zu lassen, und schließlich bekam die alte Frau gar keinen der Briefe mehr zu Gesicht, und Donna Mercedes erzählte nur noch unter stetem Farbenwechsel, stockend und mit fast scheuer Stimme, was – die Großmama wissen sollte.
Inzwischen hatte Baron Schilling als Künstler neue Lorbeeren geerntet. Das durch die weibliche Rachsucht bedrohte Bild hatte großes Aufsehen gemacht und war, wie verlautete, von einem Neuyorker Nabob um einen unerhört hohen Preis angekauft worden... Er sei im Einheimsen neuer Motive bienenfleißig gewesen, hatte er einmal geschrieben und seine baldige Rückkehr in Aussicht gestellt. Allein gerade um diese Zeit war der Deutsch-Französische Krieg ausgebrochen. Mehrere Wochen waren die Nachrichten aus Skandinavien ausgeblieben, bis ein Brief aus Frankreich meldete, daß »der germanische Zorn« den Heimreisenden auf den feindlichen Boden getrieben habe, und er sich nicht gestatten dürfe, Glück in der Heimat zu genießen, während deutsche Krieger draußen kämpften.
Seit dieser Nachricht war es gewesen, als stehe eine schwarze Wolke über der Villa Valmaseda und schaue düster und dräuend in die Fenster. Man sah Donna Mercedes nur noch lächeln, wenn ein halb zerknitterter Feldpostbrief oder eine mit Bleistiftzügen bedeckte Karte einliefen. Wenn aber der Telegraph die Nachricht von einer stattgehabten Schlacht brachte, dann warf sie sich auf ihr Pferd und jagte wild hinein in die Einsamkeit, in Sturm und Wetter, oft mit triefenden Kleidern auf dem abgehetzten treuen Tier heimkehrend... Dann litt sie sichtlich Qualen der angstvollen Ungewißheit; aber ihre Lippen blieben geschlossen – niemand konnte sich rühmen, durch irgend ein verräterisch entschlüpftes Wort die Vorgänge in dieser stolzen Frauenseele belauscht zu haben.
Aber nun war auch diese bittere Zeit überwunden. Der ruhmvolle deutsche Nationalkrieg war beendet. Es wurde frühlingshell in den angstbefreiten Herzen – die Friedensbotschaft und der junge Lenz zogen, innig umschlungen, jubelnd über die deutsche Erde hin und weckten aufjauchzende Echos allerorten.
Auch über der Villa Valmaseda blaute der Himmel längst wieder. Sie hatte just ihre schönste Zeit. Im Parke sangen die Drosseln, flötete der Pirol; unter dem Laubdom der Waldpartien schwamm noch junggrünes Maienlicht, und schon brachen die Kletterrosen zu Tausenden auf. Von Licht und Farbenglanz überschüttet stand das Haus auf seinen Terrassen; die Menschen gingen mit hellen Augen umher, und es lag etwas wie Hoffnungsfreudigkeit in der Luft, wenn auch ein Schatten sich eingeschlichen hatte, der zu all dem aufsprießenden Leben in traurigem Gegensatz stand.
Vor mehreren Monaten war ein Brief aus Petersburg an Donna Mercedes eingelaufen. Lucile hatte nach fast dreijährigem Schweigen geschrieben, daß sie »merkwürdigerweise« infolge eines Katarrhes ein »ganz dummes, abscheuliches Lungenbluten« gehabt habe. Der Arzt bestehe hartnäckig darauf, daß sie – selbstverständlich nur für einige Wochen – ihren russischen Triumphzug unterbreche und sich in anderer Luft pflege und erhole, und da sei sie gesonnen, diese unfreiwilligen Ferien »diesmal« bei ihren Kindern zuzubringen. Donna Mercedes möge ihr aber Geld schicken, da sie augenblicklich nicht bei Kasse sei und verschiedene Kleinigkeiten berichtigen müsse, wenn sie loskommen wolle. –
Und sie war gekommen, »so ermüdet von der langweiligen Reise«, daß man sie aus dem Wagen in ihr Zimmer hatte tragen müssen... Diesem vollständig zerstörten Wesen gegenüber, das nur noch wenige Schritte zum Grabe hatte, verbiß die Majorin ihren unsäglichen Widerwillen und ihren heftig wieder aufgerüttelten Mutterschmerz, und auch Donna Mercedes bot alle innere Kraft auf, um geduldig, mit sanfter Güte dem letzten Willen ihres Bruders auch nach dieser Seite hin gerecht zu werden. Beide Frauen berührten mit keinem Wort die Vergangenheit; desto mehr sprach sie, »der vergötterte Liebling der ganzen zivilisierten Welt«, von ihren Triumphen, ihren Genüssen, in der unumstößlichen Überzeugung, daß sie in wenigen Wochen wieder hinausfliegen werde aus der »urlangweiligen Villa, die wie verwunschen in einer vergessenen Weltecke liege, und nicht einmal zwei, drei neue, amüsante Menschengesichter zur Teestunde herbeizulocken vermöge«.
Es war ein herrlicher Junimorgen. Man hatte die Kranke auf die völlig zugfreie zweite Terrasse getragen – denn die Füßchen, die seit drei Jahren schmetterlingshaft und Beifallsstürme erweckend über die Bühne gaukelten, waren »merkwürdigerweise« immer noch zu schwach, um die federleichte, kinderkleine Gestalt auch nur zwei Schritte weit zu tragen. Ein Zeltdach schützte sie vor dem blendenden, belästigenden Sonnenlicht. Sie lag fröstelnd auf ihrem Ruhebett, in wärmende Decken gehüllt; nur der in blaue Atlasfalten und reiche Spitzengarnierungen vergrabene Oberkörper lag frei, und auch jetzt in seiner hilflosen Zusammengesunkenheit noch kokett anmutig auf dem Polster. Schön war dieses totenbleiche Gesicht immer noch, die Lieblichkeit der Züge war selbst dem grausam verzerrenden Tod unerreichbar.
Mißmutig rührte sie mit dem Löffel in ihrer Frühstücksschokolade. »Ich weiß nicht – der Koch muß ein besonderes Vergnügen darin finden, mir meine Schokolade immer homöopathischer zu mischen – ich kann das elende Gebräu nicht trinken und bitte mir für künftig Kaffee aus,« sagte sie, die Tasse wegschiebend, kurz und herb zu der Majorin, die eben kam, um nach ihr zu sehen.
»Der Kaffee ist Ihnen streng verboten,« antwortete sie ruhig.
»Ja, ja – verboten!« antwortete die kleine Frau, den Ton ihrer Schwiegermutter ungezogen nachäffend – man sah den alten unbezwinglichen Haß in ihren grünschimmernden Augen aufglühen. »Hier in dieser trostlosen Villa wird das Wort mit unvergleichlicher Beharrlichkeit von jung und alt, hoch und niedrig mir armem Wurm gegenüber gehandhabt. Ich habe diese Plackerei satt, aber so satt – bis zum Ekel!... Und diese Herren Ärzte – daß sich Gott erbarm' – es ist einer immer dümmer als der andere! – können nicht einmal mit einem armseligen Katarrh fertig werden;« – sie hustete, und das Taschentuch, das sie danach von den Lippen wegnahm, war mit hellem Blut gefärbt – »um solch ein paar Blutstropfen schlagen sie einen Lärm, als ginge es ans Leben, an mein junges, herrliches, vielbeneidetes Leben – bah, Blödsinn!« fügte sie mit schwacher Stimme und fieberisch glänzenden Augen hinzu, während die Majorin sich anschickte, das Zelt zu verlassen.
»Ich bitte Sie, tun Sie mir den einzigen Gefallen und schließen Sie dort die Terrassentür in Mercedes' Salon – meinetwegen auch die dickseidenen Vorhänge!« rief sie ihrer Schwiegermutter nach, die sofort zurückkam. – Man konnte vom Zelt aus durch eine weit offene Glastür in ein schönes Erdgeschoßzimmer hinaufblicken, von dessen tiefer Wand sich die Gestalten eines Bildes ergreifend lebensvoll abhoben. – »Ich habe mich schon in Baron Schillings Atelier mehr als genug vor dieser greulichen, hugenottischen Frauengruppe entsetzt und ›gegrault‹« – fuhr die kleine Frau nervös ärgerlich fort – »und nun tritt sie mir auch hier, wie das aufdringliche Fatum, immer wieder vor die Augen... Mercedes ist nicht recht klug, daß sie solch schauderhafte Bilder kauft und ihren sonst ganz leidlich hübschen Salon damit verdirbt.«
Sie griff grollend in die dicken Büschel aufgeblühter, weißer Rankrosen, die seitwärts über das Bronzegitter der Terrasse herüberschaukelten, und zerpflückte sie, die Blätter im gedankenlosen Spiel über die seidene Decke hinstreuend. Dann richtete sie sich auf und warf sich eine Handvoll der weißen Kelchblätter über die dunkeln, sorgfältig geordneten Locken – sie sah aus, wie von Schneeflocken überrieselt.
Die Majorin wandte sich weg und sah über das weite, herrliche Blumenbeet und den Rasen hin, die sich zu Füßen der Terrassen ausbreiteten. Die Empörung über das bodenlos kindische Gebaren der jungen Frau schnürte ihr die Kehle zu; und doch verriet kein Zug ihres ernsten Gesichtes, daß sie diese Sterbende hasse und verachte bis in den Tod hinein – sie dachte an die Kinder, denen sie das Leben gegeben, und bezwang sich.
»Ich möchte Paula haben,« sagte die heisere, schwache, eigensinnige Stimme hinter ihr.
»Die Kleine macht mit Deborah ihren Morgenspaziergang – sie wird im Augenblick nicht herbeizuschaffen sein,« versetzte die Majorin gelassen. »Aber José höre ich eben zurückkommen.«
Gleich darauf sah man drei Reiter in den breiten Durchhau einlenken, der den Waldpark von der Villa aus in seiner ganzen Tiefe durchschnitt und einen herrlichen Ausblick auf die fern sich hinstreckende Stadt gewährte.
Ruhig, gleichsam noch in den Genuß des Morgenrittes versunken, kamen die Reitenden näher und näher – es war Donna Mercedes mit José und dessen Hauslehrer. Dem