Lobbyisten müssten »immer präsent sein. Ihre Forderungen seien maßvoll, sie seien glaubwürdig«. Empfohlen werden insbesondere Kontakte zu Ausschussvorsitzenden im Bundestag, Fachsprechern der Fraktionen, einzelnen Abgeordneten im Europäischen Parlament und deutschen Kommissaren in der Europäischen Kommission.
»In den Abgeordnetenbüros, in den Cafeterien, in den Brüsseler Restaurants rund um den Glaskasten des Parlaments in der Rue Wirtz, überall treffen sich diskrete Gesandte von Konzernen und Verbänden mit EU-Parlamentariern«, erläuterte dieser Tage das Handelsblatt (26. 7. 02) die Funktionsweise unserer zivilisatorischen Errungenschaft »Demokratie«. Als Prototyp erfolgreicher Praxis könne folgender Fall aus Deutschland gelten: »So wollte eine große amerikanische Hamburger-Kette« – Dezenz ist angesagt; auch das Handelsblatt will keine potentiellen Werbekunden verprellen! – »Mitte der achtziger Jahre auch an Autobahnen verkaufen. Doch die Raststätten waren fest in staatlicher Hand. Ein Fall für einen ausgebufften Lobbyisten. Ein paar Anrufe bei bekannten Stern-Reportern, so erzählt der PR-Experte, schon erschien 1985 eine vierseitige Story in dem Magazin. Thema: Die miserablen deutschen Autobahn-Raststätten – Besserung nur durch Privatisierung zu erwarten. Das Interesse der Öffentlichkeit war geweckt. So konnte der Lobbyist zwei befreundete Abgeordnete überzeugen, eine Anfrage zur Privatisierung der Raststätten zu starten. 1990 schließlich eröffnete die Fastfood-Kette ihr erstes Restaurant an der Autobahn.«
Was freilich die wirklich Großen von den wirtschaftlichen Mittelfeldspielern unterscheide, sei, dass sie des Umwegs über die Agenturen gar nicht bedürfen. »Wenn etwa Daimler-Chef Jürgen Schrempp ein politisches Anliegen hat, spricht er oft direkt mit dem Bundeskanzler oder den Ministern. Die Mitarbeiter im Berliner Daimler-Büro verfolgen die Sache dann weiter.« Einer, der ebenfalls »politische Anliegen« und den direkten Draht hat, ist Allianz-Chef Schulte-Noelle. In einem am 22. Juli im Handelsblatt erschienen Interview zeigt er sich überzeugt, dass die Nach-Wahl-Regierung »… das mit Volldampf in Angriff nimmt, was in kleineren Gesprächsrunden längst unumstritten ist«. Das betreffe insbesondere »kraftvolle und zukunftsweisende Entscheidungen« auf dem »strangulierten Arbeitsmarkt« sowie in der Gesundheitspolitik. Dabei hält sich Schulte-Noelle nicht damit auf, zwischen Schröder und Stoiber zu differenzieren, sondern konstatiert, er könne »in persönlichen Gesprächen mit den Politikern der einen oder andern Seite … gar keine so großen Unterschiede feststellen«.
Nachzutragen wäre, dass professionelle PR-Pflege natürlich nicht die einzige im konjunkturellen Jammertal fröhlich prosperierende Branche ist. Auch der europäische Luftfahrt- und Rüstungskonzern EADS erfreute die Wirtschaftswelt kürzlich mit der optimistischen Prognose, sein Umsatz im Militärgeschäft werde von derzeit sechs Mrd. Euro bis 2004 um mindestens die Hälfte auf neun Mrd. Euro ansteigen. Und noch eine kleine Meldung purzelte weithin unbemerkt ins Sommerloch: »Rüstungsexport kommt auf den Prüfstand. SPD- und CDU-Politiker fordern Aufweichung der strengen Ausfuhrrichtlinien.« (Handelsblatt 12. 7. 02) Um die Rentabilität von PR-Investments muss man sich also keine Sorgen machen.
3. August 2002
Abwärtssog
War es vor Jahresfrist in der einschlägigen Wirtschaftspresse noch verpönt, auch nur den Begriff »Rezession« zur Beschreibung der aktuellen Lage zu verwenden, haben sich inzwischen viel bösere Worte eingeschlichen. Statt über kapitalistische Effizienz und kreatives Unternehmertum sinnieren stockkonservative Leitartikler über ein möglicherweise Jahrzehnte anhaltendes Siechtum der westlichen Ökonomien. Das Schicksal Japans, über das in den letzten Jahren kaum einer nachdenken mochte, ist plötzlich allgegenwärtig, von einer drohenden Deflationsspirale, ja von Weltwirtschaftskrise ist die Rede. »Nimmt man die Daten der US-Wirtschaft unter die Lupe, packt einen der Schreck. Und … in Asien und Europa sieht es nicht besser aus«, bangt das Handelsblatt. In düsteren Kommentaren werden Parallelen zwischen 1929 und 2002 gesucht und gefunden. Und jeder neuen Börsenmeldung folgt das gleiche Klagelied: Es gäbe keine »sicheren Häfen« mehr; alle »sinnvoll herleitbaren Unterstützungsniveaus« seien durchbrochen, es gehe haltlos bergab und bergab und bergab, und keiner wisse, wie weit noch und wie lange.
Bushs Konjunkturreden der letzten Wochen mit ihrer billigen Aufschwungpropaganda wurden von der Wall Street regelmäßig mit dreistelligen Verlusten quittiert. Offenbar um seine Glaubwürdigkeit besorgt, rudert jetzt auch Alan Greenspan zurück. Hatte er in seiner Juli-Rede noch versucht, Optimismus zu verbreiten und der US-Ökonomie 3,5 Prozent Wachstum für dieses Jahr angedichtet, gesteht die amerikanische Zentralbank Fed jetzt »für die überschaubare Zukunft« das »Risiko einer weiteren wirtschaftlichen Abschwächung« ein. Die Zinsen wurden nach allgemeiner Auffassung in dieser Woche nur deshalb nicht erneut gesenkt, damit, wenn alles noch viel schlimmer gekommen ist, der mindeste Spielraum bleibt. In Wahrheit glaubt wohl auch niemand mehr daran, dass eine erneute Zinssenkung die Talfahrt stoppen könnte. Immerhin befinden sich die US-Leitzinsen mit 1,75 Prozent bereits heute auf dem niedrigsten Stand seit vierzig Jahren. Und das Beispiel Japan zeigt, dass handfeste kapitalistische Krisen auch mit Zinsen nahe Null nicht zu besiegen sind.
In dem allgemeinen Tohuwabohu melden sich auch immer mal wieder Optimisten zu Wort, die darauf beharren, dass die Kurse bald wieder steigen müssten, da es sich beim statthabenden Börsencrash lediglich um die Bereinigung einer spekulativen Blase handele. Irgendwann befänden sich Unternehmensgewinne und Kurswert wieder in einem vernünftigen Verhältnis, und dann wäre der ganze Albtraum vorüber. Nur: Niemand weiß, wann jenes »vernünftige Verhältnis« erreicht ist. Im Dezember 1996, als Alan Greenspan das erste Mal vor einem »irrationalen Überschwang« an den Börsen warnte, bewegte sich der Dow Jones knapp 20 Prozent unter heutigem Niveau.
Die marxistische These, dass es sich beim Aktienkurs um die zum herrschenden Zinsfuß – zuzüglich eines gewissen Risikoaufschlags – kapitalisierten Unternehmensprofite handelt, gilt zwar über längere Frist auch heute noch. Aber zum einen handelt es sich bei den kursrelevanten Profiten nicht um die vergangenen, sondern um die zukünftigen, die keiner genau kennt und von denen im Abwärtssog alle annehmen, dass sie jedenfalls unter den heutigen liegen. (Zumal auch die vielfach nicht rosig sind, weshalb das Kurs-Gewinn-Verhältnis amerikanischer Aktien mit Werten von rund 35 heute beinahe so hoch ist wie auf dem Gipfel des Booms.) Zum anderen – reale Profitentwicklung hin oder her – genügt es zur Fortschreibung der Kursstürze völlig, wenn alle erwarten, dass alle erwarten, dass es vorerst weiter bergab geht. Denn es ist dieses seltsam zirkuläre Kalkül, das die reale Kursdynamik regelt. In einem durch vorwiegend spekulative Kapitalbewegungen beherrschten Markt kann die »längere Frist«, in der sich die Fundamentaldaten durchsetzen, nämlich ziemlich lang werden und beschreibt ohnehin nur einen Trend. Ansehen und Erfolg von Analysten, Brokern und Hedgefondsmanagern aber hängen nicht von der korrekten Voraussicht langfristiger Trends, sondern vom Ausnutzen der kurzfristigen Schwankungen ab. So wie in Boomphasen – egal, ob einzelner Branchen oder der Gesamtökonomie – lange mit Erfolg darauf spekuliert werden kann, dass der Aktienkurs die realistisch erwartbare Profitsteigerung weit überzeichnet, kehrt sich das Kalkül im Krisenprozess um.
Zumal man bei richtiger Voraussicht (oder verlässlichen Informanten) auch an fallenden Kursen glänzend verdienen kann. Nicht nur durch rechtzeitiges Abstoßen der eigenen Aktien, sondern auch, indem man den Kursverfall selbst in klingende Münze verwandelt. Leerverkäufer etwa, sogenannte Short Seller, leihen sich bei einem Händler, einer Bank oder einem Fond Aktien gegen Gebühr, die sie an der Börse verkaufen. Sinkt dann tatsächlich der Kurs, kaufen sie die Aktien zu dem niedrigeren Preis und geben sie dem Leihgeber zurück. Die Differenz ist ihr Gewinn. Leerverkäufe in großem Stil können den Kursverfall einer Aktie erheblich beschleunigen, da sie einerseits das Angebot zusätzlich erhöhen, andererseits vorhandene Leerpositionen in Aktien zumindest in den USA veröffentlicht werden. Ein hohes Potenzial gilt als Abwertungsindiz und kann die Verkäufe, auf die die Short Seller spekulieren, tatsächlich auslösen. Nachweislich hatten Leerverkäufer etwa beim Absturz der Telekomaktie oder auch der von SAP ihre Hände im Spiel. Dennoch: Spekulanten sind für das Auf und Ab der Börse in letzter Konsequenz ebenso wenig verantwortlich wie deregulierte Finanzmärkte für kapitalistische Krisen. Beide sind nichts als Katalysatoren und Verstärker. Sie haben den US-Boom durch Vorspiegelung gewaltiger Vermögenszuwächse des amerikanischen Mittelstands weit über die eigentliche Kaufkraftgrenze hinaus