Джозеф Конрад

Gesammelte Werke von Joseph Conrad


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Hilfe von Kunst, besonderen Gaben, Takt, Reichtum – sondern durch das bloße Gewicht des Verdienstes erreicht werden sollte. In diesem Punkte fühlte er sich des unbedingtesten Erfolges sicher. Sein Vater, ein Enthusiast von schwacher Gesundheit, mit fliehender Stirne, war ein gern gehörter Wanderprediger irgendeiner unbekannten, aber strengen christlichen Sekte gewesen, ein Mann, der sich auf das Vorrecht seiner Ehrbarkeit viel zugute tat. In dem Sohn, einem Einzelgänger von Geburt, verdrängte das Schulwissen jeden Glauben an die Wirksamkeit von Bet-Zirkeln und setzte sich in glühend überspannten Ehrgeiz um, den er wie eine heilige Flamme nährte. Als diesem Ehrgeiz nicht Genüge geschah, gingen ihm die Augen auf für das wahre Wesen der Welt und ihre verkünstelte, verderbte und lästerliche Moral. Selbst den gerechtesten Revolutionen wird durch sehr persönliche Beweggründe, die dann zu Glaubenssätzen umgeformt werden, der Weg bereitet. Der Professor fand für seine Entrüstung in sich selbst einen Grund, der ihn der Peinlichkeit enthob, aus Ehrgeiz zum Zerstörer werden zu müssen. Den allgemeinen Glauben an Gesetzmäßigkeit zerstören zu wollen, war nur die nicht ganz deckende Formel für seinen pedantischen Fanatismus, doch im Unterbewußtsein getragen von der klaren Erkenntnis, daß das Fachwerk einer bestehenden Gesellschaftsordnung ohne Gewaltanwendung in großem oder kleinem Maßstabe nicht erschüttert werden könne. Für ihn stand es fest, daß er eine moralische Sendung hatte. Und indem er sich ihr mit ganzer Seele hingab, verschaffte er sich auch den Anschein von Macht und persönlicher Haltung. Das durfte er sich bei aller rachsüchtigen Bitterkeit doch eingestehen. Es schläferte seine Unrast ein; und auf ihre Art suchen vielleicht die glühendsten Revolutionäre nichts weiter als den Frieden mit der übrigen Menschheit, einen Frieden gesättigter Eitelkeit, erfüllter Wünsche oder vielleicht nur beruhigten Gewissens.

      Verloren in der Menge, elend und unter Mittelgröße, sann er stolz seiner Macht nach und hielt dabei mit der Hand in der linken Hosentasche den Gummiball umklammert, den letzten Bürgen seiner traurigen Freiheit; nach einiger Zeit jedoch kam ihm die Überfüllung der Straße mit Fahrzeugen und der Gehwege mit Menschen störend zum Bewußtsein. Er befand sich in einer langen, geraden Straße, die wohl nur von einem geringen Bruchteil einer unendlichen Menge erfüllt war. Er aber fühlte rings um sich, um und um, bis zu den Grenzen des Horizontes hinter den Ziegelbergen, die Macht der Menschen in ihrer Masse. Sie schwärmten zahllos wie Heuschrecken, fleißig wie die Ameisen und gedankenlos wie eine Naturgewalt, drängten blind dahin, jeder für sich, und doch auf Ordnung bedacht, und waren dem Gefühl so wenig zugänglich wie der Logik, oder vielleicht sogar dem Schrecken.

      Das war der Zweifel, den er mehr als alles fürchtete – dem Schrecken nicht zugänglich! Oftmals während seiner Wanderungen, wenn er mit sich selbst uneins war, hatte er solche Anfälle drückender und tiefer Menschenverachtung. Wie, wenn sie überhaupt nicht in Bewegung zu bringen wären? Solche Augenblicke sind all denen vertraut, die nach unmittelbarer Herrschaft streben – Künstlern, Politikern, Denkern, Reformern oder Heiligen. Das ist ein jämmerlicher Gemütszustand, gegen den einem überlegenen Charakter die Einsamkeit hilft. Und mit innerlichem Triumph stellte sich der Professor seine sicheren vier Wände vor, den Raum mit dem verschlossenen Tellerschrank, verloren in einem Gewirr armseliger Häuser, die Klause des wahren Anarchisten. Um die Haltestelle seines Omnibusses früher zu erreichen, bog er plötzlich aus der belebten Straße in einen engen, schlecht erleuchteten Durchgang ab, der mit Steinplatten gepflastert war. Die niedrigen Ziegelbauten auf der einen Seite hatten in ihren verstaubten Fensterscheiben den blinden, sterbenden Blick unrettbaren Verfalls, leere Schalen, die der Zerstörung harrten. Denen auf der anderen Seite war das Leben noch nicht ganz entflohen. Grade bei der einzigen Gaslampe gähnte die Höhle eines Altwarenhändlers, wo sich ein schmaler Pfad durch einen wilden Urwald von Kleidungsstücken wand und aus einem Dickicht von Tischbeinen ein schmaler Pfeilerspiegel wie ein Waldweiher blinkte. Eine armselige, heimatlose Bettstatt, begleitet von zwei alleinstehenden Stühlen, zierte den Eingang. Das einzige menschliche Wesen, das außer dem Professor den Durchgang benützte, kam stramm und gerade aus der entgegengesetzten Richtung und hielt seinen wiegenden Schritt plötzlich an.

      »Hallo«, sagte der andere und trat aufmerksam ein wenig zur Seite.

      Der Professor war schon stehen geblieben, mit einer raschen Wendung, die seine Schulter nahe an die andere Mauer brachte. Die rechte Hand ruhte leicht auf der Lehne der verkommenen Bettstatt, die linke blieb tief in der Hosentasche verborgen; die schwarzgeränderten Brillengläser gaben dem Gesicht einen eulenhaften Ausdruck.

      Es war wie ein Zusammentreffen in dem Seitengang eines vollbesetzten Gasthofes; der stramme Mann war in einen dunklen Überzieher eingeknöpft und trug einen Regenschirm. Sein weit zurückgeschobener Hut ließ eine Stirne sehen, die im Dämmerlicht sehr weiß wirkte. Aus dunklen Augen blitzten durchbohrend die Augen. Ein langer, hängender Schnurrbart in der Farbe reifen Korns umrahmte den viereckigen Block des glattrasierten Kinns.

      »Ich bin nicht auf der Suche nach Ihnen«, sagte er kurz.

      Der Professor rührte sich nicht. Die gedämpften Geräusche der Riesenstadt sanken zu undeutlichem Murmeln herab. Hauptinspektor Heat, von der Abteilung für besondere Verbrechen, änderte den Ton.

      »Keine Eile, nach Hause zu kommen?« sagte er mit gemachter Schlichtheit.

      Der elende kleine Sendbote der Zerstörung fühlte stummen Jubel angesichts der Wirkung, die von ihm ausging, da er es vermochte, diesen Mann, dem die Verteidigung der bedrohten Gesellschaft oblag, in Schach zu halten. Glücklicher als Caligula, der, um seinen Blutdurst besser stillen zu können, dem römischen Senat nur einen Kopf wünschte, sah er in diesem einen Mann alle die Mächte verkörpert, die er herausgefordert hatte: die Macht des Gesetzes, des Eigentums, der Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Alle seine Feinde sah er in ihm und trat ihnen furchtlos entgegen, zur äußersten Befriedigung seiner Eitelkeit. Sie standen bestürzt vor ihm wie vor einem schlimmen Vorzeichen. Er frohlockte innerlich über dieses zufällige Zusammentreffen, das ihm seine Überlegenheit über die Masse der Menschheit bestätigte.

      Es war tatsächlich ein zufälliges Zusammentreffen. Hauptinspektor Heat hatte einen bösen Arbeitstag gehabt, seit kurz vor elf Uhr vormittags das erste Telegramm aus Greenwich bei seiner Abteilung eingelaufen war. Peinlich genug war vor allem schon die Tatsache, daß der Anschlag kaum eine Woche nach dem Tag erfolgt war, wo er einem hohen Beamten versichert hatte, daß durchaus kein Ausbruch anarchistischer Tätigkeit zu befürchten sei. Wenn überhaupt je, so war er damals seiner sicher gewesen, als er diese Behauptung aufstellte. Er hatte es mit größtem Vergnügen getan, denn es lag auf der Hand, daß der hohe Beamte eben dies zu hören wünschte. Er hatte versichert, daß an nichts derart auch nur gedacht werden könnte, ohne daß die Abteilung innerhalb vierundzwanzig Stunden davon erführe; und er hatte so in dem Bewußtsein gesprochen, der große Sachverständige seiner Abteilung zu sein. Er hatte sich sogar zu Worten verleiten lassen, die wahre Weisheit vielleicht zurückgehalten hätte. Aber Hauptinspektor Heat war nicht sehr weise, wenigstens nicht wahrhaft weise. Wahre Weisheit, für die nichts in dieser Welt der Widersprüche feststeht, hätte ihn daran gehindert, seine jetzige Stellung zu erreichen. Sie hätte seine Vorgesetzten beunruhigt und seine Aussichten auf Beförderung verschüttet. Er war sehr rasch aufgestiegen.

      »Nicht einer ist darunter, Herr, auf den wir nicht zu jeder Stunde bei Tag und Nacht die Hände legen könnten. Wir wissen, was jeder von ihnen Stunde um Stunde tut«, hatte er erklärt, und der hohe Beamte hatte zu lächeln geruht. Das waren so ganz offenbar die rechten Worte für einen Offizier von Hauptinspektor Heats Ruf, daß es ein wahres Vergnügen war, ihnen zuzuhören. Der hohe Beamte glaubte der Versicherung, die sich so ganz seinem Bild von der Sachlage einfügte. Sein Wissen war mehr amtlicher Art, sonst hätte er vielleicht eine Tatsache in Betracht gezogen, die weniger durch die Theorie, als durch die Erfahrung bestätigt wurde, daß nämlich in dem eng gewobenen Netz von Beziehungen zwischen Polizei und Verschwörern auch weitere Maschen mit unterlaufen, plötzliche Lücken in Raum und Zeit. Ein bekannter Anarchist mag Zoll um Zoll und Minute um Minute überwacht werden, und doch kommt ein Augenblick, wo er irgendwie für einige Stunden ganz außer Sicht und Fühlung kommt, und in dieser Zeit geschieht dann etwas mehr oder weniger Betrübliches (meistens eine Explosion). Der hohe Beamte aber, befangen in der günstigen Beurteilung der Sachlage, hatte gelächelt, und die Erinnerung an dieses Lächeln war nun für Hauptinspektor Heat, den ersten Sachverständigen in der Bekämpfung des Anarchismus,