Es geht um viel zu viel, als dass man sich die Suppe von einem Richter versalzen ließe. Objekt der Begierde sind nämlich nicht nur die Milliarden, die sich am bundesdeutschen Markt verdienen lassen. »Wenn der angestrebte Spitzenplatz in der Europaliga der Energieversorger erobert werden soll«, erläutert das Handelsblatt die Ziellinie, »muss jetzt dynamisch gehandelt werden. … Die Felder in Russland oder Norwegen als der langfristig wichtigsten [Gas-]Lieferanten Deutschlands werden jetzt verteilt. Mit der reichlich gefüllten Eon-Kasse könnte Deutschlands größte Ferngasgesellschaft ihr internationales Engagement deutlich ausbauen.« Der Monopolprofit im Heimatraum ist Mittel, internationale Expansion und Vorherrschaft der Zweck. Eon stiege mit Ruhrgas zum größten kombinierten Gas- und Stromunternehmen Europas auf. Mit dem heimischen Wassermonopol im Rücken kann RWE den Großen im Wassergeschäft, Vivendi und Suez, Paroli bieten. Sehr bewusst ging Deutschland von Beginn an bei der Privatisierung seiner Energiemärkte einen Sonderweg: Nicht eine Regulierungsbehörde, sondern die Giganten selbst wachen hier über »wettbewerbkonformes Verhalten«.
Dennoch: Wer private Monopole am Energiemarkt kritisiert, sollte die Betonung auf privat und nicht auf Monopol legen. In Ländern, die das neoliberale Credo wörtlicher nahmen, sind die Ergebnisse um nichts erfreulicher. Die früh privatisierte britische Energiebranche etwa hat viele ausländische Wettbewerber angelockt; die Großhandelspreise für Strom sind um 30 Prozent gefallen. Rege mit im Geschäft auch dort: RWE und Eon. Letzterer sponsert Verluste seiner britischen Tochter aus der heimischen Kriegskasse: Mithalten, bis anderen die Luft ausgeht, lautet das Credo. Der größte britische Stromerzeuger, British Energy, musste dieser Tage von der Regierung Finanzhilfe in Höhe von mehreren hundert Millionen Pfund erbitten. Andernfalls drohe die Pleite des 1996 in die effizienten Hände privaten Unternehmertums übergebenen Konzerns. Der erste Steuergeld-Scheck zur Subventionierung des Privatisierungsdesasters ist auf dem Weg. Der letzte wird es nicht gewesen sein. Brisant ist das Ganze nicht nur, weil der Pleite-Konzern rund ein Viertel aller britischen Haushalte mit Strom beliefert, sondern vor allem, weil er zu dessen Erzeugung fünfzehn Atomkraftwerke betreibt, acht davon in Großbritannien.
Auf der Nachbarinsel ist das Vertrauen in die Sicherheit dieser Mailer so groß, dass die Iren im Sommer ungewohnte Post von ihrer Regierung erhielten: eine Packung Jodtabletten ging an jeden Haushalt der gänzlich atomfreien Insel. Man könne nie wissen, lautete der knappe öffentliche Kommentar. Auch in Kontinentaleuropa weiß man nicht, doch wer selbst im Glashaus sitzt, wirft besser nicht mit Steinen.
14. September 2002
Hundts Erwartungen
Der Dax fiel, wie seit Monaten, auch am Montag nach der Wahl. Nicht heftiger und nicht weniger heftig. Dass desolate US-Wirtschaft, drohende Weltwirtschaftskrise und Kriegsvorbereitung am Golf die börsentäglich agilen Renditejäger weit mehr interessieren als eine Bundestagswahl, die bei allen denkbaren Konstellationen in eine wenig unterscheidbare Politik einmündet, darauf hatten Händler lange vor dem zum Schicksalstag hochstilisierten Urnengang hingewiesen. »Die beiden Kanzlerkandidaten haben sich zuletzt ohnehin kaum unterschieden«, erklärt Thomas Straubhaar, Präsident des Hamburger Forschungsinstituts HWWA. Auch sein Kollege Joachim Scheide vom Kieler Institut für Weltwirtschaft betont, der Wahlausgang bedeute »nichts Gravierendes«. Wollte das Großkapital Rosa-Grün oder Schwarz-Gelb oder Rosa-Schwarz? Die schlichte Antwort ist wohl: Es war ihm fast schnuppe.
Allerdings nur fast. Das Handelsblatt etwa hat in den letzten Monaten mehrfach pro Schröder agitiert, während Sympathiebekundungen an den schwarzen Herausforderer – spätestens seit dessen eigentümlicher Idee, die »soziale Schieflage« der Steuerreform öffentlich anzuprangern – rar geworden waren. Westerwelle wurde als das behandelt, was er ist, ein Clown. Wahlwerbung für die »Steuersenkungspartei« FDP suchte man vergeblich. Den Grund für diese Parteinahme erläutert Arbeitgeberchef Dieter Hundt in der Mittwochausgabe der Leipziger Volkszeitung: Ein Kanzler Schröder, führt er aus, komme der Wirtschaft durchaus zugute, da »anders als bei einer unionsgeführten Regierung … die Kanzler-Partei gute Kontakte zu den Gewerkschaften« habe und dies »wichtige Einigungen« erst möglich mache. Er mag Blüms Scheitern an der Rentenfront im Sinn gehabt haben und den Umstand, dass er den gleichen Privatisierungsdurchbruch jetzt im Gesundheitswesen wünscht. Auch Zwangsleiharbeit und Ich-AG sind gegen kämpfende Gewerkschaften schwerer durchsetzbar. Entscheidend, erklärt Hundt, sei, »welche Reformsignale in Richtung Arbeitsmarkt und Sozialversicherungssysteme von der neuen Regierung ausgehen«. Und hier gäbe es Grund zur Zuversicht. Das Wahlergebnis könne daher keineswegs »die Stimmung bei den Wirtschaftstreibenden trüben«.
Bar jeder eingetrübten Stimmung tut denn auch Werner Wenning, Vorstandsvorsitzender der Bayer-AG, dem Handelsblatt seine Erwartung kund, »dass die Bestätigung der rot-grünen Bundesregierung im Amt dazu führt, dass Kanzler Gerhard Schröder und seine Mannschaft mit dem gleichen Elan wie vor vier Jahren starten und die notwendigen Reformen angehen«. Der Mann weiß, wovon er redet; der von ihm geführte Konzern verdankt Schröders »Elan« immerhin die Möglichkeit, trotz beträchtlicher Gewinne keinen Cent Gewerbesteuer mehr zahlen zu müssen. Selbst BDI-Chef Rogowski geht inzwischen davon aus, »dass man das Kriegsbeil begräbt«, und präsentiert seine Forderungsliste: »Das Kartell der Tarif-Verträge muss geknackt werden, wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen, wir müssen Arbeit statt Arbeitslosigkeit unterstützen.«
Meinungsverschiedenheiten in der Wirtschaftslobby gibt es allenfalls in der Frage, ob zur Realisierung dieser schönen Ziele eine Große Koalition oder die Weiterführung des Rosa-Grünen-Bunds ratsamer wäre. Für letzteren spricht, dass die Grünen ihre Rolle als Nachlassverwalter der FDP bereits in der ersten Legislatur mit Bravour ausfüllten und dank hinzugewonnener Stärke die Umsetzung profitfördernder Gruselkataloge jetzt erheblich beschleunigen könnten. Nicht nur Davon Walton, Chefvolkswirt für Europa bei Goldman Sachs, lobt die Grünen für »ambitionierte Reformziele« und »größeren Reformhunger«. Würde sich insbesondere Fischer, erläutert er, »mehr auf die Innenpolitik konzentrieren als in den vergangenen vier Jahren, könnte die Regierung es deutlich leichter haben, den Boden für strukturelle Reformen zu bereiten«. Brav haben die Grünen bereits gefordert, die »Ökosteuer« genannte Mogelpackung zur Schröpfung von Otto Normalverbraucher bei gleichzeitiger Schonung der großen industriellen Energieverschwender, deren erneute Anhebung zum 1. 1. 2003 ansteht, in Zukunft noch stärker auszubauen. Selbstredend sollen mit dem Geld auch künftig nicht Bus- oder Bahntickets subventioniert, sondern Unternehmer von Sozialabgaben befreit werden.
Andere Wirtschaftsfürsten allerdings befürchten, dass die Fortführung von SPD-Grün (mangels Chance, sich wirtschafts- und sozialpolitisch rechts von dieser Regierung zu profilieren!) die Union aus purem Selbsterhaltungstrieb dazu bringen könnte, es »links« zu versuchen und Schröder mit der ein oder anderen sozialpopulistischen Attacke zu ärgern. Mit einer Fraktionsvorsitzenden Merkel dürfte dies leichter fallen als mit Merz, zumal die Union das Feld jetzt nahezu allein beackern kann. Denn die Strategie, die linke Opposition in der Umarmung zu zerquetschen und am Ende parlamentarisch zu entsorgen, ist ja vorerst leider aufgegangen. Was die Konzernchefs an einem Wildern der CDU auf Sozialterrain beunruhigt, ist nicht die Sorge, dass Merkels Mannen es ernst meinen könnten, sondern die Hemmschwellen, die solche Aktivitäten Schröder unvermeidlich auferlegen. Dass auf diese Weise »die starke Opposition nun Reformvorhaben der Sozialdemokraten« blockieren könnte, befürchtet etwa Rolf Elgeti von Commerzbank Securities in London. Und wen solche Ängste umtreiben, der ruft nach Großer Koalition.
Was des einen Angst, sollte freilich längst nicht automatisch des anderen Hoffnung sein. Wirkliche Hemmschwellen sind nur durch den Druck einer spürbaren gesellschaftlichen Widerstandsbewegung aufzubauen. Als deren Teil könnte die PDS verlorenes Vertrauen und verlorene Glaubwürdigkeit wiedergewinnen. Das setzt allerdings nicht zuletzt voraus, soziale Verbrechen künftig wieder soziale Verbrechen und nicht »Gerechtigkeitsdefizite« zu nennen und Kriegstreibern à la Bush nicht länger so zu begegnen, als handele es sich bloß um Andersdenkende in Fragen Terrorbekämpfung.
28. September 2002
Umverteilung via Börse
Sie haben die »Der-Markt-hat-immer-recht«-Melodie gepfiffen, bis sie ihnen im Hals steckenblieb. Die hilflosen Kommentare der einst so selbstsicheren Leitartikler zum steilen Bergab