Sahra Wagenknecht

Kapitalismus, was tun?


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Kindererziehung, Krankheit oder was auch immer keine ausreichende Vorsorge betreiben können und dann eben ins Leere gucken. Kräftig profitieren natürlich auch die Unternehmen, denn zur privaten Vorsorge gibt es keinen »Arbeitgeberanteil«.

      Bewusst ausgeblendet in der »Uns-gehen-die-Jungen-aus«-Debatte wird außerdem, dass wir schon sehr viel weiter wären, wenn wenigstens jeder, der erwerbsfähig ist, auch erwerbstätig sein könnte und dies nicht als Billigjobber, sondern in sozialversicherter Beschäftigung mit ordentlichem Einkommen. Weit über sechs Millionen Menschen in diesem Land wären vermutlich heilfroh, wenn sie Gelegenheit erhielten, auf diese Weise die Renten der Rentner mitzuerarbeiten. Der Verband deutscher Rentenversicherer hat mit Recht auf die zusätzlichen Gefahren hingewiesen, die der Rentenversicherung durch Umsetzung des Hartz-Konzepts drohen. Denn Niedriglohn und Leiharbeit bedeuten eben auch weiter sinkende Beitragszahlungen. Ignoriert wird schließlich, dass die von den Erwerbstätigen geleistete Arbeit von Jahr zu Jahr produktiver wird. In den Neunzigern ist die Produktivität in der Bundesrepublik um durchschnittlich 2 bis 2,5 Prozent pro Jahr angestiegen. Die Zahl der Rentner wird zwischen 2000 und 2040 um etwa 0,75 Prozent jährlich zunehmen. Selbst wenn das Produktivitätswachstum sich halbieren würde, wäre somit die demographische Veränderung durch die Produktivitätsentwicklung mehr als ausgeglichen.

      Wie bei im Grunde allem, was sich heutzutage Reform schimpft, geht es also auch bei Riester-Rürup II nicht um die Lösung realer Probleme, sondern um Interessenpolitik. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes kann sich über ein Drittel der Bevölkerung wegen zu geringer Einkommen ohnehin keine private Altersvorsorge leisten. Diese Zahl einer Bundesbehörde dürfte auch Schröder kennen. Ohne Skrupel werden also Verarmung und soziale Not in Kauf genommen, mit Folgen, die man längst auf den Straßen von Los Angeles oder London besichtigen kann.

      7. Dezember 2002

      Weihnachtsgabe

      Niedersachsens und NRWs Regierungschefs Gabriel und Steinbrück gäben sich »ganz unideologisch«, befand dieser Tage das Handelsblatt. »Unideologisch« ist natürlich im Sprachgebrauch dieser Zeitung – wie in gewissen linken Kreisen – positiv besetzt und lobend gemeint. Während unter Linken mit diesem Attribut zumeist einer bezeichnet wird, in dessen Weltsicht die klassen- und interessenlose Gesellschaft bereits existiert (und der sich seltsamerweise meist dennoch in der realen klassengeteilten ganz gut einzurichten weiß), begreift das Handelsblatt unter »unideologisch« offenbar eine noch eigentümlichere Verzerrung des Gesichtsfeldes: Denn hier ist die Rede von Leuten, die zwischen Einnahme und Ausgabe, zwischen Steuererhöhung und Steuersenkung nicht zu unterscheiden wissen.

      Immerhin hatten unter anderem besagte zwei Landeschefs Schröder in den letzten Wochen durch Anheizen der Debatte über die Wiedererhebung der Vermögenssteuer auf Trab gehalten und auf diese Weise für Verstimmung gesorgt. Mancher meint auch, die Verstimmung sei nur gespielt gewesen und die Kakophonie zu weiten Teilen inszeniert, da Schröder die Wahl hinter sich, Gabriel sie aber noch vor sich hat. Das mag stimmen oder nicht, in jedem Fall ist die Forderung nach Reaktivierung dieser Steuer in SPD-Kreisen nicht neu – sie stand noch 1998 im SPD-Wahlprogramm –, und es gab und gibt eine Reihe von Gründen, die selbst aus SPD-Sicht dafür sprechen könnten, ihr nachzugeben.

      Einer dieser Gründe ist, dass die Vermögenssteuer nur relativ wenige Leute wirklich träfe und zudem in erster Linie solche, die die SPD ohnehin nicht wählen. Das zeigen die Einnahmestatistiken aus der Zeit, in der es die Vermögenssteuer noch gab, also der Jahre vor 1997. Ein Drittel des damaligen Vermögenssteueraufkommens wurde von den dreißig reichsten Familien dieses Landes gezahlt, den Albrechts, Quants und Klattens, den Ottos, Mohns, Flicks und wie die Damen und Herren mit den überwiegend gut- und altbekannten Namen alle heißen. Allein diese noble Gesellschaft der dreißig reichsten Clans verfügt offiziell über ein Vermögen von 180 Milliarden Euro. Der tatsächliche Wert ihrer Besitztümer mag noch weit darüber liegen. Nun hätten diese Leute zwar vielleicht manchen Grund, Schröder zu wählen – jedenfalls mehr als abhängig Beschäftigte oder Arbeitslose –, aber Fakt ist, dass sie es zum überwiegenden Teil nicht tun.

      Die Steuer würde die SPD also kaum Stimmen kosten, eröffnete aber die Chance, welche einzubringen. Denn angesichts der brachialen Einschnitte bei Arbeitslosen, der unerträglichen Zusatzbelastungen für sozial Schwache und des Totschlags tariflicher Standards, die Schröder gerade verbricht, bräuchte die SPD dringend wenigstens ein populäres Projekt, das sich als Gerechtigkeits-Nummer verkaufen ließe. Die geplante Steuer auf Aktienkursgewinne, die de facto eine Steuerentlastung für Spekulanten darstellt und allzu offensichtlich den Verwaltungsaufwand nicht einspielen wird, den sie kostet, sollte zwar genau diesem Zweck auch schon dienen, wurde und wird aber mit Recht von niemandem ernst genommen. Die Wiedereinführung der Vermögenssteuer ließe sich verärgerten Ex-Wählen weit eher als revolutionäre Tat vermitteln – was sie nicht wäre. Denn ähnliche Steuern gibt es in den meisten OECD-Ländern, einschließlich USA, Japan und Großbritannien. Sie sorgen dafür, dass die öffentlichen Haushalte wenigstens einige Milliarden auch von denen bekommen, die genug von ihnen haben, was sehr für diese Art Steuern spricht. Aber selbstverständlich unterminieren sie nirgends die Kapitalakkumulation, und es gäbe sie nicht, wenn sie es täten.

      Ohnehin: Ob und wie viel Geld eine Vermögenssteuer tatsächlich einspielt, hängt von ihrer Ausgestaltung ab. Die Memorandum-Gruppe hat für die Bundesrepublik vorgerechnet, dass diese Steuer bei einem Satz von nur einem Prozent und der Freistellung von 350 000 Euro pro Haushalt (zuzüglich 75 000 Euro pro Kind) gut 16 Milliarden jährlich in die öffentlichen Kassen spülen könnte. Das DIW kalkuliert mit etwas höheren Freibeträgen, aber ähnlichen Aufkommenswerten. Die Gewerkschaft Verdi errechnet für einen Satz von 1,5 Prozent mit hohen Freibeträgen ein mögliches Aufkommen von 23 Mrd. Euro im Jahr. Von SPD-Seite dagegen war in der Regel nur von 9 Milliarden die Rede. Tatsächlich hat die Steuer, als es sie noch gab, nie mehr als 4,5 Milliarden Euro jährlich eingebracht. Einer der Gründe lag in einer massiven Unterbewertung von Immobilien- und Produktiveigentum. Diese Ungleichbehandlung war letztlich auch der Grund, den das Bundesverfassungsgericht rügte und der zur Aussetzung der Steuer führte. Selbst bei Wiedererhebung bestünde also die Gefahr, dass die Sätze hinreichend niedrig, die Freibeträge hinreichend hoch und die wohlwollend geduldete Steuervermeidung so umfassend wäre, dass das Projekt im Nichts verpufft. Dass die SPD es dennoch nicht wagt, trotz der offenbaren wahltaktischen Vorteile und des scheinbar nur geringfügigen Schadens einiger hundert vergrätzter Multimillionäre, zeigt einmal mehr, wer in dieser bundesdeutschen Parlamentsdemokratie die Zügel in der Hand hält.

      Denn dass sie im Handelsblatt als »Unideologen« firmieren durften, haben die zwei SPD-Ministerpräsidenten just durch ihre Ankündigung erreicht, anstelle des Ärgernisses Vermögenssteuer künftig das Alternativprojekt »Zinsabgeltungssteuer« betreiben zu wollen. »Sehe die Bilanz im Vergleich beider Steuern positiv für die neue Abgeltungssteuer aus, wollen sie ihren Vorschlag [den, die Vermögenssteuer wiedereinzuführen] zurückziehen«, ließen sich beide in selbiger Zeitung zitieren.

      Tatsächlich spricht alles für eine »positive Bilanz«. Die Abgeltungssteuer träfe zum überwiegenden Teil den gleichen Personenkreis wie die Vermögenssteuer, nämlich die reiche Oberschicht, sie hätte aber den immensen Vorteil, dass alle bekannten Lobbyclubs dafür sind: die CDU, der BDI, die Verbände der Kreditwirtschaft, auch Bundesbankpräsident Weltecke hat sich positiv geäußert. Das Projekt Zinsabgeltungssteuer hat gegenüber einer Wiedererhebung der Vermögenssteuer eigentlich nur einen einzigen kleinen Nachteil: Es handelt sich um eine Steuersenkung, nicht um eine Erhöhung. Während Zinseinkünfte oberhalb der Freibeträge bisher zum individuellen Einkommenssteuersatz versteuert werden mussten, in der Spitze also derzeit zu 48,5 Prozent, würde der Fiskus künftig generell nur noch 25 Prozent mitverdienen. Die Steuerschätzer vom Institut für Wirtschaftsforschung rechnen, vorsichtig kalkuliert, mit Mindereinnahmen von etwa drei Milliarden Euro. Aber welches politische Projekt hat schon keinen Haken? Immerhin erspart die neue Idee viel Ärger. Und die drei Milliarden kann man sich im Notfall ja auch wieder bei den Arbeitslosen holen.

      21. Dezember 2002

      Kampf ums Öl

      Unsicher war nicht, ob die Bundesregierung umfallen würde. Unsicher war, wann und mit welcher Begründung