Der Alte nickte. »Ja, ja«, sagte er, »ich hab es mir lassen sauer werden; aber der Junge darf doch nicht zu schwer zu sitzen kommen.«
Der Sohn, der bisher rauchend in der Ecke gesessen, mischte sich jetzt in das Gespräch. »Es kommt auch noch die Abnahme dazu«, sagte er und räusperte sich ein paarmal, »der Alte lebt noch sein artlich Ende weg.«
Der Justizrat blickte mit seinen grauen Augen auf den vierschrötigen Bauer hinab. »Ist das Euer Sohn, Wiesmann?« fragte er, indem er auf einen neben dem Bette spielenden Jungen zeigte. – »So laßt ihn hinausgehn, wenn Ihr vielleicht noch mehr zu reden habt!«
Der Mensch schwieg; aber seine Augen begegneten mit einem fast drohenden Ausdruck denen des Justizrats.
Der Greis strich mit seiner harten Hand über das Deckbett und sagte ruhig: »Es wird nicht gar so lange, Jakob. – Aber«, setzte er, zum Justizrat gewandt hinzu, »er muß mich dann nach Dorfs Gebrauch zur Erde bringen lassen; das kostet auch.« – –
Die junge Dame verschwand lautlos, wie sie gekommen, aus der offenen Tür, in der sie während dieses Vorganges gestanden hatte.
Draußen sah sie Rudolf jenseit des Gartens im Gespräche mit dem Mühlknappen; aber sie wandte sich ab und ging einen Fußsteig entlang, der unterhalb der Mühle an den Bach hinabführte. Ihre Augen schweiften bewußtlos in die Ferne; sie sah es nicht, wie die Dämmerung vor ihr auf die Berge sank, noch wie allmählich, während sie hier auf und ab wandelte, der Mond hinter ihnen emporstieg und sein Licht über das stille Tal ergoß. Das Leben in seiner nackten Dürftigkeit stand vor ihr, wie sie es nie gesehen; ein endloser öder Weg, am Ende der Tod. Ihr war, als habe sie bis jetzt in Träumen gelebt, und als wandle sie nun in einer trostlosen Wirklichkeit, in der sie sich nicht zurechtzufinden wisse.
Es war schon spät, als die Stimme ihres Mannes sie auf das Gehöft zurückrief, wo sie an der Tür von ihm erwartet wurde. – Auf dem Heimwege ging sie schweigend neben ihm, ohne zu fühlen, wie seine Augen teilnehmend auf ihr ruhten. »Du bist erschreckt worden, Veronika!« sagte er und legte die Hand an ihre Wange; »aber«, fügte er hinzu, »das Maß der Dinge ist für diese Leute ein anderes; sie sind, wie gegen die Ihrigen, so auch härter gegen sich selbst.«
Sie sah einen Augenblick zu dem ruhigen Antlitz ihres Mannes auf; dann aber blickte sie zur Erde und ging demütig an seiner Seite.
Ebenso schweigsam folgte Rudolf neben dem alten Schreiber. Seine Augen hingen an der vom Mond beleuchteten Frauenhand, die noch vor kurzem so willenlos in der seinen gelegen und die er nun zur guten Nacht noch einmal, wenn auch auf einen Augenblick nur, zu umfassen hoffte. – Aber es wurde anders; denn, als sie in die Nähe der Stadt kamen, sah er die kleinen Hände, eine nach der andern, in ein Paar dunkler Handschuhe gleiten, die, wie er wohl wußte, Veronika sonst nur der vollständigen Toilette wegen bei sich zu tragen pflegte. Endlich hatten sie das Haus erreicht; und ehe er sich dessen in seinem Unmut recht bewußt wurde, empfand er schon die flüchtige Berührung der verhüllten Finger an den seinen. Mit einem vernehmlich gesprochenen »Gute Nacht!« hatte Veronika die Tür geöffnet und war, ihrem Manne voraus, im Dunkel des Flures verschwunden.
Palmsonntag
Der Vormittag des Palmsonntags war herangekommen. Die Straßen der Stadt wimmelten von Landleuten aus den benachbarten Dörfern. Im Sonnenschein vor den Türen der Häuser standen hie und da die Kinder der protestantischen Einwohner und blickten hinab nach dem offenen Tor der katholischen Kirche. Es war der Tag der großen Osterprozession. – Und jetzt läuteten die Glocken, und der Zug wurde unter der gotischen Torwölbung sichtbar und quoll auf die Gasse hinaus. Voran die Waisenknaben mit ihren schwarzen Kreuzchen in den Händen, nach ihnen die barmherzigen Schwestern in den weißen Schleierkappen, dann die verschiedenen städtischen Schulen und endlich der ganze unabsehbare Zug von Landleuten und Städtern, Männern und Weibern, von Kindern und Greisen; alle singend, betend, mit ihren besten Kleidern angeputzt, Männer und Knaben barhäuptig, die Mützen in den Händen haltend. Darüber her in gemessenen Zwischenräumen, auf den Schultern getragen, ragten die kolossalen Kirchenbilder: Christus am Ölberge, Christus von den Knechten verspottet, in der Mitte hoch über allen das ungeheure Kruzifix, zuletzt das Heilige Grab.
Die Damen der Stadt pflegten sich an dieser öffentlichen Feierlichkeit nicht zu beteiligen. –
Veronika saß in ihrem Schlafgemach halb angekleidet an einem Toilettentischchen. Vor ihr lag aufgeschlagen ein kleines Testament in Goldschnitt, wie es die katholische Kirche ihren Angehörigen gestattet. Sie schien sich über dem Lesen vergessen zu haben; denn ihr langes schwarzes Haar hing aufgelöst über das weiße Nachtkleid herab, während ihre Hand mit dem Schildpattkamme müßig in ihrem Schoße lag.
Als das Getöse des nahenden Zuges ihr Ohr erreichte, hob sie den Kopf empor und lauschte. Immer deutlicher kam es heran, das dumpfe Geräusch der Schritte, das singende eintönige Murmeln der Gebete. – »Heilige Maria, Mutter der Gnaden!« erscholl es vor dem Fenster, und von hinten aus dem Zuge kam es gedämpft zurück: »Bitte für uns arme Sünder jetzund und in der Stunde des Todes!«
Veronika sprach die vertrauten Worte leise mit. Sie hatte den Stuhl zurückgeschoben; mit herabhängenden Armen stand sie in der Tiefe des Zimmers, die Augen unablässig nach dem Fenster gerichtet. – Immer neue Menschen kamen und gingen, immer neue Stimmen erschollen, ein Bild nach dem andern wurde vorübergetragen. – Da plötzlich durchdrang ein herzerschütternder Ton die Luft. Das castrum doloris nahte sich, unter Posaunenschall, umdrängt von Menschen, gefolgt von den Meßdienern und den vornehmsten Priestern in feierlichem Ornate. Die Bänder flatterten, der schwarze Flor des Thronhimmels flutete in der Luft; darunter in einem Blumengarten lag das Totenbild des Gekreuzigten. Der eherne Schall der Posaunen war wie ein Ruf zum Tage des Gerichts.
Veronika stand noch immer unbeweglich; ihre Kniee bebten, unter den scharf gezogenen schwarzen Brauen lagen die Augen wie erloschen in dem blassen Antlitz.
Als der Zug vorüber war, sank sie neben dem Stuhl, worauf sie zuvor gesessen hatte, zu Boden, und mit beiden Händen ihr Gesicht bedeckend, rief sie mit den Worten im Lukas: »Vater, ich habe an dem Himmel gesündigt, und bin nicht wert dein Kind genannt zu werden!«
Im Beichtstuhl
Der Justizrat gehörte zu der immer größer werdenden Gemeinde, welche in dem Auftreten des Christentums nicht sowohl ein Wunder, als vielmehr nur ein natürliches Ergebnis aus der geistigen Entwickelung der Menschheit zu erblicken vermag. Er selbst ging deshalb in keine Kirche; seine Frau jedoch ließ er, vielleicht in Erwartung einer allmählichen selbständigen Befreiung, in der Gewöhnung ihrer Jugend und ihres elterlichen Hauses gewähren.
Seit ihrer vor zwei Jahren erfolgten Verheiratung war Veronika indessen nur in der jetzt wieder begonnenen österlichen Zeit zur Beichte und zum Abendmahl gegangen. Er kannte es dann schon an ihr, daß sie in den Tagen zuvor still und scheinbar teilnahmlos im Hause umherging; es war ihm daher auch nicht aufgefallen, daß die zuvor so eifrig betriebenen Zeichenstunden seit jenem abendlichen Spaziergange aufgehört hatten. Aber die Zeit verstrich, die Maisonne strahlte schon warm ins Zimmer, und Veronika verschob noch immer ihren Beichtgang. Es konnte ihm endlich nicht mehr entgehen, daß ihre Wangen von Tag zu Tage mehr erblaßten, daß unter ihren Augen leichte Schatten sichtbar wurden, welche schlaflose Nächte dort zurückgelassen.
So fand er sie eines Morgens, da er unbemerkt in das Schlafzimmer getreten war, in sich versunken an dem Fenster stehen.
»Vroni«, sagte er und legte den Arm um sie. »Willst du nicht sorgen, daß das Köpfchen wieder aufrecht werde?«
Sie schrak zusammen, als habe er die unbewachten Gedanken in ihr ertappt. Aber sie suchte sich zu fassen. »Geh nur, Franz!« sagte sie, indem sie seine Hand