all ihre Ängste und Sorgen anvertrauen konnte, und jemanden, der sie und ihren Sohn beschützte. Zwar konnte Keena gut auf sie beide aufpassen, aber ein Paar zusätzlicher Augen und Hände wären von Vorteil.
Doch so jemanden gab es auf dieser Welt wahrscheinlich nicht mehr.
Keena trug Kevin durch das luxuriöse Penthouse, das sie jetzt für sich und ihren Sohn beanspruchte, aber vor der Seuche einmal einem reichen Geschäftsmann gehört haben mochte, und trat hinaus auf die große Dachterrasse. Hier oben, von der 15. Etage aus, hatten sie eine wundervolle Sicht auf die riesige Stadt mit ihren unzähligen großen und kleinen Häusern, dem weitläufigen Park mit dem Badesee, den inzwischen die Natur zurückerobert hatte, sowie den quadratisch angelegten Straßen mit den verstaubten Autos und Bussen. Von hier aus erkannte Keena sogar die Berge am Horizont.
Doch was nützte ihnen der schönste Ausblick, wenn es nicht mehr viel zu beobachten gab? Die Stadt war seit drei Jahren tot. Nichts regte sich mehr – kein Verkehr, keine wuselnden Menschenmassen auf ihrem Weg zur Arbeit und kein Lärm, der zu ihnen heraufdringen konnte. Alles war still und verlassen, bis auf das Surren einiger Insekten und das Blöcken der Wildtiere, von denen immer mehr ihren Weg aus den Waldzonen in die leere Stadt fanden. Aber wenigstens waren Keena und ihr Sohn hier oben sicher – zumindest vor den Tumbern.
Sie blickte zu den Ruinen und verbrannten Häusern und war froh, dass das große Feuer vor zwei Jahren diesen Stadtteil verschont hatte. Wie durch ein Wunder hatten sie überlebt.
Keena setzte ihren Sohn auf der Terrasse ab und kniete sich vor ihn. »Du kennst unser geheimes Zeichen?«
»Jaaaa, Mami.« Kevin rollte mit den Augen. »Ich bin kein Baby mehr.«
»Mach es mir vor. Hier, an der Scheibe.« Keena ließ ihren Sohn nicht gern allein in der großen Wohnung zurück, doch Kevin hatte sich von seinem Fieber noch nicht ganz erholt. Falls sie vor einem Tumber fliehen mussten, würde sie ihn tragen müssen. Aber dafür fühlte sie sich heute nicht stark genug. Sie befürchtete, dass ihr Sohn sie angesteckt hatte. Also musste sie so schnell wie möglich genug zu essen und trinken besorgen, bevor das Fieber bei ihr zuschlug. Hoffentlich war es nur ein harmloses Virus und nicht die Seuche, die alle dahingerafft hatte. Aber dann hätte sich Kevin nicht erholt. Keena hatte Todesängste um ihren Schatz ausgestanden. Was hätte sie getan, wenn er gestorben wäre? Sie hätte auch nicht mehr leben mögen.
Kevin klopfte zweimal kurz, dreimal lang und einmal kurz.
»Sehr gut, mein Schatz! Und du öffnest nur, wenn du genau dieses Klopfen hörst, verstanden? Du machst auch nicht auf, wenn jemand behauptet, Mami steht vor der Tür.«
»Ja, Mami. Ich weiß das! Ich bin doch schon ein großer Mann, der dich vor allem Bösen beschützen wird.«
»Ich hab dich lieb.« Keena drückte ihren Sohn noch einmal, schnappte sich ihren Rucksack, den Köcher mit den Pfeilen sowie ihren Bogen und verließ die Wohnung. Sie sperrte die Tür niemals ab, damit Kevin raus kam, sollte sie nicht zurückkehren. Sie hatte ihm zwar beigebracht, wie man da draußen überlebte – er besaß eine kleine Armbrust, mit der er bereits hervorragend schießen konnte –, doch er war noch so klein. Was würde er nur ohne sie machen? Wie lange würde er überleben? Wie sollte er sich gegen einen Tumber wehren?
Sie durfte nicht daran denken!
Im Laufschritt nahm sie die fast dreihundert Stufen (die sie und Kevin viele Male gezählt hatten), denn der Aufzug funktionierte schon lange nicht mehr. Und der Strom würde auch nicht mehr wiederkommen.
Als sie endlich in der Eingangshalle war, schwitzte sie und ihre Beine fühlten sich wie Gummi an. Kevin hatte sie tatsächlich angesteckt.
Keena vergewisserte sich, dass ihr Messer sowie der Revolver noch im Gürtel ihrer kurzen Hose steckten. Sie ging sparsam mit den Patronen um und erlegte ihr Essen oder einen Tumber lieber mit dem Bogen. Ein Pfeil verursachte auch kein Geräusch, das weitere Tumber anzog.
Sie musste sich beeilen.
***
Blake lugte hinter einem Fahrzeug hervor und beobachtete, wie die Frau aus der Drehtür des Hochhauses trat. Er hatte schon auf sie gewartet. Erst blickte sie sich um, anschließend rechts und links die Straße hinunter. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Gut!
Wie so oft hatte sie ihren Bogen dabei. Blake hatte sie schon einige Male damit schießen sehen. Sie beherrschte die Waffe gut und sie erinnerte ihn damit an eine Amazone, was auch an ihrem Outfit lag. Sie trug kniehohe Stiefel, Shorts und ein bauchfreies Shirt. Ihr Haare hatte sie zu mehreren Zöpfchen geflochten und im Nacken zusammengebunden. Schwarzer Lidschatten umrahmte ihre großen Augen, wahrscheinlich, damit die Sonne sie nicht blendete.
Sie sah verdammt heiß aus.
Als sie losmarschierte, folgte Blake ihr unauffällig. Er wusste, wohin sie wollte: zum Mega-Store. Da würde sie für sich und den Jungen Vorräte holen, wie fast jeden Tag. Doch das Kind war heute wieder nicht dabei.
Blake spionierte dieser jungen Frau schon seit einigen Tagen hinterher. Mittlerweile war er sich ziemlich sicher, dass sie und der Kleine keine Tumber waren. Dazu erschienen sie ihm zu gesund und verhielten sich zu normal. Also wollte er sie heute ansprechen, doch er musste behutsam vorgehen, jeden Schritt sorgfältig planen. Sie wirkte stets nervös, und er wollte sie auf keinen Fall erschrecken. Schließlich waren sie beide bewaffnet. Blake wollte das Risiko nicht eingehen, dass jemand von ihnen verletzt oder getötet wurde.
Er sehnte sich sehr danach, einfach mal »Hallo, wie geht’s?« zu sagen. Er musste wieder unter Menschen. Unter »normale« Menschen. Er war viel zu lange allein. Schließlich war der Mensch kein Einzelgänger, sondern ein Herdentier. Er zumindest. Das Alleinsein machte ihm zu schaffen, weswegen er irgendwann noch verrückt werden würde.
Gerade betrat die Frau den Supermarkt durch ein eingeschlagenes Fenster, und Blake duckte sich hinter einer umgestürzten Mülltonne.
Seine Hände zitterten leicht, als er sich durchs Haar fuhr, und innerlich bereitete er sich schon auf ihr Zusammentreffen vor. Verdammt, warum war er so nervös? Er wollte sie doch nicht um ihre Hand anhalten. Nur ein wenig mit ihr plaudern. Das musste doch zu bewerkstelligen sein!
Plötzlich bewegte sich hinter ein paar umgefallenen Einkaufswagen etwas. Sofort zog Blake die Pistole aus dem Hosenbund und hielt sich die Hand über die Augen, da ihn die Sonne trotz getönter Brille blendete. Erst bemerkte er nur einen dunklen Schatten, dann erkannte er einen großen Mann in einem schwarzen Mantel, der eine Sonnenbrille und eine dunkelblaue Kappe trug. Es war ein Tumber, keine Frage, die gekrümmte Haltung verriet ihm das sofort.
Vor fünf Generationen hatten seine Vorfahren die Erde verlassen, um hierher, nach Terra Nova, umzusiedeln, weil sich die Lebensbedingungen auf ihrem Planeten drastisch verschlechtert hatten: Überbevölkerung, Nahrungsmittelknappheit, verseuchte Luft, Kriege … um nur einige Beweggründe für ihre Flucht zu nennen.
Auf Terra Nova fingen alle auf dem Stand des 20. Jahrhunderts an, da die klügsten Männer der Erde der Meinung gewesen waren, dass der rasante Fortschritt das Ende ihres Heimatplaneten hervorgerufen hatte.
Blake kannte viele Errungenschaften aus Wissenschaft und Technik nur aus Aufzeichnungen. Lediglich das Militär hatte die modernsten Waffen besessen, um vor möglichen Gefahren aus dem All gewappnet zu sein. Aber alles deutete darauf hin, dass sie allein waren.
Nur fünf Generationen – und die Menschen auf Terra Nova hatten es geschafft, sich in ihrer neuen Heimat selbst auszulöschen. Oder vielleicht wollte der Planet sie einfach nicht haben. Es hieß, das Virus sei schon vorher da gewesen. Irgendwann war es mutiert und hatte eine Pandemie ausgelöst. Ganz langsam – nach und nach – hatte es im Laufe eines Jahrzehnts fast eine Milliarde Menschen getötet. Als man endlich eine Schutzimpfung entwickelt hatte, war es schon zu spät gewesen. Alle, die das Virus bereits in sich trugen, konnten nicht mehr gerettet werden. Das Virus war schneller gewesen und hatte sich seinen Planeten zurückerobert. Terra Nova – seine Heimat – war jetzt wie ein Gefängnis für Blake.
Wehmütig dachte er an seine Frau und seine kleine Tochter. Beide waren wenige