Verbrämung vorgetragen und basiert auf einer Reihe seltsamer Annahmen. Eine davon ist, dass bei steigender Beschäftigung die Produktivität je Beschäftigten sinkt. In der Realität einer Industriegesellschaft verhält es sich zwar in der Regel gerade umgekehrt, aber was tut‘s. Eine andere These ist, dass Unternehmen Arbeiter so lange einstellen, bis das Grenzprodukt des zuletzt Eingestellten seinem Lohn entspricht. Zusammen mit der Annahme sinkender Grenzerträge lässt sich daraus der beliebte Schluss ableiten, dass bei niedrigen Löhnen insgesamt mehr Leute Beschäftigung finden als bei hohen.
Die überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit gerade bei weniger Qualifizierten wiederum wird damit begründet, dass die »Produktivität« dieser Menschen generell niedrig sei und der durch gewerkschaftliche Tarifkämpfe festgeschriebene bzw. über das Sozialhilfeniveau faktisch gesetzte Mindestlohn oberhalb dieser »Produktivität« liege. Die heutige Form der Sozialhilfe, schimpft etwa der Handelsblättler in dem zitierten Artikel, zerstöre »den Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte«; denn: »Ein Sozialhilfe-Empfänger wäre dumm, wenn er einen Job annähme, bei dem er weniger oder genauso viel verdient, wie ihm das Sozialamt überweist … Und ein Unternehmer wäre dumm, wenn er einem Sozialhilfeempfänger so viel bezahlen würde, dass sich für diesen das Arbeiten lohnt. Wegen dessen niedriger Produktivität würde er mehr kosten als erwirtschaften.« Auf den ersten Blick klingt das sogar schlüssig. Angenommen, ein Beschäftigter in einem Landwirtschaftsbetrieb erntet einen Monat lang Erdbeeren, die sich für insgesamt 1500 Euro verkaufen lassen; ein Softwareingenieur könnte in der gleichen Zeit ein neues Antivirenprogramm entwickeln, das 200 000 Euro Umsatz verspricht. Dann lohnt sich des Informatikers Beschäftigung selbst bei 10 000 Euro Monatseinkommen, während der Erdbeerpflücker schon bei 1500 Euro brutto nicht mehr eingestellt wird. Kann der Lohn nicht tiefer gedrückt werden, bleiben die Erdbeeren nach betriebswirtschaftlicher Logik eben ungepflanzt und ungeerntet. Für die Gesamtwirtschaft lässt sich daraus folgern: Löhne, die ein bestimmtes Limit nicht unterschreiten können, verhindern Produktion und verursachen Arbeitslosigkeit.
Tatsächlich beruht dieser Schluss auf der Suggestion, monetäre Werte würden unmittelbar und ungebrochen physische Mengenverhältnisse zum Ausdruck bringen. In Bereichen höherer Produktivität würde eben real mehr produziert als in solchen, in denen die Statistik geringere Produktivität ausweist. Aber physisch sind Erdbeeren mit Antivirenprogrammen oder auch Autos mit Telefonminuten überhaupt nicht vergleichbar. Es gibt kein einheitliches Maß und also auch kein Mehr. Was in dem angeführten Fall gemessen und verglichen wird, ist der Umsatz pro Beschäftigten. Der aber ist abhängig vom Preis des Produktes, und der Preis wiederum wird entscheidend durch die Kosten bestimmt. Hier beißt sich die Katze in den berühmten Schwanz, denn ein Teil der Kosten sind just die Löhne. Will heißen: Die statistisch gemessene Produktivität pro Beschäftigten ist in bestimmten Bereichen gerade deshalb niedrig, weil die Löhne es sind. Wird die geringe Produktivität dann wieder zum Vorwand, um den Druck auf die Löhne zu verstärken, entsteht eine Abwärtsspirale, die die Verteilungsrelation zwischen Gewinnen und Arbeitseinkommen immer stärker zugunsten der ersteren verschiebt.
Ganz nebenbei sei noch bemerkt: Auch mangelnde Qualifikation ist alles andere als das Ergebnis von Lernfaulheit oder Blödheit. Im Herbst diesen Jahres wird die Ausbildungsmisere mit voraussichtlich 100 000 fehlenden Lehrstellen einen neuen Rekord erreichen. Auch diese 100 000 jungen Menschen werden sich wohl anschließend wieder von jenen, die ihnen ihre Ausbildung vorenthalten, anhören müssen, sie seien Löhne, von denen sie halbwegs leben könnten, nicht wert.
12. April 2003
Schuldturm
Dass sich auch in der Krise glänzend Geld verdienen lässt, belegen die US-Banken, die dieser Tage ihre Quartalszahlen präsentieren. Der weltweit größte Finanzkonzern Citigroup meldet fürs erste Quartal 2003 einen Rekordprofit von 4,1 Milliarden Dollar, ein Plus von 18 Prozent gegenüber dem bereits üppigen Ergebnis des gleichen Vorjahresquartals. Citigroup zählt damit zu den drei profitabelsten Unternehmen der Welt, nach dem Ölkonzern Exxon und in etwa gleichauf mit Royal Dutch / Shell. Auch die Bank of America verweist stolz auf ein Gewinnplus von elf Prozent und liegt damit im Branchentrend. Aktiencrash, Rezession, Megapleiten – anders als in der Arbeitsmarkt- oder in der Selbstmordstatistik scheinen die Unbilden des kapitalistischen Krisenzyklus in den Bilanzen US-amerikanischer Finanzhäuser kaum Spuren zu hinterlassen.
Dies sollte nicht zu dem Schluss verleiten, dass die Wirtschaftslage vielleicht doch besser ist als ihr derzeitiger Ruf. Der wahre Grund liegt vielmehr darin, dass eine schon zu Zeiten guter Konjunktur profitabel ausbeutbare Melkkuh in der Krise besonders viel Milch gibt: der verschuldete Verbraucher. Tatsächlich sind es in erster Linie seine Zahlungen, die alle sonstigen Verluste der US-Banken mehr als ausgleichen. Bereits 2002 konnte als Faustregel gelten: Je stärker eine US-Bank im Privatkundengeschäft mit Hypothekendarlehen und Kreditkarten engagiert war, desto bessere Zahlen meldete sie. Citigroup etwa verdiente im letzten Jahr 98 Prozent ihres Nettogewinns im sogenannten »globalen Massengeschäft«. Auch das Gewinnwachstum im ersten Quartal 2003 hat nahezu ausschließlich hier seine Quelle.
Kein Wunder: Bei Refinanzierungszinsen der Banken von 1,25 Prozent und einem durchschnittlichen Sollzinssatz von 14,71 Prozent für Kreditkarten ist die Gewinnmarge stattlich. Die Nachfrage ist dennoch ungebrochen, gerade weil der Durchschnittshaushalt heute in der Regel weniger Geld und daher finanzielle Sorgen hat. Aggressive Werbekampagnen, die einfaches schnelles Geld zur Sicherung des gewohnten Lebensstandards versprechen und die Kosten im Kleingedruckten verstecken, tun das ihre. Überdies nähren die Kredite mit Zins und Zinseszins ihr eigenes Wachstum: Wer die monatliche Rate nicht mehr zahlen kann, streckt, schuldet um – und zahlt am Ende noch mehr. Der Schuldendienst eines Durchschnittsamerikaners liegt heute bei 15 Prozent seines verfügbaren Einkommens, die durchschnittliche Schuldensumme übersteigt ein Jahresgehalt. Die Ausfälle infolge Überschuldung halten sich dennoch in Grenzen, weil die Kreditnehmer überwiegend der Mittelschicht entstammen, bei der selbst im Pleitefall immer noch irgendwas zu holen ist, woran die Banken sich schadlos halten können. Die menschlichen Tragödien, die dem folgen, sind der finstere Schatten jener goldgeränderten Kredit-Bilanzen, der freilich bei ihrer stolzen Präsentation keine Erwähnung fand.
Wer glaubt, diese Zustände seien eine amerikanische Spezialität, irrt. Wie der jüngste Wochenbericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung belegt, wird auch in Deutschland zunehmend auf Pump gelebt. Fast jeder vierte Privathaushalt ist heute verschuldet, vor fünf Jahren waren es erst 17 Prozent. Überproportional häufig sind Familien mit Kindern betroffen. Die gesamten Verbindlichkeiten privater Haushalte summieren sich auf mittlerweile 112 Prozent des Haushaltseinkommens und liegen damit sogar knapp über US-Niveau. Ärmere verschuldete Haushalte bringen laut DIW-Bericht heute durchschnittlich 23 Prozent ihres Einkommens für Zins und Tilgung auf.
Der Gewinn der amerikanischen Bankkonzerne rührt denn auch keineswegs nur aus dem heimischen Markt. Die Citibank etwa hat ihr Ratenkreditvolumen in Deutschland 2002 um gut zehn Prozent auf rund acht Milliarden Euro gesteigert. 1,3 Millionen Kunden löhnen dafür mit einem Zins zwischen 13 und 14 Prozent.
Der Kontrast zwischen der Geldschwemme der US-Finanzhäuser und dem Gejammer und Geächz, das derzeit aus deutschen Banktürmen dringt, könnte kaum größer sein. Eine Eigenkapitalrendite nahe Null, wenn nicht handfeste Verluste, ein jährlich um dreißig Prozent wachsender Berg fauler Kredite, 28 Milliarden Euro Rückstellungen für Risikovorsorge, Debatten über eine Bad Bank und japanische Verhältnisse … – als man vor zehn Jahren zum ganz großen Sprung in die Elite der weltweit mächtigsten Global Player des Finanzbusiness ansetzte, hatte man sich die Zukunft anders vorgestellt. Spottbillig ist die Deutsche Bank derzeit zu haben, und es findet sich noch nicht mal ein Übernahmepirat. Auch die Privatisierungsuntat des Berliner Senats scheiterte bekanntlich mangels Nachfrage.
Was ist faul? Tatsächlich bieten die deutschen Banken ein schönes Lehrbeispiel, dass Profitgier und Profitabsahnen immer noch zwei unterschiedliche Dinge sind. In dem Gefühl, zu Höherem berufen zu sein, hatten sich die großen deutschen Geldhäuser seit Mitte der Neunziger zunehmend aus dem »Massengeschäft« verabschiedet und damit genau jene Henne geschlachtet, die derzeit goldene Eier legt. Stattdessen investierten sie aberwitzige Summen in ihre internationale Expansionsstrategie und den Ausbau ihrer Investmentsparte. Statt namenlose Mittelbetriebe zu kreditieren, verpulverten