Sahra Wagenknecht

Kapitalismus, was tun?


Скачать книгу

indessen hat seine ursprüngliche Umsatzprognose für dieses Jahr, die auf minus 1,5 Prozent lautete, als »zu optimistisch« zurückgenommen.

      Wer freilich die Interessen der Kapitallobby so sehr verinnerlicht hat, dass er Profitrekorde weniger Wirtschaftsriesen mit volkswirtschaftlichem Aufschwung verwechselt, muss den fortgesetzten Niedergang tatsächlich mit immer neuem Erstaunen quittieren. »Volkswirte stochern im Nebel« beschreibt das Handelsblatt mit verständnisvoller Nachsicht die Konjunkturanalyse und prognostische Aktivität der wirtschaftswissenschaftlichen Community und liefert auch gleich die Erklärung nach: Es handele sich eben nicht um einen »klassischen Konjunkturzyklus«, sondern um eine Folge »äußerer Schocks« – angefangen vom 11. September, über den Aktien-Crash bis zum Irak-Krieg. Und Schocks hätten es leider an sich, dass sie niemand prognostizieren könne. Sie falsifizieren selbstredend auch nicht die Annahmen, auf denen die wirtschaftspolitischen Vorschläge beruhten. Also werden der bekannte Psalm noch ein wenig lauter gebetet: Privatisieren, Kürzen, Sparen, Sparen, Kürzen, Privatisieren …

      Selbst das Statistische Bundesamt freilich weiß: Wer um die 1200 Euro netto monatlich nach Hause trägt, gibt nahezu sein gesamtes Einkommen für Konsum aus; wer 5000 Euro verdient, legt dagegen gut ein Fünftel auf die hohe Kante; weit geringer noch sind die anteiligen Konsumausgaben dort, wo im Monat sechsstellige Beträge eingehen. Schröders Einkommenssteuerreform indes entlastet Normalverdiener mit weniger als drei Prozent, Einkommensmillionäre dagegen mit mehr als zehn Prozent. Steigende Verbrauchssteuern und Abgaben sowie Hartz tun das ihre, damit immer mehr Leute immer weniger auszugeben haben. Und da soll der Einzelhandel etwas anderes tun als schrumpfen? Selbst ein ökonomischer Laie kann leicht begreifen, dass eine Volkswirtschaft sich von einem Betrieb unter anderem dadurch unterscheidet, dass Kosten und Kunden überwiegend identisch sind. Wenn das Kapital sich Ersterer entledigt, wird es irgendwann auch Letztere missen. Außer einem Wirtschaftsweisen dürfte kaum ein Mensch schockiert sein, wenn er in einem Pool, aus dem zuvor das Wasser abgelassen wurde, nicht mehr vergnügt baden kann. Nach der Weltwirtschaftskrise und konfrontiert mit einer expandierenden Systemalternative hatte das Kapital diese Lektion vorübergehend gelernt. Es ließ seine politischen Belange für die folgenden Jahrzehnte durch Anhänger der keynesianischen Schule verwalten, die immerhin begriffen hatten, dass Mehrwert nicht nur produziert, sondern auch realisiert werden muss, damit die Ausbeutung sich lohnt. Als Nachfragefaktor genoss der Lohnabhängige fortan eine gewisse Aufmerksamkeit, selbst sofern das Kapital keine Verwendung als Arbeiter für ihn hatte. Und wenn es dennoch nicht reichte, sorgte der Staat durch antizyklische Ausgabenpolitik selbst für Absatzmöglichkeiten.

      Vertreter dieser Richtung – und darum handelt es sich überwiegend bei Schröders innerparteilichen Kritikern – heißen heute im Handelsblatt »ökonomische Geisterfahrer«. Ob es die, die sie so nennen, nicht besser wissen oder nicht besser wissen wollen, sei dahingestellt. Bezogen aufs Ausland immerhin vermögen sie Strategie und Ungeschick ganz gut zu unterscheiden. »Zum Programm der Republikaner« – schreibt selbiges Handelsblatt über das US-Modell, in dieser Frage durchaus nicht im Nebel stochernd – »gehört es seit Jahren, mit Hilfe von Steuerkürzungen eine weitere Schrumpfung der Bundes-Sozialprogramme zu erzwingen.«

      1994 lebten in den USA fünf Millionen Familien von Sozialhilfe; heute sind es noch zwei Millionen. Den »verschwundenen« drei Millionen dürfte es, ob mit zwei oder drei Jobs, ob auf der Straße, als Mitglied einer kriminellen Gang oder bereits im Gefängnis, jedenfalls dreckiger gehen als je zuvor. Ähnliche Ergebnisse scheint Schröder anzupeilen. 1930 war dann wohl auch so mancher Ökonomieprofessor »sehr überrascht«. Nur, zwei Mal sind endgültig genug.

      24. Mai 2003

      Zinsen und Margen

      Die Leitzinssenkung um 0.5 Prozentpunkte, zu der sich die Europäische Zentralbank am Donnerstag endlich durchrang, war überfällig. Europaweit herrscht Ödnis. Die Wirtschaften stagnieren oder befinden sich wie Deutschland (– 0.2 Prozent), die Niederlande (– 0.3 Prozent) und Italien (– 0.1 Prozent) auf Schrumpfkurs. Die einzige Zahl in den europäischen Statistiken, die kräftige Steigerungsraten ausweist, ist die Arbeitslosenquote. Im EU-Durchschnitt liegt sie derzeit bei 8,8 Prozent und damit auf dem höchsten Stand seit drei Jahren. Die Europäische Zentralbank selbst hat ihre Wachstumsprognose für den Euro-Raum mehrfach nach unten revidiert.

      Das alles ist allerdings nicht neu und galt im Grunde auch schon, als der EZB-Rat das letzte Mal tagte und die Zinsen unverändert ließ. 53 Prozent der deutschen Topmanager befürworteten diese Entscheidung, nur 46 Prozent – überwiegend aus mittleren Betrieben – sprachen sich damals für eine Senkung aus.

      Diese Relation mag erstaunen, sollten Unternehmen – folgt man neoklassischer Lehrbuchweisheit – doch stets Interesse an möglichst niedrigen Zinsen haben. In Wahrheit gilt das aber nur für jene, deren Schulden ihre Finanzpolster übersteigen, was bei einem beträchtlichen Teil der Dax-Konzerne schon lange nicht mehr (und auch nach drei Jahren Börsencrash und Krise noch lange nicht wieder) der Fall ist. Wer dagegen auf einem großen Geldberg sitzt – und hier mögen die befragten Manager nicht allein das Interesse ihres Unternehmens artikulieren, sondern den Instinkt ihrer Klasse insgesamt –, den treibt im Zeitalter einer durch kein Metall mehr gedeckten Währung Inflationsangst um, die nicht selten ins Paranoide und Hysterische umschlägt. Diese Paranoia ist der Baustoff, aus dem die geldpolitische Strategie der Europäischen Zentralbank – wie einst der Bundesbank – gemacht ist.

      Natürlich geht es letztlich nie um die Inflationsrate als solche, sondern immer um das Verhältnis von Nominalzins und Inflation. Mit acht Prozent Inflation und einem Zinsfuß von 13 Prozent können Geldvermögensbesitzer allemal besser leben als mit zwei Prozent Zinsen ohne Inflation. Aber in der für sie besten aller möglichen Welten vereinigen sich Geldwertstabilität und ein ordentlicher Zins. So erschienen selbst kurz vor dem jüngsten EZB-Entscheid im Handelsblatt noch Artikel, die für eine Beibehaltung des Niveaus von 2,5 Prozent warben. »Eine Erhöhung der Inflation«, wurde argumentiert, »würde Kosten in Form von Vermögensumverteilungen nach sich ziehen.« Sehen wir davon ab, dass von einer Erhöhung der Inflation gegenwärtig keine Rede sein kann – Umverteilungen finden mit sinkenden Zinsen tatsächlich statt, allerdings stehen den »Kosten« (lies: geringeren Einnahmen) der Vermögensbesitzer gleich hohe Zugewinne bei den Schuldnern (etwa den öffentlichen Haushalten) gegenüber. Ein zweites Argument gegen Zinssenkungen bestand denn auch just darin, dass niedrigere Zinsen den Druck auf die öffentliche Hand verringern würden und damit Schröders Sozialkahlschlag verlangsamen könnten. Denn je schmaler der Zinsaufschlag, desto billiger werden neue Schulden. Jedes noch so kleine Zinsprozent ist also über die Jahre Milliarden öffentlicher Gelder wert, die auf die Konten privater Anleger geschaufelt werden müssen.

      Aber all diesen schönen Argumenten zum Trotz hat sich der Mehrheitstrend in den letzten Wochen spürbar gewandelt. Immer mehr Wirtschaftsbosse befürworten nunmehr einen EZB-Zinsschritt nach unten. Herbeigeführt wurde dieser Stimmungswechsel mitnichten durch die tausenden Arbeitslosen, die es seither zusätzlich gibt, sondern in erster Linie durch den hartnäckigen Höhenflug des Euro, der auf die Erträge der europäischen Exportwirtschaft drückt. Deutsche Konzerne sind dabei besonders betroffen, denn in kaum einem Land ist der Binnenmarkt in einem traurigeren Zustand als nach fünf Jahren rosa-grüner Kapital-Hörigkeit hier in der Bundesrepublik. Schon im letzten Jahr hat allein die erneute Steigerung des Exports die deutsche Wirtschaft vor dem Einbruch gerettet. Das lässt sich aber nur wiederholen, wenn die Einnahmen außerhalb des Euro-Raums, in heimischer Währung berechnet, nicht immer weiter an Wert verlieren.

      Allein gegenüber dem Dollar hat der Euro in den vergangenen zwölf Monaten um fast ein Drittel aufgewertet. Zudem tobt, seit US-Finanzminister Snow die eigene Währung zwecks Ankurbelung der Konjunktur zur Abwertung freigegeben hat, ein regelrechter Abwertungswettlauf zwischen ersterer und den Währungen Südostasiens, das gleichfalls um seine Exporte fürchtet. Bricht beispielsweise der krisen- und deflationsgeschüttelten japanischen Wirtschaft noch dieser letzte Anker weg, sieht es rabenschwarz aus. Um den Dollar zu stützen und die eigene Währung zu schwächen, kaufen asiatische Notenbanken seither massiv US-Staatsanleihen. Für die USA hat das den Vorteil, dass die Finanzierung ihres ausufernden Leistungsbilanzdefizits selbst bei abwertendem Dollar ohne Probleme möglich bleibt und die Zinsen auf dem Markt für langfristige Anleihen nicht