allerdings ist, dass europäische Exporte eben nicht nur in Übersee, sondern auch in der pazifischen Region immer teurer werden, was selbst für den verbissensten Hartwährungs-Fetischisten denn doch zuviel des Guten sein mag.
Den Euro und damit die Exportwirtschaft wird die jetzt vollzogene Zinssenkung vielleicht vorübergehend entlasten. Ob nennenswerte konjunkturelle Impulse von ihr ausgehen werden, darf bezweifelt werden. Nicht nur, weil niedrige Zinsen allein noch keine Investition anregen, solange die Absatzlage weltweit düster bleibt. Sondern auch, weil die Zinssenkung bei denen, die sie wirklich brauchen können – mittlere und kleine Betriebe und Verbraucher – nicht einmal ankommen wird. »Die Kreditkunden der Banken«, wusste das Handelsblatt schon am 15. Mai, »können … auch bei einer weiteren Zinssenkung der EZB nicht mit besseren Konditionen rechnen. Vielmehr haben verschiedene Banken bereits angekündigt, im Firmenkundengeschäft die Margen durch Zinserhöhungen ausweiten zu wollen.« Noch Fragen?
7. Juni 2003
Zahnlücken
Im Vergleich zum Rürupschen Original mag das am Mittwoch in erster Lesung im Bundestag behandelte Monstrum mit Namen »Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz« harmlos scheinen. Wir erinnern uns: Nach Geschmack des Herrn Rürup sollten die Kassenbeiträge völlig von den Löhnen abgekoppelt und jeder Versicherte zur Zahlung einer »Kopfprämie« verpflichtet werden; abgedeckt werden sollte damit allerdings nur der medizinische »Grundbedarf« – bzw. das, was die gewiss exklusiv privatversicherte Expertenrunde dem Normalsterblichen als unerlässlich zuzubilligen bereit war. Genauer definiert wurde das nicht, aber soviel immerhin drang durch: der Anspruch, Zähne im Mund zu haben oder beim Sturz von der heimischen Leiter das gebrochene Bein eingegipst zu bekommen, gehörte nicht dazu. Da schon der Akt, einen Arzt aufzusuchen, statt mobil, flexibel und fit bis zum Umfallen der Kapitalverwertung zur Verfügung zu stehen, offenbar eine Zumutung an die Gemeinschaft darstellt, sollten die Delinquenten per Praxisgebühr dafür löhnen. Im Gegenzug waren in Rürups Wunschwelt die Arbeitgeber von dem Ärgernis, die Krankenversicherung ihrer Beschäftigten mitfinanzieren zu müssen, ganz zu befreien.
Ulla Schmidt hat die Rürupsche Rezeptur mit etwas Wasser verdünnt und mit reichlich Süßstoff verrührt, um ihr den allzu bitteren Geschmack zu nehmen. Dadurch freilich wird aus einem Brechmittel noch kein Honigkuchen. Die Praxisgebühr beispielsweise fällt jetzt nur an, wenn der Facharzt ohne vorherige Konsultation des Hausarztes aufgesucht wird. Ganz sicher ist gegen eine gestärkte Stellung des Hausarztes nichts einzuwenden. Immerhin gehört dessen Job mit Rücksicht auf Verdienst wie öffentliches Ansehen bisher zu den undankbarsten im Gesundheitswesen, was in keinem Verhältnis zu der Verantwortung steht, die gerade Hausärzte haben, und zu der aufreibenden Arbeit, die die meisten von ihnen leisten. Auch gegen »Gesundheitszentren« zur integrierten Versorgung und zur Vermeidung von Doppeluntersuchungen lässt sich nichts zu sagen. Allenfalls werden sich einstige DDR-Bewohner fragen, weshalb ihre Polikliniken erst zerschlagen werden mussten, um ihnen jetzt als neue Reformidee kredenzt zu werden. Aber sei’s drum, besser spät gelernt als gar nicht.
Der Haken liegt woanders. Es ist mit der Praxisgebühr wie mit den Zuzahlungen: Ist der Damm erst gebrochen, schwemmen die Fluten immer mehr grüne Wiesen ins Wasser. Als Blüm 1983 erstmals wieder direkte Patientenzuzahlungen einführte, ging es zunächst um relativ kleine Beträge mit großen Ausnahmeregelungen. Die Entwicklung, die das Zuzahlungsunwesen seither genommen hat, ist bekannt. Gleiches ist im Falle Praxisgebühr zu erwarten: Hat die Öffentlichkeit sich erst daran gewöhnt, dass ein Arztbesuch unter bestimmten Umständen ebenso Geld kostet wie der Besuch beim Friseur oder Kfz-Mechaniker, wird die Frage auftauchen: Warum nur in dem besonderen Fall und nicht überall? Und warum nicht für Spezialisten mehr als 15 Euro? Oder abgestuft nach dem Alter des Patienten? Dem Ideenreichtum sind keine Grenzen gesetzt.
Auch die Entwicklung hin zu gesetzlichen Kassen, die gerade noch den Minimalbedarf abdecken, während die persönliche Liquidität über den Rest entscheidet, wird mit Schmidts Gesetz kräftig vorangetrieben. Erneut werden medizinische Leistungen aus dem Kassenkatalog gestrichen: Diesmal sind es Brillen sowie die Kosten für künstliche Befruchtung und Sterilisation. Wer Arzneien braucht, wird künftig noch tiefer in die Tasche greifen müssen. Die Zuzahlungen pro Packung steigen bis maximal acht Euro. Wer gar das Pech hat, ein Medikament zu benötigen, das nicht der Verschreibungspflicht unterliegt, darf künftig den vollen Preis aus eigener Tasche blechen. Noch teurer werden auch Krankenhausaufenthalte und Zahnersatz.
Von Rürups Geiste tief durchdrungen ist schließlich die Herausnahme des Krankengeldes aus der paritätischen Finanzierung: Die sieben Milliarden, die hierfür jährlich aufgewandt werden, müssen die abhängig Beschäftigten künftig allein zahlen, was einer erneuten Kürzung des Reallohns gleichkommt. Auch zeigt dieser Vorgang noch einmal überdeutlich, dass es bei all der geheuchelten Aufregung über »hohe Beiträge« letztlich nur um deren profitrelevanten Teilbetrag geht. Denn selbst wenn das Reformpaket sein erklärtes Ziel erreichen sollte, den Beitragssatz von derzeit 14,3 Prozent auf 13 Prozent zu senken, werden die Beschäftigten am Ende mehr zahlen als jetzt. »Versichertenbezogene Finanzierung« heißt dieser Vorgang süffisant in Schmidts Gesetz. Zudem gilt für das Krankengeld das Gleiche wie für die Praxisgebühr: Es ist der nach Einführung privater Zuzahlungen zweite entscheidende Schritt, dem System der paritätischen Finanzierung den Garaus zu machen. Weiterungen liegen längst in den Schubfächern und werden nicht zuletzt CDU-Verhandlungsposten sein.
Schmidts Gesetzespaket als weichgespülten Rürup zu deuten, der uns vor der Hardcore-Version bewahrt, wäre daher ein grobes Missverständnis. Es ist statt dessen ein kleiner Rürup-Klon mit besten Wachstumschancen. Worauf es jetzt ankommt, ist nicht die Schrittweite, sondern die Weichenstellung.
Die Ziellinie hat der BDI am 13. Mai bei Vorstellung seiner »Initiative vitale Gesellschaft« erneut umrissen: Vollständiger Rückzug des Staates aus dem Gesundheitsbereich, gänzliche Abschaffung der paritätischen Finanzierung, Abkoppelung der Beiträge von den Einkommen, individuelle Wahlfreiheit hinsichtlich des Versicherungsumfangs. Es gäbe keinen Grund, wurde den versammelten Damen und Herren bei Vorstellung der Initiative erläutert, weshalb die Krankenversicherung »nicht genauso wie eine Autoversicherung« strukturiert sein solle.
Zynismus? Nein, was hier ausgesprochen wird – und was sich weder Rürup noch Schmidt auszusprechen wagen würden –, ist einfach die Konsequenz einer Privatisierung des Gesundheitswesens. Den Aktionären der Versicherungskonzerne ist es völlig schnurz, ob der Gegenstand der verkauften Policen Autos, Häuser oder Herzinfarkte sind, solange die Dividende stimmt. Privates Kapital zielt auf Ertrag, also umwirbt es lukrative Kunden und meidet die Kostenbringer. Wer bereits Unfälle hatte, zahlt seiner Autoversicherung mehr als einer, der seit Jahrzehnten unfallfrei fährt. Wer gar aus purer Liebhaberei einen rostzerfressenen Oldtimer versichern will, muss (in Ländern ohne TÜV, denn nur da steht die Frage) entsprechend tief in die Tasche greifen, so er überhaupt noch eine Versicherung findet. Der Versicherungsumfang wiederum wird zur Frage der Wahl: Dem Risikofreudigeren stehen niedrigere Beiträge bei höherer Eigenbeteiligung offen. Die Übersetzung in den Bereich der Krankenversicherung lautet: Wer häufiger krank ist, zahlt mehr als der Gesunde, Ältere mehr als Junge, Frauen mehr als Männer. Wer bereits ein heftiges Gebrechen hat, wird gar nicht erst genommen. Und wer eines kriegt und den Eigenanteil an den Reparaturkosten nicht zahlen kann? Wer sich kein Auto leisten kann, der kann eben keins fahren, und dass im Falle Gesundheit aufwendige Reparaturen mitnichten durch einen Neuwagen zu ersetzen sind, geht die Versicherung nichts an. Sie ist nicht die Caritas, ihr Ziel heißt nicht Wohlfahrt, sondern Rendite – und wer den Radius der privaten Krankenversicherung immer mehr ausweitet, sollte die Konsequenzen kennen.
Besonders demagogisch ist es, den schleichenden Systemwandel unter dem Ticket »Einsparungen« zu verkaufen. In Wahrheit ist der übergroße Teil des angeblichen »Einsparbetrages« von 13 Milliarden Euro, den Schmidts Reform sich auf die Fahne geschrieben hat, ein Umverteilungsbetrag: Weg von den Unternehmen, hin zu den Beschäftigten, weg von den Gesunden, hin zu den Kranken. Und generell: Weg von den Reicheren, hin zu den Ärmeren. Denn letztere sind im statistischen Durchschnitt deutlich häufiger krank als Wohlhabende – auch über die Gründe dafür lohnte es nachzudenken.
Dass ein überwiegend privatisiertes Gesundheitssystem insgesamt nicht einmal kostengünstiger ist als ein öffentliches,