zehn Äpfel von nur achtzig Äpfeln entsprechen 12,5 Prozent, – der Anteil ist um 2,5 Prozentpunkte gestiegen, obwohl zehn Äpfel natürlich zehn Äpfel bleiben. Auf die Ökonomie übertragen: Wenn diejenigen, die den gesellschaftlichen Reichtum erarbeiten, immer weniger Anteil an ihm haben, stellt dieser Trend das lohnbezogene Sozialversicherungssystem in all seinen Elementen auf tönerne Füße. Um das Defizitproblem der Kassen zu lösen, könnte die IG Metall also ruhigen Gewissens statt fünf auch 15 Prozent Lohnzuwachs verlangen; ohne Kampf wird ohnehin weder das eine noch das andere zu haben sein. Beistand durch die SPD-Gesundheitsministerin oder gar durch den bei Präsentation des neuen VW-Luxuswagens werbewirksam posierenden Kanzler ist dabei allerdings nicht zu erwarten.
Andererseits trifft zu, dass Gesundheit tatsächlich billiger zu haben wäre: als Gut, nicht als Ware. Wer wissen will, in welchem Winkel der Volkswirtschaft sein persönliches Beitragssoll als »Haben« auftaucht, findet unter der Rubrik Anlage-Empfehlung im Handelsblatt folgende Denkhilfe: »Als Gewinn- und Cash-Generatoren werden die großen Pharmakonzerne derzeit wohl nur noch von der Ölindustrie übertroffen. Die führenden 20 Arzneimittelhersteller erwirtschafteten im vergangenen Jahr einen Betriebsgewinn von zusammen fast 70 Mrd. Dollar … Davon wurde … mehr als die Hälfte in Form von Dividenden und Aktienrückkäufen an die Aktionäre ausgeschüttet.« Allein die letztjährigen Preissteigerungen für Arzneimittel haben hierzulande etwa eine Milliarde DM zusätzliche Kassenmittel verschlungen. Folgerichtig legt das Handelsblatt seiner vermögenden Klientel den Kauf von Pharmawerten ans Herz, wissend, dass weder die geplante Aut-item-Regelung noch Schröders steuerlich absetzbarer »Solidarbeitrag« von gerade vierhundert Millionen Mark an Preistreiberei und horrenden Gewinnen etwas ändern werden. Die Gefahr ist eher, dass die neue Regelung die Konzentration in der Pharmabranche weiter verstärkt und die Spielräume für Preisdiktate und rege Lobbyarbeit dadurch sogar wachsen. Dazu gibt es eigentlich nur eine ernstzunehmende Alternative. Sie läge in einem System, in dem Kranke nicht länger dazu dienen, als »Cash-Generatoren« das Portefeuille wohlhabender Aktionäre anzureichern, sondern Gesundheit als schützenswertes Gut und Recht jedes Menschen anerkannt ist. Das wäre eine Gesundheitsreform, die diesen Namen wirklich verdient. Genau besehen wäre es natürlich mehr als eine Reform, denn private Pharmakonzerne nebst ihrer Shareholder werden sich mit einem solchen Projekt kaum anfreunden können.
22. Dezember 2001
Tödlicher Schaum
Es geht offenbar erst, wenn nichts mehr geht. Drei Tage nach dem Rücktritt des argentinischen Präsidenten hat der neue Interimspräsident Saá ein Schuldenmoratorium angekündigt: Die Zins- und Tilgungsleistungen auf Auslandsanleihen werden ausgesetzt; Verhandlungen mit den Gläubigern über Abschläge bei Zinsen und Nominalwert der argentinischen Staatsschuld sollen in Kürze beginnen. Alles in allem also ein Hoffnungsschimmer für die von Rezession und IWF-diktierten Sparprogrammen ausgeblutete argentinische Bevölkerung? Kaum.
Denn wie die »Verhandlungen« ausgehen werden, lässt sich leider auch ohne Gabe zur Prophetie ahnen: Man gönnt dem Land gerade so viel Luft, dass es nicht erstickt. Derselbe Leidensweg wurde schon anderen sogenannten Schwellenländern aufgezwungen. Auch Argentinien selbst befindet sich keineswegs zum ersten Mal im Zustand faktischen Staatsbankrotts. Der Ausweg, den die internationalen Finanzhaie in solcher Situation offerieren, erwächst aus der einfachen Logik, dass ein toter Sklave kein ausbeutbarer Sklave mehr ist. Aber Wiederbelebungsversuche an einem bis zur Bewusstlosigkeit geschundenen Knecht haben selbstredend nicht den Zweck, ihn in einen freien Mann zu verwandeln.
Die argentinische Regierung steckt in dem Dilemma, eigentlich nur zwischen Übeln wählen zu können. Wird der Peso abgewertet, explodiert die großenteils auf Dollar lautende Staatsschuld Argentiniens, und gleiches gilt für die Dollarschulden der Privaten. Hauptprofiteur wäre die Exportwirtschaft, insbesondere also amerikanische und internationale Konzerne, für die Argentinien als Billiglohnstandort wieder attraktiver würde. Zigtausende mittlere Unternehmen dagegen würden eine derartige Verteuerung ihrer Schulden nicht überleben. Zumal die Mittelschichten von ihren Ersparnissen so oder so kaum etwas wiedersehen dürften. Umgekehrt: Soll die Dollarbindung des Peso aufrechterhalten werden – oder wenigstens die Abwertung einigermaßen kontrolliert verlaufen – ist das Land auf neue Kreditspritzen des IWF angewiesen. Dessen Entscheidung vom 6. Dezember, den zugesagten Kredit von 1,3 Mrd. Dollar wegen angeblich mangelnden Schuldenmanagements auszusetzen, war indes just der Auslöser der Krise. Dass Cavallos drakonisches Sparprogramm, das immerhin Tag für Tag etwa 2000 Argentinier unter die Armutsgrenze in Hunger und Elend presste und von Rentenkürzungen bis zu Steuererhöhungen vor keiner unsozialen Maßnahme zurückschreckte, dem Fond noch nicht hinreichend schien, lässt vermuten, welche Forderungen mit neuem Geldsegen verbunden wären. Einem Geldsegen, der wiederum ausschließlich in den Schuldendienst flösse.
Die Ursprünge dieser fatalen Lage reichen in die Siebziger zurück, als nach Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems die internationalen Banken Abnehmer für Milliarden vagabundierender Dollar suchten und diese über den schnell expandierenden Offshore-Markt billig verliehen. Nicht zuletzt an Entwicklungsländer. Bereits Anfang der achtziger Jahre, als die Zinsen wieder stiegen und der Dollar aufwertete, wurden die meisten dieser Länder zu Nettozahlern, die einen Großteil ihrer Exporterlöse direkt auf die Konten westlicher Großbanken zu überweisen hatten. Da dies zudem oft nicht ausreichte, begann jene verhängnisvolle Spirale, in der aus alten Zinsen immer neue Schulden wurden, diese wiederum neue und höhere Zinsen verursachten, die sich dann wieder als zusätzliche Schuld akkumulierten … Faktisch fand und findet dieser ganze Vorgang ausschließlich in der Virtual Reality der Bankcomputer statt. Er produziert einen riesigen Schaumbau fiktiver Vermögen und Schulden, von dem kein Dollar je für einen realen Kauf ausgegeben wurde noch ausgegeben werden könnte. Doch gerade weil die irrwitzigen Computervermögen keinen realen Gegenwert haben, begründen sie immense Macht auf Seiten derer, die darüber entscheiden, wann und wo ein bestimmter Betrag im Computer von A nach B wandert. In Südostasien löste der Abzug solcher fiktiven Werte 1997/98 einen wirtschaftlichen Zusammenbruch aus. Argentinien hat die Unterwerfung unter die Logik der Schaumdompteure bereits Jahrzehnte niedrigen Wachstums, zunehmender Armut sowie vier akute Rezessionsjahre mit inzwischen 18 Prozent Arbeitslosigkeit eingebracht.
In den Industrieländern mögen die Folgen weniger drastisch sein; schlimm genug sind sie auch dort. Die Frage, warum das Land Berlin kein Geld für Kindergärten, aber täglich elf Millionen Mark für Zinszahlungen übrig hat, gehört zum Thema. So virtuell das Kapital, so real sind die Einkommen, die mittels seiner erpresst und aus dem Kreislauf der Volkswirtschaften dieser Welt abgezweigt werden. Einen Ausweg gäbe es wohl: den Schaum durch Schuldenstreichung und Währungsreform auf das zurückzuführen, was er real wert ist: nichts.
5. Januar 2002
Zweckoptimisten
Was schreibt man auf ein Wahlplakat, wenn man auf möglichst unverbindliche Weise gute Laune verbreiten will? Eine der Antworten, die SPD-Strategen auf diese Frage fanden, lautet: »Der Aufschwung kommt.« In weißen Lettern auf blauem Grund, untersetzt durch vier nach oben zeigende rote Pfeile, wurde diese Nachricht auf zigtausend Blatt unschuldigen Papiers gedruckt. Damit nicht genug. Für einen zweistelligen Millionenbetrag orderte das Kanzleramt im April bei anerkannten Hofgutachtern aus sechs Instituten ein Dossier, das ebendiese Nachricht mit allerlei Zahlen illustrieren und ihr durch möglichst unverständliche Fachtermini eine Aura von Seriosität und Wissenschaftlichkeit verleihen sollte. Die Gutachter attestierten folgsam: Ja, der Aufschwung habe bereits begonnen. Insbesondere die »kräftige Erholung« in den USA ziehe auch den deutschen Karren aus dem Dreck. Nur die Arbeitslosen müssten sich noch ein wenig gedulden. Im nächsten Jahr – aber dann ganz gewiss! – werde auch ihre Lage besser.
Nicht, dass Schröders Konjunktur-Sehnsüchte nicht verständlich wären. 1994 immerhin hatte die wiederkehrende wirtschaftliche Betriebsamkeit seinem Vorgänger eine weitere Legislatur beschert. Das Dumme ist nur, dass vom gegenwärtigen »Aufschwung« aber auch gar niemand etwas merkt. Am selben Tag, als die SPD ihre Plakatserie mit der frohen Botschaft präsentierte, veröffentlichte das Ifo-Institut seinen monatlichen Geschäftsklima-Index, der erneut nach unten zeigte. Nahe 50 000 Pleiten werden für dieses Jahr erwartet. Der Groß- und Einzelhandel kämpft unverändert mit sinkenden Umsätzen. Ifo rügt denn auch die