Theodor Storm

Der Schimmelreiter und andere Novellen (103 Titel in einem Band)


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mit seinem Schnupftuch sich den Schweiß von den Wangen. Und es war doch kühl genug im Zimmer; die Sonne streifte eben erst die Fensterstäbe. – »Und weiter«, fragte er endlich, »weiter sagte sie nichts, Justizrat? Weiter nichts, als nur: Ich kann es nicht?«

      »Nein, Doktor, sie hatte auf alle meine Reden nur diese eine Antwort; aber mißverstehen konnte ich sie nicht; denn sie hat es oft genug gesprochen.«

      »Und weshalb«, fuhr der Doktor zaghaft fort, »weshalb – das hat sie nicht gesagt?«

      Der Justizrat schüttelte den Kopf. »Es war in unserm Garten, hinten an dem Steintischchen«, sagte er; »was die kleine Hand in der weißen Manschette dort auf die Marmorplatte mag geschrieben haben, das hab ich freilich nicht entziffern können; aber gesprochen hat sie nichts hierüber.«

      Der Doktor war aufgestanden. Ihm gegenüber in dem großen Spiegel stand noch einmal dieselbe unscheinbare vernachlässigte Gestalt; das wirre Haar, das runde ausdruckslose Gesicht, aus dem die kleinen Augen jetzt trübselig auf den draußen stehenden Doppelgänger hinausstarrten. Der Freund sah gespannt zu ihm hinüber. Jetzt, jetzt mußte er selbst die Antwort auf seine Frage finden. – – Aber er fand sie nicht; er wandte sich und begann zu sprechen. »Eduard«, sagte er leise, und es war, als blieben ihm die Worte in der Kehle hängen, »ich denke wohl kaum, daß es wegen meiner alten Mutter ist.«

      Der Justizrat richtete sich fast wie erschrocken in die Höhe; über seine regelmäßigen und sonst wohl kalten Züge zuckte es wie etwas, das er nicht bekämpfen könne. Mit raschen Schritten, ohne zu antworten, ging er ein paarmal im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor dem Doktor stehen. »Christoph«, rief er, »frage so nicht mehr! – Komm, hier! Wir beide, wir bleiben die Alten!« Und er drängte seine schlanke Hand in die kleine festgeschlossene Faust seines Freundes. – – –

      Als der Justizrat fortgegangen war, stand der Doktor noch lange unbeweglich und ließ seinen Blick über die bunten Tapeten und über das zierliche Gerät des Zimmers gleiten. Dann setzte er sich an das Fenster in den Sessel und blickte mit trüben Augen auf die Straße hinaus. Der Sommerwind rauschte in den Blättern seiner Linde; drüben jenseit des Marktes in dem großen Giebelhause flatterte eine Gardine aus dem offenen Fenster und wehte in der Luft; vor der Tür im Sonnenscheine stand wieder wie sonst der alte Friedeberg in seinem leberfarbenen Rock.

      Der Doktor verschloß das Fenster und verließ dann sein neues Zimmer. Als er draußen vor der Tür stand, horchte er noch einmal, wie drinnen die Uhr pickte; dann schloß er ab und nahm den Schlüssel mit herunter. – –

      Kurz darauf konnte man ihn, wie auch wohl an anderen Tagen, auf dem Deichwege in die Marsch hinauswandern sehen. Aber er hatte diesmal keine Augen, weder für die grüne heimatliche Ebene zu seinen Füßen, auf der das Gras im Sonnenscheine blitzte, noch für die ans Meer fliegenden schlanken Seeschwalben, denen er sonst stillstehend bis in die weiteste Ferne nachzusehen pflegte. Als er das Häuschen oberhalb der Wehle erreicht hatte, an der er sonst wohl zu fischen pflegte, stieg er an der Binnenseite des Deiches hinab und streckte sich neben dem Wasser in das hohe Gras.

      Er hatte den Kopf in die Hand gestützt und blickte bewegungslos auf das Schilf, das leis im Winde rauschte. Neben ihm um einen blühenden Distelbusch flogen zwei Schmetterlinge; Brennesselfalter, die in den Marschen häufig sind. Erst gaukelten sie lange umeinander in der Luft; dann aber setzte sich der eine auf die Distelblüte, und während er zitternd die Flügel auf und nieder schlug, schwebte der andere über ihm und suchte sich ihm zu nähern. Es schien ein Paar zu sein, ein Liebesspiel, das diese kleinen stummen Sommergäste vor den Augen des neben ihnen ruhenden Menschen aufführten.

      Der Doktor hatte sich aufgerichtet; seine Blicke folgten unwillkürlich jeder Bewegung der beiden Kreaturen. »Papilio urticae!« murmelte er. »Was das für ein glücklicher Kerl ist! – – Und doch«, setzte er nach einer Weile hinzu, »ein Mannsbild höherer Gattung, so ein gewöhnlicher Engel etwa, würde hinwieder vielleicht für die kleine Sophie nichts mehr empfinden, als ich für diesen Sommervogel; – – er würde sie vielleicht nur mit einer besondern naturwissenschaftlichen Neugierde betrachten und nicht ohne ein gewisses Grauen vor dem fremdartigen Wesen den ambrosischen Finger an ihre kleine Schulter legen.« – – Und nachdem er solchergestalt das Gleichgewicht seines Herzens wiederhergestellt zu haben glaubte, warf er sich auf den Rücken und starrte gedankenlos in die weißen Wolken, die über ihn hinwegzogen.

      Aber der Doktor war kein Engel; die kleinen Schultern, über denen der Sommerwind mit dem leichten Flortuch spielte, das heitere, gütige Mädchenantlitz standen vor ihm und ließen nicht ab, ihn zu quälen. –

      Jetzt waren viele Jahre seitdem vergangen.

       Der feine Metallschlag der Uhr klang durch das Zimmer.

      Der Doktor blickte auf. Er zählte; es schlug zwölf. Aber so weit in der Nacht konnte es noch nicht sein. Und jetzt besann er sich, er hatte ja vorhin den Weiser nicht gestellt; draußen vom Turm schlug es jetzt eben auch, es war erst neun Uhr. Er stand auf und blickte auf die Gasse hinaus. Der alte Kirchturm hob sich nur dunkel aus der Finsternis hervor; aber drüben aus dem großen Giebelhause drang noch der helle Lichterschein in das Dunkel hinaus. Dort wohnte sie noch jetzt, wie sie es einst getan; sie wohnte dort mit dem Justizrat, den sie im Lauf der Jahre geheiratet hatte, noch jetzt im Alter heiter und geliebt, wie sie es einst in ihrer Jugend gewesen war. Oft hatte seitdem in Tagen der Krankheit der Doktor an ihrem und ihrer Kinder Bette gesessen; er hatte auch einigemal auf Bitten seines mittlerweile zum wirklichen Justizrat avancierten Freundes an ihrer Geburtstagsfeier teilgenommen; nur in den letzten Jahren war er dazu nicht mehr zu bewegen gewesen. – –

      Es wurde leise an die Tür geklopft. – »Sie haben wieder geschickt, Onkel!« sagte das vorsichtig eintretende Mädchen.

      Der Doktor wandte den Kopf. »Von drüben?« fragte er.

      Das Mädchen bejahte es.

      Er hatte sich wieder nach dem Fenster gewandt und blickte, ohne etwas zu erwidern, in die Dunkelheit hinaus. – Eine Strecke unterhalb der hellen Fenster in der gegenüberliegenden Häuserreihe, welche von einer einsamen Straßenlaterne beleuchtet wurde, zeigte sich der finstere Raum der nach dem Hafen hinabführenden Twiete. Dann und wann trat eine Gestalt in den Dämmerschein der Laterne und verschwand zwischen den Häusern.

      »Ich habe nicht gesagt, daß du schon heim bist!« begann das Mädchen wieder.

      Der Doktor richtete sich auf. »Nun, Christine«, sagte er, indem er seinen blauen Frack zuknöpfte, »so sag auch jetzt nichts davon. Geh! Sie sollen mich in Ruhe lassen!«

       Kurze Zeit darauf trat er in Begleitung seines kleinen schwarzen Hundes in die mit Gästen angefüllte Schenkstube des Schifferhauses. »Nun, Doktor, wo bleibst du?« fragte eine etwas rauhe Stimme und eine derbe Hand streckte sich ihm entgegen. »Setz dich auf deinen Platz!« Und dann zu dem Wirte gewandt: »Jan Ohm, ein Glas Grog! Aber ein blasses, für den Doktor!«

       Inhaltsverzeichnis

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      Es war zu Anfang April, am Tage vor Palmsonntag. Die milden Strahlen der schon tiefstehenden Sonne beschienen das junge Grün an der Seite des Weges, der an einer Berglehne allmählich abwärts führte. Auf demselben ging in diesem Augenblick einer der angesehensten Advokaten der Stadt, ein Mann mittleren Alters, mit ruhigen aber ausgeprägten Zügen, gemächlichen Schrittes, nur mitunter ein Wort mit dem neben ihm gehenden Schreiber wechselnd. Das Ziel ihrer Wanderung war eine unfern belegene Wassermühle, deren durch Alter und Krankheit geplagter Besitzer dieselbe seinem Sohne kontraktlich überlassen wollte.

      Wenige Schritte zurück folgte diesen beiden ein anderes Paar; neben einem jungen Manne mit frischem, intelligentem Antlitz ging eine schöne noch sehr jugendliche Frau. Er sprach zu ihr; aber sie