unbeaufsichtigten Winkel seines Gemüts eine gewisse Genugtuung auslösen. Immerhin: Wenn, wie in Deutschland, ein Prozent der Haushalte siebzig Prozent des privat gehaltenen Aktienbestandes in ihren Depots versammeln, trifft der Börsencrash, scheint’s, in der Hauptsache doch nicht die Falschen. Von den 240 Mrd. Euro, die Bundesbürger in den Jahren 2000 und 2001 in diversen Anlageformen investierten, waren laut Zählung der Bundesbank Ende 2001 noch ganze 80 Milliarden übrig. Wer aber so üppig sparen konnte (und verlor), gehörte, möchte man meinen, mitnichten zu den Ärmsten.
Aber eben auch nicht zu den Reichsten, wie uns der jüngste World Wealth Report von Merrill Lynch belehrt. Das Finanzhaus untersucht darin die Vermögensentwicklung der sogenannten High Networth Individuals (HNWI), eine Spezies, von der es weltweit etwa 7,1 Millionen Exemplare gibt – davon in der Bundesrepublik rund 730 000 –, und die sich dadurch kenntlich macht, dass sie pro Kopf über ein liquides Vermögen von mehr als 1 Million US-Dollar verfügt. (Die Betonung liegt auf liquide; die Summe berechnet sich also abzüglich Betriebs-, Immobilien- und sonstigem festangelegten Vermögen.) HNWI sind Leute, vor denen jedes Bankhaus den roten Teppich ausrollt und für die sich jeder Vermögensverwalter in den Staub beziehungsweise mit Ehrgeiz ins Zeug legt.
Letzteres offensichtlich mit Erfolg. Denn während der DAX seit März 2000 von über 8000 auf unter 3000 Punkte schrumpfte und der Sturz des Dow Jones das Vermögen der US-Bürger um 5000 Milliarden Dollar dezimierte, erfreuten sich die HNWI bisher in jedem Jahr eines Zugewinns. Zwar fiel dieser 2001 mit 0,1 Prozent relativ bescheiden aus; aber auch das ist bei einem Gesamtvermögen allein der superreichen Europäer, das Merrill Lynch mit 8,4 Billionen US-Dollar beziffert, keine kleine Summe. Zumal in einem Marktumfeld, in dem der Kleinaktionär, der auf Anraten von Schröder und Krug vor zwei Jahren in die vermeintliche Volksaktie investierte, heute gerade noch ein Zehntel seiner Spargroschen besitzt; ganz zu schweigen von denen, die sich bei EM.TV oder Mobilcom versuchten.
Dem geprellten Kleinsparer wird nun gern erzählt, sein Vermögen sei infolge des Crashs »vernichtet« worden. Als die Deutsche Börse das 1997 geschaffene Segment Neuer Markt kürzlich ad acta legte, hieß es, in diesem seien seit Frühjahr 2000 insgesamt 211 Milliarden Euro »verbrannt« worden. Verbrannt – das klingt nach: weg und in Rauch aufgelöst. Genau das stimmt aber nur teilweise. Wirklich verschwunden ist nämlich nur Vermögen, das real nie existierte. Beispiel Telekom: Wer 1996 100 Telekomaktien aus der ersten Tranche zum Ausgabepreis von 28 DM kaufte, konnte sich vier Jahre später in dem wohligen Gefühl wiegen, dass aus 2800 DM über 20 000 DM geworden waren. Wer es beim Gefühl nicht beließ, sondern seine Aktien verkaufte, war tatsächlich siebenmal reicher geworden. Alle anderen dagegen mussten miterleben, wie das unverhofft Gewonnene wieder zerrann und am Ende kaum die Anfangssumme übrig blieb. Dieser virtuelle Reichtum, den die Aktionäre niemals eingezahlt hatten, sondern lediglich auf dem Gipfel des Booms ihr eigen glaubten, ist tatsächlich einfach verschwunden. Verschwunden ist aber keine einzige DM und kein einziger Euro, der je wirklich auf den Aktienmarkt getragen wurde. Wer sich etwa im Frühjahr 2000 von der geschürten Aktieneuphorie dazu hinreißen ließ, 20 000 DM zu investieren, zahlte damit genau jenen aus, der sich in weiser Voraussicht von seinen Aktien trennte. Dass letzterer um ein Vielfaches reicher werden konnte, dankt er ausschließlich dem, der ihm – in Hoffnung auf weitere Kursgewinne – seine Ersparnisse überließ. Selbst wer Telekom- oder sonstige Aktien unmittelbar bei der Emission erstand, hat keineswegs nur ins Unternehmen investiert. Eine halbe Milliarde verdienten allein die beteiligten Konsortialbanken am ersten Börsengang des Telefonriesen; am zweiten und dritten noch wesentlich mehr.
Der schöne Spruch »Geld verschwindet nicht, es wechselt nur den Besitzer« gilt auch auf den modernen Finanzmärkten. Noch bewegen sich Dax und Dow Jones weit über ihrem Stand Anfang der neunziger Jahre. Massiv verloren haben bis jetzt vor allem diejenigen, die sich im zurückliegenden Jahrfünft neu aufs Aktienparkett locken ließen, meist Verdiener im Mittelfeld und darunter. Nach einem Jahrzehnt rühriger Aktienwerbung und dank eines Rentensystems, das den Einzelnen, so er irgend kann, zu privater Vorsorge zwingt, besitzt in den USA heute jeder zweite Haushalt Aktien. Vor zehn Jahren waren es nicht annähernd so viele. In der Bundesrepublik ist die Anzahl der Leute, die Aktien oder Fondsanteile halten, von 5,6 Millionen 1997 auf 13,5 Millionen 2001 angestiegen. Die Zahl direkter Aktieninhaber hat sich mehr als vervierfacht. Die meisten von ihnen sind zu einer Zeit eingestiegen, als die Kurse ihre Spitzen erklommen und honorige Vermögensverwalter, die sich um das Klientel der HNWI kümmern, überteuerte Aktien speziell im Telekom-, Internet- und Medienbereich abzustoßen begannen. Schlecht beraten, mit blutiger Nase und geschrumpften Ersparnissen haben inzwischen zwei Millionen dieser Neueinsteiger dem Kapitalmarkt wieder den Rücken gekehrt. Die Börse vernichtet also nicht nur Vermögen, sie verteilt es vor allem auch um; in der Regel auf die dem Kapitalismus so nachhaltig eigene Weise: von unten nach oben. Dass trotz Kursverfall und Rezession Porsche in den ersten drei Quartalen dieses Jahres den Absatz ausgerechnet seines teuersten Modells um zwanzig Prozent steigern konnte, verblüfft daher nur auf den ersten Blick.
12. Oktober 2002
Gruselkatalog
Die Wirtschaftsverbände schäumen, Gewerkschafter brabbeln Lobendes, von einem »Todesstoß für die Aktienkultur« und »sozial gerechter Modernisierung« ist die Rede, – wollte man den neuen Koalitionsvertrag von SPD und Grünen anhand der Reaktionen bewerten, die er ausgelöst hat, käme man zu dem Schluss, es handele sich um ein ausgesprochen fortschrittliches Dokument. Tatsächlich beweist das Geschimpfe leider nur, dass öffentliche Verbände-Verlautbarungen längst zu Ritualen geworden sind, die bei jeder passenden oder eben auch unpassenden Gelegenheit gleichsam prophylaktisch abgespult werden, auf dass niemandem ernsthaft die Idee komme, Oberschicht und Konzernelite an den nach wie vor gut gefüllten Geldsack zu gehen.
Ähnlicher Theaterdonner begleitete Schröder bereits in seine erste Legislatur, wobei der Koalitionsvertrag von 1998 wenigstens noch das ein oder andere Stichwort dafür hergab. Zur Erinnerung: Es ging um volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, um die Ausweitung des Kündigungsschutzes, um die Rücknahme Blümscher Rentenkürzungen, um das Zurückdrängen von ungesicherter Beschäftigung und Scheinselbständigkeit. Die sozialen Verbrechen Sparpaket, Steuer- und Rentenreform folgten später und waren (zumindest in ihrer realen Zielrichtung) im Koalitionsvertrag nicht angekündigt.
Das ist diesmal anders: Die soziale Rhetorik hat bereits am Wahltag ausgedient. Nüchtern gibt die Koalitionsvereinbarung zu Protokoll, was wir sonst bei den Herren Hundt und Rogowski lesen: »Hohe Sozialabgaben hemmen Wachstum und Beschäftigung.« Auch die folgenden Passagen lesen sich wie Abschriften aus bekannten BDI-Papieren. In schlechtem Deutsch werden die Psalme neoliberaler Marktanbetung repetiert – »Konsolidierung erlaubt das konjunkturgerechte Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren im Abschwung …« – und das nach einem Jahr Rezession, in dem die angeblichen »Stabilisatoren« entfesselter Real- und Finanzmärkte die Abwärtsspirale selbstverstärkend vorangetrieben haben! Die Förderung von ungesicherter Beschäftigung und Scheinselbständigkeit steht diesmal ausdrücklich auf der Agenda. Die »Geringfügigkeitsgrenze« für haushaltsnahe Dienstleistungen – sprich: Putzen, Kochen, Babysitten für jene, die sich solche Dienste leisten können – steigt auf 500 Euro, bei abgesenkter Sozialpauschale. Die Ausweitung dieser Regelung auf andere Bereiche wird »unverzüglich geprüft«.
Wer sich nicht in einem 500-Euro-Job vergnügen will, mag sein Glück als Ich-AG oder Zwangsleiharbeiter suchen. »Schnellstmöglich Punkt um Punkt« soll das Hartz-Konzept umgesetzt werden – ergänzt offenbar noch um die eine oder andere Finesse. So hatte Schröder den Gewerkschaften im Wahlkampf zugestanden, Kürzungen bei Arbeitslosengeld und -hilfe aus dem Konzept wieder herauszunehmen. Pech, am 22. September hat der Deal seine Schuldigkeit getan … 2,3 Mrd. Euro Einsparungen sind allein im nächsten Jahr bei der Arbeitslosenhilfe geplant – der dickste Sparposten im ganzen Paket. Auch die Sozialhilfe, auf deren Niveau Arbeitslosenhilfebezieher künftig sinken werden, wird weiter nach unten gedrückt. Etwa durch »stärkere Pauschalierungen«.
Der Verdacht, dass dieser finstere Katalog jedenfalls die Arbeitslosigkeit im Lande nicht verringert, scheint indes auch die Koalitionäre beschlichen zu haben. Als ergänzende Maßnahme wird daher angekündigt: »… eine international vergleichbare Arbeitsmarktstatistik zu schaffen, in der nur Personen, die auch tatsächlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen,