Sahra Wagenknecht

Kapitalismus, was tun?


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der Universität des Saarlandes, die 342 Geschäftsberichte von Nemax-Titeln unter die Lupe nahm, kam zu dem Schluss, dass Wirtschaftsprüfer in der Regel eklatante Verstöße gegen einschlägige Bilanzierungsvorschriften akzeptieren. Auch bei Dax-Unternehmen wäre man gewiss fündig geworden.

      Die Unternehmensdaten aber sind die wesentliche Basis, auf der makroökonomische Größen wie Volkseinkommen oder Wachstumsrate errechnet werden. Der Prunkbau steht auf wackligen Füßen. Zumal in den oberen Etagen fröhlich weiter geschummelt wird. Eichel überlegt seit einiger Zeit, ob er durch eine neue Methode der Inflationsrechnung dem ausbleibenden Aufschwung wenigstens statistisch auf die Sprünge hilft. »Mehr Wachstum durch neue Preismessung« fasst das Handelsblatt diese Idee zusammen. Ob da auch ein Leitartikler über Bluff nachdenkt?

      22. Juni 2002

      Schurkenparabel

      Die Welt ist ungerecht. Telekom-Chef Sommer hat gemacht, was alle machen: Er hat die Wachstumschancen der Telekombranche rosig geredet, um den Ausgabepreis der Aktien nach oben zu treiben, er hat sich redlich bemüht, den privatisierten Staatskonzern auf Shareholder-Value zu trimmen, er hat die internationale Expansion vorangetrieben, hat mit UMTS Milliarden in eine vermeintliche Zukunftstechnologie investiert, und er hat bei all dem der Aufforderung Rechnung getragen, dass Leistung sich wieder lohnen müsse, was er selbstredend auf die eigene bezog. Statt Dank und Lob erhält er nun die unehrenhafte Entlassung, steht am Pranger als Personifizierung von Gier und Bereicherungswut, als Schädiger von drei Millionen Kleinaktionären, die er durch eine verfehlte Unternehmensstrategie um ihr mühsam Erspartes betrogen habe.

      Dabei hatte alles so schön angefangen. Im November 1996, Sommer war gerade ein Jahr im Amt, brachte die Telekom ihre erste Aktientranche zum Ausgabepreis von 14,32 Euro an die Börse. Eine Erfolgsgeschichte begann. Die T-Aktie stieg und stieg, erst allmählich, dann immer schneller. Der zweite Börsengang folgte im Juni 1999, der Ausgabepreis lag jetzt bereits bei 39,50 Euro. Gezielt wurden Kleinsparer umworben und zum Einstieg ermutigt, den zunächst niemand bereuen musste. Innerhalb weniger Monate verdoppelte sich der Kurs und erreichte im Frühjahr 2000 seinen Spitzenwert von 100 Euro. Wer ein Jahr zuvor T-Aktien gekauft hatte, hatte faktisch im Schlaf sein ursprüngliches Vermögen noch einmal hinzuverdient. Ähnlich der Telekom boomten damals alle Papiere aus dem Kommunikations-, Medien- und Internetbereich. Dass aus 10 000 Mark innerhalb kürzester Zeit 20 000 oder 30 000 werden, schien eher Regel denn Ausnahme zu sein. Kapitalismus macht reich, lautete die Generalnachricht, man müsse nur mitmachen. Ob BILD, SPD-Grundsatzdebatte oder RTL-Vorabendprogramm: Auf allen Kanälen florierte jenes Verblödungspalaver, das die Verwandlung von Briefträgern und Aldi-Kassiererinnen in nachfeierabendliche Aktienzocker als den endlich gefundenen Ausweg aus sozialen Nöten und gesellschaftlichen Einkommenskontrasten verkündete. Strahlemann Sommer wurde zur Inkarnation dieses wohlstandgenerierenden Volkskapitalismus und erfüllte damit eine wichtige politische Funktion. Die Zerschlagung und Teilprivatisierung der gesetzlichen Rente etwa, auf die Allianz-Chef Schulte-Noelle erst kürzlich wieder Lobeshymnen sang, wäre ohne die Kapitalmarkt-Euphorie jener Tage kaum durchsetzbar gewesen. Der Kanzler höchstselbst legte sich ins Zeug, um die Konten unbedarfter Kleinsparer zugunsten überbewerteter Anteile an der Deutschland AG zu leeren.

      Deshalb hängt für Schröder an der T-Aktie noch mehr als der Frust von drei Millionen potentiellen Wählern. Ihr Absturz hat den Mythos der kapitalistischen Teilhaber-Gesellschaft beschädigt und damit auch eine Politik, die unter Reformfähigkeit die Förderung des Shareholder-Value-Kapitalismus amerikanischer Prägung versteht. Jetzt muss Sommer als Buhmann herhalten, um Verallgemeinerung zu vermeiden. Sein Hinauswurf ist Teil eines inszenierten Lehrstücks mit zwei Botschaften: Der unfähige Manager ist schuld! Und: Abzocke wird bestraft!

      Natürlich ist diese Schurkenparabel so verlogen wie die ursprüngliche Erfolgsstory. Sommers Aktienoptionsspielereien lagen, verglichen mit denen anderer Konzerne, im mittleren bis unteren Bereich des Üblichen und das Auf- und Ab der T-Aktie ist einfach Ergebnis kapitalistischer Krisendynamik. Dabei wirkt die billionenschwere Liquidität, die heutzutage, global mobil und von wenigen dirigiert, von Anlage zu Anlage rast, als extremer Verstärker, der die Ausschläge bis zum Exzess treibt. Dank Privatisierungspolitik zum Anlageobjekt geworden, galt die Telekommunikation Ende der Neunziger als hochprofitabler Wachstumsmarkt. Es herrschte Gründerstimmung, Hunderte neue Unternehmen starteten, die Preise für Telefongespräche sanken um bis zu siebzig Prozent. Finanzierbar war dieses Dumping, weil Eigen- wie Fremdkapital spottbillig zur Verfügung standen. Bloße Branchenzugehörigkeit garantierte sprudelnde Geldquellen, deren Eigner zunächst kaum nach Gewinnen fragten. In diesem Umfeld gingen die europäischen Ex-Monopolisten international auf Einkaufstour und verbrannten Milliarden beim Ersteigern voraussichtlich wertloser UMTS-Lizenzen.

      Spätestens Anfang 2000 war eigentlich klar, dass der Aktienboom im Telekombereich jede Basis verloren hatte. Während professionelle Fonds den sachten Ausstieg einleiteten, fing der Werbefeldzug gegenüber dem Kleinanleger erst richtig an. Nach der 12-Milliarden-Pleite von Global Crossing geschah, was irgendwann geschehen musste: ein abrupter Kapitalabzug aus dem gesamten Telekom-Bereich setzte ein. Kleinere Anbieter, vorher Alibi gelungener Liberalisierung, gehen seither reihenweise Konkurs. Die großen Konzerne überleben, auch dank unverändert überragender Marktmacht im heimatlichen Terrain, allerdings mit geschmolzener Eigenkapitaldecke und hohen Schulden. Die Telekom traf dieses Schicksal nicht härter als France Telecom oder die britische BT Group, von Worldcom in den USA zu schweigen. Neue Allianzen sind absehbar. Die US-Aufsichtsbehörde hat bereits angekündigt, künftig auch Zusammenschlüsse zu genehmigen, durch die einzelne Anbieter erneut große Teile des Marktes kontrollieren. Der Begriff »Re-Monopolisierung« macht die Runde. Dann freilich dürften die Preise für Telefondienste aller Art bald wieder kräftig steigen und ihnen folgend auch Gewinne und Aktienkurse. Nur mag bis dahin manchem Kleinanleger die Puste ausgegangen sein; vielleicht, weil er als gleichzeitiger Telekombeschäftigter dem radikalen Sparprogramm der Sommer-Nachfolger zum Opfer fiel.

      20. Juli 2002

      Professionell geschmiert

      Apple: Gewinn-/Umsatzeinbruch, BNP Paribas: Prognosen verfehlt, Caterpillar: Erwartungen verfehlt, Ericsson: Siebter Verlust in Folge, IBM: Gewinneinbruch, Prognosen verfehlt, Intel: Prognosen verfehlt, J. P. Morgan: Prognosen verfehlt, Motorola: Rekordverlust, Philip Morris: Hoher Verlust wegen Abschreibungen …, irgendwie hatte man sich unter »Aufschwung« etwas anderes vorgestellt als die derzeit eintrudelnden Quartalsbilanzen der Unternehmen. Gut, dass es inmitten all der Trostlosigkeit wenigstens eine Branche gibt, die kräftig expandiert, obschon eine moralinsaure Öffentlichkeit ihr derzeit das Leben schwer macht.

      Die Rede ist vom professionellen »Gibst-du-mir-geb-ich-dir«, laut Handelsblatt der »Wachstumsmotor« in der ansonsten eher gebeutelten Kommunikationsbranche. Schon jetzt erwirtschaften Lobbyisten zwischen fünfzehn und zwanzig Prozent der Honorarumsätze großer PR-Agenturen; Tendenz steigend. Etwa 15 000 Interessenvertreter in Brüssel verdienen ihre Brötchen damit, rund 20 000 EU-Beamte zu bearbeiten, und auch in Berlin bauen große Anwaltskanzleien ihre Lobbyarbeit aus. 1726 Gruppen sind allein in der offiziellen Lobbyliste des Bundestages registriert. Selbstverständlich gehe es beim Geschäft der honorigen Public-Affairs-Berater »nicht darum, zu mauscheln«, betont selbige Wirtschaftszeitung, sondern lediglich, »die Themen gegenseitig transparent zu machen«.

      Die derzeitige öffentliche Diskussion wird daher als konjunkturschädigend – und im Übrigen als pure Heuchelei – missbilligt. Als ob mit Scharping und Özdemir irgend etwas bekannt geworden wäre, was nicht längst jeder wüsste! Lobbyisten gehörten schließlich »zum Abgeordnetenalltag – wie Ausschusssitzungen«.

      Wo das Handelsblatt recht hat, hat es recht. Bereits im März 1999 hatte die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihrer Klientel in aller Öffentlichkeit einige Tips verabreicht, wie Politikerkauf auf elegante Weise zu bewerkstelligen sei. Überschrift: »Auf Abbau der Arbeitslosigkeit berufen / Die Opposition nicht vergessen / Lobbying als strategische Aufgabe« (FAZ 8. 3. 99) Zunächst wurden damals mögliche Verunsicherungen ob des Regierungswechsels ausgeräumt: »Mit guten Argumenten … konnten Lobbyisten auch beim kleineren Regierungspartner durchaus Einfluss ausüben«, wusste die FAZ, und meinte gewiss nicht nur Herrn Özdemir. Zudem finde man in den Bundesbehörden