaun also, und wir haben nur den, der uns vom Schillingshof trennt – das ist ja eine schöne Entdeckung! Mein Veit auf Schillingschem Grund und Boden! – Ich werde die ganze Zaunlinie sofort mit Dornen verbarrikadieren lassen ... Hm, ja, nun weiß ich's auch – ich sehe manchmal einen blauen Irrwisch drüben umhertollen, das ist der Bursche da! Er gehört zu der amerikanischen Familie, ›von Valmaseda‹ schreibt sie sich, wie ich höre – mag auch eine nette Gesellschaft sein! Der Mann soll sich in irgend einem Spielbad herumtreiben und hat unterdessen seine Familie, zum Skandal der Dienstleute drüben, ohne einen Groschen Geld in den Schillingshof geschickt, wo sie auf Regimentsunkosten herrlich und in Freuden leben sollen.« – Wie wunderlich kamen diese Mitteilungen, die einer Klatschbase Ehre machen konnten, aus diesem bärtigen Munde, und wie heiser gedämpft klang die stets so barsche Stimme! ...
»Die Schillings waren von jeher Narren und Verschwender!« fuhr er nach einem befreienden Aufatmen lauter fort. »Theaterleute und Abenteurer finden da stets eine gute Stätte. Der stolzen Baronin aber paßt das nicht – sie ist der sauberen spanischen Gesellschaft aus dem Wege gegangen.« –
Er hielt inne. Seine Schwester stand da wie eine Statue; sie sah seitwärts unbeweglich nach den erblindeten Vorsaalfenstern, durch die ein paar dicke Brummfliegen und eine verirrte Wespe vergebens den Weg ins Freie suchten, und erst, als der Rat schwieg, heftete sie diesen starren Blick durchdringend auf sein Gesicht. »Was geht das uns an?« fragte sie trocken. »Haben wir uns je darum bekümmert, wen der Schillingshof beherbergt?«
»Einst wohl, Therese – als der ›in Königs Rock‹ drüben nach dem schönen, betörten Wolframschen Goldfisch angelte ... Doch da ist längst Gras darüber gewachsen, ich habe die Schande ziemlich verwunden. – Jetzt aber bin ich aufs neue verpflichtet, mich darum zu kümmern, da Veit den Streich gemacht hat, sich einen Kameraden von dorther zu holen – das wäre mir ja eine schöne Bekanntschaft! ... Und du – du solltest doch nie vergessen, daß du dem Schillingschen Hause alle Schmach, die dir widerfahren ist, und deinen total verunglückten Lebenslauf verdankst ... Ich sollte meinen, schon die Luft, die dich von drüben her anhaucht, müsse dich beleidigen. – Ich für meinen Teil habe während der letzten acht Jahre – lediglich um deinetwillen – konsequent verhindert, daß auch nur eine Spur Erde an den Sohlen von dem verhaßten Grund und Boden in mein Haus getragen worden ist; und nun nimmst du diesen hereingeflogenen Unglücksvogel da auf, führst ihn direkt in deine Stube und tröstest und liebkosest ihn –«
»Liebkosen?« lachte sie wild auf und strich hart und wiederholt mit der inneren Handfläche über die blauleinene Schürze, als wolle sie die einzige Spur der Berührung wegreiben, die das Kinderhändchen hinterlassen hatte. »Du solltest wissen, daß deine Anrufung der Vergangenheit eine ganz überflüssige war,« setzte sie schneidend hinzu. »Nenne mir einen Augenblick in meinem Leben, in dem ich je vergessen hätte, daß ich eine