»Wenn Marla sich aber weiterhin weigert?«, stellte Fee eine berechtigte Frage.
»Dann müssen wir sie eben so schnell wie möglich überzeugen«, wollte Daniel dieses Argument aber nicht gelten lassen. »Ich will auf keinen Fall, dass Heike weggesperrt wird. Sie ist doch nicht gemeingefährlich.«
»Bist du dir sicher?«, stellte Fee eine Frage, die Daniel verwunderte. Er rückte ein Stück von ihr ab und sah sie an. Sie bemerkte die Verwirrung in seinen Augen und fuhr schnell fort: »Was, wenn sie gestern nicht in eine Ampel, sondern in eine Gruppe mit Fußgängern gefahren wäre? Wenn unbeteiligte Personen zu Schaden gekommen wären? Würdest du dann immer noch sagen, dass sie nicht gemeingefährlich ist?«
Diesem Argument hatte der Arzt nichts entgegen zu setzen.
»Natürlich hast du recht«, seufzte er. Ohne Felicitas aus den Augen zu lassen, nahm er ihre Hände in die seinen. »Ich brauch doch nur ein bisschen Zeit, um sie mit Marla zusammenzubringen. In der Zwischenzeit wird sie sich schon nicht in ein Auto setzen«, tat er seine Hoffnung kund.
Diese Bemerkung quittierte Fee mit einem Lächeln, das aber zu Daniels Bedauern ebenso schnell wieder verschwand.
»Du weißt, was Marla hinter sich hat.«
»Das ist mir klar. Aber ich weiß auch, was sie vor sich hat. Eine Hochzeit«, spielte Dr. Norden den Trumpf aus, den er noch in der Tasche hatte. »Vielleicht stimmt sie diese Tatsache doch noch versöhnlich. Einen Versuch ist es immerhin wert, oder?« Da er die Antwort seiner Frau schon kannte, beugte er sich vor und nahm die beiden Gläser vom Tisch. Eines reichte er Fee, ehe er mit ihr anstieß. »Auf Marla und ihre Mutter!«
Dem war nichts , und Fees Augen leuchteten vor Hoffnung, als die Gläser aneinander klangen.
*
An diesem Abend hatte Dr. Lammers nur darauf gewartet, dass seine Chefin Felicitas Norden endlich die Klinik verließ. Er blieb noch eine Weile auf der Station, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich gegangen war und nicht noch einmal zurückkam. Als er wirklich sicher sein konnte, machte auch er endlich Feierabend. Allerdings wählte er nicht den direkten Weg aus der Klinik, sondern wanderte mit Unschuldsmiene durch die Station, auf der Heike Moebius untergebracht war. Er war auf der Suche nach jemandem, der ihm den Zustand dieser Patientin bestätigen konnte.
Dr. Lammers hatte Glück. Er stieß auf Schwester Elena, die vor einer halben Stunde ihren Dienst angetreten hatte.
»Nanu, Dr. Lammers, was machen Sie denn um diese Uhrzeit noch hier?« Sie stand am Wagen mit den Akten und trug eine Medikamentengabe ein.
Lammers lächelte.
»Ach, Sie wissen doch, wie das so ist. Da will man die Klinik mal pünktlich verlassen und dann kommt noch dieses und jenes daher«, antwortete er.
»O ja, das kenne ich«, seufzte Elena. »Ich habe gerade so eine Patientin. Trotz des Schlafmittels, das meine Kollegin Frau Moebius schon vor einer Stunde verabreicht hat, ist sie vor ein paar Minuten immer noch hier herumgegeistert. Deshalb musste ich eine Dosis nachlegen. Wahnsinn, was sie wegstecken kann.«
»Warum wirken die Medikamente bei dieser Patientin denn nicht?«, schützte Dr. Lammers Unwissenheit vor.
Schwester Elena zuckte mit den Schultern.
»Das weiß ich ehrlich gesagt nicht so genau. Offenbar leidet sie manchmal unter Verfolgungswahn. Dabei ist sie eigentlich sehr nett.« Sie legte den Kugelschreiber an die Lippen und dachte einen Augenblick nach. »Seltsam, eigentlich passt das alles gar nicht zusammen. Man könnte den Eindruck bekommen, dass die Patientin an einer dysfunktionalen Störung leidet«, teilte sie ihren Eindruck mit dem Kinderarzt.
»Alle Achtung. Sie kennen sich ja ganz schön gut aus mit solchen Patienten«, sparte Dr. Lammers nicht mit Lob und brachte Elena damit zum Lachen.
»Ach was«, winkte sie unbeschwert ab. »Ich interessiere mich nur sehr für Psychologie. Deshalb arbeite ich auch so gern mit Frau Dr. Norden zusammen. Sie hat so viel Ahnung von dieser Materie«, machte sie keinen Hehl aus ihrer Bewunderung für die stellvertretende Chefin der Pädiatrie.
Volker Lammers’ Magen zog sich vor Ärger zusammen. Doch nach außen war ihm nichts anzumerken. Er suchte noch nach einer passenden Erwiderung, als plötzlich Schreie aus einem der Zimmer ertönten. Eine Tür am anderen Ende des Ganges wurde aufgerissen und eine Frau stürmte laut kreischend heraus. Der Zufall wollte es, dass Heike Moebius direkt auf Schwester Elena und den Kinderarzt zulief.
Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr Atem galoppierte.
»Hilfe! Schwester, helfen Sie mir! Die Männer sind wieder hier. Hilfe!«
Während Elena der Patientin entgegen eilte, blieb Volker Lammers, wo er war, und beobachtete das Geschehen voller Interesse. Für sein Vorhaben hätte ihm gar nichts Besseres passieren können. Voller Genugtuung wartete er, was geschah.
»Frau Moebius, was ist denn passiert? Warum schlafen Sie nicht?«, erkundigte sich Schwester Elena.
»Die Männer … sie wollen mich umbringen!« Heike schnappte nach Luft.
Doch Elena hatte ihrem Vorbild Fee Norden oft genug zugesehen, um zu wissen, was sie zu tun hatte. Sie packte die panische Frau an beiden Oberarmen und zwang sie, ihr in die Augen zu sehen.
»Beruhigen Sie sich, Frau Moebius. Hören Sie mir zu!«, sprach sie laut und deutlich auf ihre Patientin ein. »Sie sind in Sicherheit. Niemand will Ihnen etwas tun. Alles ist in Ordnung.«
Heike starrte die Schwester an. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Doch je länger sie Elenas Stimme lauschte, umso mehr beruhigte sie sich. Nach und nach ging ihr Atem langsamer, und schließlich hatte sie sich so weit beruhigt, dass die Schwester sie wieder auf ihr Zimmer bringen konnte.
Auch Volker Lammers machte sich endgültig auf den Heimweg. Er hatte genug gesehen, um gleich am nächsten Morgen bei der Klinikchefin vorzusprechen. Diesmal musste Jenny Behnisch endlich einsehen, dass Fee Norden und ihr Mann zu weit gegangen waren. Diesmal musste sie Konsequenzen ziehen und ihn zum stellvertretenden Chef der Pädiatrie machen.
*
In der Tat wirkte Dr. Behnisch schockiert über das, was der Kollege Lammers am nächsten Morgen über die Patientin Heike Moebius und das eigenmächtige Handeln ihrer Freunde berichtete. Da traf es sich gut, dass das Telefon klingelte und die Assistentin Andrea Sander ausgerechnet Daniel Nordens Besuch ankündigte. Gleichzeitig forderte die Klinikchefin die Patientenakte an.
»Wunderbar!«, lächelte sie Volker Lammers an, als sie an den Besprechungstisch zurückkehrte. Dort saß der Kollege und wartete auf sie. »Daniel hat um einen Termin bei mir gebeten. Er ist in zwei Minuten hier.«
Tatsächlich öffnete sich nur wenig später die Tür, und Dr. Norden kam herein. Andrea Sanders hatte ihm die Akte Moebius gleich mitgegeben. Als er Lammers sah, konnte er sich nur mit Mühe einen anzüglichen Kommentar verkneifen. Auch wenn er die Spitzelei nicht bemerkt hatte, ahnte er, warum der Kollege dort saß.
»Guten Morgen, die Herrschaften«, grüßte er in die Runde und reichte Jenny die Akte.
»Danke.« Sie bat ihn, Platz zu nehmen und schlug die Mappe auf. »Dasselbe wünsche ich dir. Auch wenn es ein durchaus ernstes Thema gibt, das der Kollege Lammers mir auseinandergesetzt hat«, erklärte sie, während sie den Inhalt der Akte überflog.
»Ich nehme an, er ist aus demselben Grund hier wie ich«, gab Daniel zurück und blitzte den Kinderarzt an.
Schon wollte Volker Lammers den Mund öffnen und eine entsprechende Antwort geben, als Jenny ihm zuvor kam.
»Wir haben alle viel zu tun und keine Zeit für langwierige Diskussionen. Deshalb will ich nicht lange um den heißen Brei herumreden«, wandte sie sich an ihren langjährigen Freund. »Was gibt es über Heike Moebius zu berichten?«
Dr. Norden dachte kurz nach und entschied sich schließlich dafür, über die medizinischen Fakten zu sprechen, wegen der die Patientin eingeliefert worden war.