zerdrücken können; die überbaute Stirn schien auf dem Rande der Brille zu ruhen: die eingefallenen Wangen, von grünlich ungesunder Farbe, waren lediglich durch ein spärliches, dunkles Backenbärtchen belebt. Die ganze erbärmliche Leiblichkeit stand in lächerlichem Gegensatze zu dem übertrieben selbstbewußten Gehaben dieses Mannes. Er sprach abgerissen und hatte eine besonders eindrucksvolle Art zu schweigen.
Ossipon redete nochmals zwischen seinen Händen hervor.
»Warst du heute viel aus?«
»Nein, ich lag den ganzen Morgen zu Bett«, antwortete der andere. »Warum?«
»Oh, nichts«, sagte Ossipon gleichgültig und innerlich doch voll Begierde, irgend etwas herauszubringen; aber die überwältigende Interesselosigkeit des kleinen Mannes schüchterte ihn augenscheinlich ein. So oft er mit diesem Genossen sprach, – was nur selten geschah – litt der große Ossipon schmerzlich unter dem Gefühl geistiger und sogar körperlicher Bedeutungslosigkeit. Immerhin wagte er noch eine Frage: »Bist du zu Fuß bis hierher gegangen?«
»Nein. Omnibus«, gab der kleine Mann rasch genug zurück. Er lebte weit weg in Islington, in einem Häuschen am Ende einer schmutzigen Gasse, die mit Stroh und Papierfetzen übersät war, und wo nach Schulschluß eine Horde gleichgestimmter Kinder schrie und freudearm tobte und lärmte. Das einzelne Hinterzimmer, bemerkenswert nur durch einen übergroßen Tellerschrank, hatte er samt Einrichtung von zwei älteren Fräulein gemietet, kleinen Schneiderinnen, die ihre Kundinnen meist unter Dienstmädchen hatten. Er hatte ein schweres Vorhängeschloß an dem Schrank angebracht, war im übrigen aber ein Mustermieter, der wenig Arbeit machte und so gut wie keine Aufwartung verlangte. Zu seinen Eigenheiten gehörte es, daß er darauf bestand, zugegen zu sein, wenn in seinem Zimmer reinegemacht wurde, und daß er beim Weggehen die Türe absperrte und den Schlüssel mit sich nahm.
Ossipon sah die runden, schwarzgeränderten Brillengläser vor sich, wie sie auf dem Dach eines Omnibusses durch die Straße rollten und ihr selbstbewußtes Glitzern über die Häuserreihen oder über die Köpfe des Menschenstromes wandern ließen, der unten auf dem Pflaster dahintrieb. Der Schatten eines bleichen Lächelns ließ Ossipons dicke Lippen zucken bei der Vorstellung, daß beim Anblick dieser Brillengläser die Mauern wankten, und die Menschen um ihr Leben zu rennen begannen. Wenn sie nur wüßten! Die Panik! – Er warf die Frage hin: »Schon lange hier?«
»Eine Stunde oder noch länger«, gab der andere nachlässig zurück und trank einen Schluck Bier. Alle seine Bewegungen – die Art, wie er das Glas faßte, daraus trank, es wieder auf den Tisch setzte und die Arme kreuzte – zeigten eine überlegte, selbstsichere Bestimmtheit, neben der der Muskelriese Ossipon, wie er vornübergelehnt, glotzäugig und mit dicken Lippen dasaß, als die verkörperte Unentschlossenheit wirkte.
»Hm, eine Stunde«, sagte er. »Dann weißt du vielleicht noch gar nicht die Neuigkeit, die ich eben jetzt gehört habe – auf der Straße. Oder doch?« Der kleine Mann verneinte mit einem unmerklichen Kopfruck. Da er aber keinerlei Neugier zeigte, so entschloß sich Ossipon hinzuzufügen, daß er die Neuigkeit grade vor dem Eingang zum Keller gehört habe. Ein Zeitungsjunge hatte ihm die Sache grade ins Gesicht gebrüllt, und da er auf nichts derart vorbereitet war, so hatte es ihn richtig erschreckt. Er war mit trockenen Lippen hier herein gekommen. »Ich dachte nicht daran, dich hier zu treffen«, fügte er träge hinzu, die Ellenbogen immer noch auf dem Tisch.
»Ich komme mitunter hierher«, sagte der andere und bewahrte dabei seine aufreizende Kälte.
»Es ist schon wunderbar, daß gerade du nichts davon gehört haben solltest«, fuhr der große Ossipon fort. Seine Augenlider klappten nervös auf und nieder. »Du allein«, wiederholte er lockend. Der große Bursche fühlte sich unerklärlich eingeschüchtert durch die offenbare Zurückhaltung des kleinen Mannes, der wiederum das Bierglas erhob und es nach einem Schluck mit selbstsicheren Bewegungen niedersetzte. Sonst nichts.
Ossipon wartete auf irgend etwas, ein Wort oder ein Zeichen, und als nichts kam, nahm er einen Anlauf, gleichgültig zu erscheinen. »Gibst du«, fragte er und dämpfte die Stimme noch mehr, »dein Zeug jedem ab, der dich darum fragen kommt?«
»Es ist mein fester Grundsatz, es niemandem zu verweigern – solange ich ein Gramm davon bei mir habe«, gab der andere Mann entschlossen zurück.
»Das ist ein Grundsatz?« wiederholte Ossipon.
»Ein Grundsatz.«
»Und du hältst ihn für richtig?«
Die großen runden Brillengläser, die dem schmalen Gesicht den Ausdruck starren Selbstbewußtseins gaben, wandten sich Ossipon zu, mit dem ewig kalten Schein selbständiger Himmelskörper.
»Gewiß. Durchaus. Unter allen Umständen. Was könnte mich abhalten? Warum sollte ich nicht? Warum sollte ich zweimal darüber nachdenken?«
Ossipon schnappte heimlich nach Luft. »Willst du am Ende sagen, daß du es auch einem ›Verdeckten‹ geben würdest, wenn er dich darum bitten käme?«
Der andere lächelte verloren.
»Laß sie nur den Versuch machen, dann siehst du’s schon. Sie kennen mich, aber auch ich kenne sie alle. Und die kommen mir nicht in die Nähe – die nicht.«
Seine dünnen, blassen Lippen schlossen sich fest. Ossipon gab sich nicht zufrieden.
»Aber sie könnten jemand schicken, dir eine Falle stellen, nicht? Dir das Zeug so herauslocken und dich dann mit Beweisen in der Hand verhaften.«
»Beweise – wofür? Für den Handel mit Sprengstoffen ohne Erlaubnisschein vielleicht.« Das war wohl als verächtlicher Spott gemeint, doch blieb der Ausdruck des mageren, kränklichen Gesichts unverändert, und die Worte wurden hingeworfen. »Ich glaube nicht, daß einer von ihnen sich darum reißen wird, die Verhaftung vorzunehmen. Ich glaube nicht, daß irgendeiner es auf einen Versuch ankommen lassen würde, auch der beste nicht.«
»Warum?« fragte Ossipon.
»Weil sie sehr gut wissen, daß ich mich niemals von der letzten Handvoll meiner Ware trenne, die habe ich immer bei mir.« Er klopfte leise auf seine Brusttasche. »In einer dicken Glasflasche«, fügte er hinzu.
»So wurde mir gesagt«, meinte Ossipon leicht überrascht. »Ich wußte aber nicht, ob – –«
»Sie wissen es«, unterbrach ihn der kleine Mann hart und bog sich gegen die Lehne seines Stuhles zurück, die seinen kümmerlichen Kopf überragte. »Ich werde niemals verhaftet werden. Der Spaß käme jedem unter den Polizeileuten zu teuer. Mit einem Mann wie mir anzubinden, das verlangt blankes, nacktes, ruhmloses Heldentum.«
Wieder schlossen sich seine Lippen mit einem trotzigen Ruck. Ossipon unterdrückte eine Bewegung der Ungeduld.
»Oder Rücksichtslosigkeit – oder einfach Unkenntnis«, wandte er ein. »Sie brauchen nur jemand zu finden, der nicht weiß, daß du Sprengstoff genug bei dir trägst, um dich selbst und alles in sechzehn Meter Umkreis mit dir in Stücke zu reißen.«
»Ich habe nie behauptet, daß ich nicht beseitigt werden könnte,« stimmte der andere bei, »doch das wäre keine Verhaftung, und überdies ist das auch nicht so leicht, wie es scheint.«
Ossipon widersprach. »Oh, sei du dessen nicht gar zu sicher. Wie denn, wenn ihrer ein halb Dutzend dich auf der Straße von hinten anspringen? Wenn man dir die Arme an den Körper preßt, so könntest du wohl nichts tun – oder?«
»Ja, doch. Ich bin selten nach Dunkelwerden unterwegs«, sagte der kleine Mann unbewegt, »und niemals zu später Stunde. Beim Gehen halte ich immer die Hände in der Hosentasche um einen Gummiball geschlossen. Ein Druck auf diesen Ball betätigt den Zünder in der Glasflasche, die ich an der Brust trage. Die Auslösung ist die gleiche wie beim Momentverschluß eines photographischen Apparats. Ein Schlauch geht hinauf –«
Mit einer kurzen Gebärde gab er Ossipons Blick ein Stück Gummi frei, das wie ein dünner, brauner Wurm aus dem Ärmelloch seiner Weste kroch und in der inneren Brusttasche seiner Jacke verschwand. Seine Kleider von unbestimmtem Braun waren abgetragen und fleckig, in den Falten verstaubt,