CDU-Ortsgruppe gerade nicht verfügbar war oder man just mit deren Ortsvorsitzenden eine der beliebten Nachbarschaftsfehden ausfocht. Es gibt die Alten, die früher noch viel von Freund und Feind, von Kapitalismus und Solidarität gelernt und bis heute nicht vergessen haben. Es gibt die unzähligen engagierten Gewerkschaftsfunktionäre, von denen zumindest die auf unterer und mittlerer Ebene Tätigen die Folgen der Schröder-Politik tagtäglich hart zu spüren bekommen; und auch die in der persönlichen Karriereplanung Strebsameren in den höheren Rängen wissen zumindest eines: dass alle paar Jahre der Tag kommt, an dem sie wiedergewählt werden müssen. Und es gibt offenbar bis in höchste SPD-Gremien hinein Leute, die nicht begreifen wollen, weshalb die Konzernchefs aus Schröders Rotwein-Runde SPD-Gesetzesvorschläge inzwischen so unmittelbar diktieren, dass selbst Frau Merkel kein anderes Gegenargument mehr einfällt als auf »gebrochene Wahlversprechen« und »soziale Schieflagen« zu verweisen.
Schröder kann diese Milieus nicht frontal brüskieren, da die Durchsetzungskraft seiner Politik – und damit seine Überlegenheit gegenüber der CDU in den Augen von Hundt & Co – gerade darauf beruht, dass sie seinen Kurs, mit dem für Akzeptanz nötigen Stallgeruch versehen, nach unten übermitteln. Aber Schröder muss zugleich darauf achten, dass sie seine Vorhaben nicht durch Transmissionsversuche in umgekehrter Richtung stören.
Zur Beseitigung dieses Störfaktors hat er ein Rezept entwickelt, das seinem Ahnen Brüning – bei aller sonstigen Ähnlichkeit – mangels moderner Medien noch nicht zur Verfügung stand. Es besteht in folgendem Dreischritt: 1. Suche einen Sachverständigen, der vor allem von einer Sache – den Interessen und Wünschen der Konzernlobby – etwas verstehen muss und setzte dem zuständigen SPD-Minister eine Kommission vor die Nase, die dieser Fachlobbyist leitet; 2. beauftrage ihn, ein Exzerpt aus BDI-Papieren und der persönlichen Wunschliste honoriger Dax-Vorstände anzufertigen, lass ihn drei, vier spezielle Grausamkeiten hinzufügen, die nach allgemeiner Aufregung wieder zurückgenommen werden können; 3. sorge dafür, dass die Medien die Vorschläge als Ausdruck höchster Kompetenz, als kreativ und unsagbar neu abfeiern, und organisiere dadurch einen Druck, der die Umsetzung zu einer Frage des öffentlichen Ansehens der Partei und des Kanzlers höchstpersönlich macht: Wir können dahinter nicht zurück, Genossen, das müsst Ihr doch einsehen!
Dieses Rezept hatte seine erste Bewährungsprobe, als Riester nach Abschuss der gesetzlichen Rente keine Neigung zeigte, auch noch als Wegbereiter eines amerikanisierten Arbeitsmarktes in die Geschichte einzugehen. Der Sachverständige hieß damals Hartz, und das vielbelobte Ergebnis ist eine Arbeitsmarktreform, die Hire-and-Fire bei Niedrigstlöhnen auch hierzulande zum Alltag machen wird. Der nächste Delinquent, den es mundtot zu machen gilt, heißt Ulla Schmidt. Auch Frau Schmidt gehört zweifelsfrei nicht zur Parteilinken. Aber immerhin hat sie eine Absage an Zwei-Klassen-Medizin sowie das Wörtchen Solidarität gleich mehrfach in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben und, was schwerer wiegt, sie neigt dazu, die Pharmabranche von Zeit zu Zeit mit profitschädigenden Einfällen wie der Positivliste oder Preisabschlägen zu verstören. Auch ihre Idee, künftig Selbständige wie Beamte für die gesetzliche Rente löhnen zu lassen und womöglich alle Einkommensarten zur Berechnung heranzuziehen, kam nicht gut an.
Spätestens an diesem Punkt war die Gründung einer neuen Kommission überfällig. Offiziell hat sie unter anderem den Auftrag, zu prüfen, ob die soziale Sicherung durch eine Verbreiterung der Finanzierungsbasis im genannten Sinn verbessert werden könnte. Aber Bert Rürup, der von Schröder bestellte Vorsitzende, wäre nicht der Wirtschaftsweise, der er sich nennen darf, würde er sich mit derlei abartigen Fragestellungen befassen. Schmidts Ideen führten nur zu einer »Ausdehnung der demographieanfälligen Umlagefinanzierung«, beschied er knapp und erläuterte anschließend das von ihm präferierte Modell: Die Krankheitskosten sollten von den Löhnen abgekoppelt werden, und jeder Versicherte soll künftig eine einheitliche Kopfprämie von 200 Euro zahlen. Die »Arbeitgeber« seien von der Zumutung, die Krankenversicherung ihrer Angestellten mitfinanzieren zu müssen, ganz zu befreien. Tusch bei den Verbänden!
Man muss keine hohe Mathematik betreiben, um zu wissen: Von 200 Euro pro Frau bzw. Mann lässt sich ein einigermaßen zureichendes Niveau gesundheitlicher Versorgung nicht finanzieren. Auch bei den privaten Versicherern liegt der Schnitt – durch alle Altersgruppen – deutlich höher. Und denen steht immerhin frei, was die gesetzlichen Kassen wohl auch nach dem Geschmack des Herrn Rürup nicht dürfen sollten: potentiell teure, weil nicht kerngesunde Leute erst gar nicht aufzunehmen. Wie sich der Rürupsche Amoklauf gegen das Solidarsystem mit Wahlversprechen und Koalitionsvertrag vereinbaren lässt? Frau Schmidt hüllt sich in Schweigen und überlässt den Kommentar einer Sprecherin des Sozialministeriums: »Wir haben große Hochachtung vor der Kompetenz des Herrn Rürup.« Punkt. Aus.
23. November 2002
Rentenklau
»Es geht nicht um den Prozentwert eines aus dem fernen Dunst des Jahres 2030 herausscheinenden Rentenniveaus, es geht um einen tiefen Schnitt in das gewohnte Paradigma der Sozialpolitik …«, höhnte die FAZ im Herbst 2000, als Riester sich gerade anschickte, die Gewerkschaften mit dem Versprechen eines Rentenniveaus von 67 Prozent zu ködern und diese – Schröder-treu, wie sie leider immer wieder sind – dem fatalen Renten-Deal am Ende tatsächlich zustimmten. Dabei verbargen sich hinter den 67 Prozent bei korrekter Berechnung 64 Prozent, und auch diese hätte nur der statistische »Eckrentner« nach 45 vollbeschäftigten Beitragsjahren erhalten – also niemand. Aber nicht allein das wird die FAZ beruhigt haben. Sie wusste vor allem, dass Riester den Scheinkompromiss mit den Gewerkschaften umso leichter schließen konnte, weil er Gewissheit hatte, dass ihn dafür in zehn, geschweige denn dreißig Jahren keine Menschenseele mehr haftbar machen würde. »Nach der Rentenreform wird mit Sicherheit vor der Rentenreform sein«, bekundete damals auch Ludwig Georg Braun, Präsident des Deutschen Industrie und Handelstages, seine Zuversicht. Dass Riesters Versprechen allerdings noch nicht einmal zwei Jahre halten würde, hätten vermutlich weder Braun noch die FAZ zu hoffen gewagt.
Zwar hat SPD-Fraktionsvize Stiegler den allzu rührigen Herrn Rürup inzwischen mit einiger Grobheit zurückgepfiffen und Schröder, kaum freundlicher, die unbekümmert in FDP-Gefilden wildernden Grünen getadelt; immerhin stehen im ersten Quartal 2003 wichtige Landtagswahlen an, und die SPD-Umfragewerte geben Anlass zur Sorge. Dennoch kann man sich getrost darauf einstellen: Die nächste Rentenreform kommt noch vor 2006, und das von Rürup zu präsentierende Konzept dafür wird nicht allzu weit von jenen Ideen entfernt sein, mit denen er derzeit die Öffentlichkeit beglückt. Zudem gehört die SPD-Entrüstung über selbige weitgehend in die Rubrik Volksveralberung, denn als man sich Rürup ins Nest setzte, waren dessen Ansichten nicht unbekannt.
Also wird wohl das Rentenalter weiter angehoben, die gesetzliche Rente noch weiter abgesenkt und die Vorruhestandsregelungen werden drastisch verschlechtert; wer im Alter noch halbwegs menschenwürdig leben will, muss tüchtig privat ansparen – so er es kann und sich außerdem nicht den falschen Fonds von seiner Bank aufschwatzen lässt.
Selbstverständlich wird sich diese wie jede Untat mit guten Gründen wappnen: Nicht politischer Wille, ausschließlich die desaströse Einnahmesituation der Rentenkassen erzwinge solche Änderungen, wird es heißen. Schuld ist, wir wissen es seit Blüm, die demographische Entwicklung. Lothar Späth hat das Einmaleins des Rentenklaus vor wenigen Tagen im Handelsblatt erneut durchbuchstabiert: Die Leute fingen halt immer später an zu arbeiten, gingen immer früher in den Ruhestand und lebten dann zu allem Überfluss auch noch immer länger. Unter solchen Bedingungen könne »die jetzige kollektive Rentensystematik für die nächste Generation nicht aufrechterhalten werden«.
Leider funktioniert es immer wieder, dass ein absurder Fehlschluss nur oft genug wiederholt werden muss, bis er allgemein für logisch zwingend gilt. In Wahrheit besteht das Fundament der demographischen Renten-Lüge aus einer Ansammlung falscher Annahmen. Beispielsweise gibt es durchaus keinen Grund, weshalb in einem System, wo jeder privat vorsorgt, am Ende insgesamt mehr Geld zur Verfügung stehen sollte als in einem umlagefinanzierten. Die Rentner jeder Generation leben von dem, was die zu dieser Zeit Erwerbstätigen erwirtschaften; wenn das nicht ausreicht, wird die schönste Rendite privater Dividendenpapiere in dem Augenblick inflationär entwertet, in dem ihre Eigner sie ausgeben möchten. Wer ohne Umlage am Ende mehr hat, sind nicht alle, sondern einige: diejenigen nämlich, die dank