Spürhunde der Polizei ihm per Rad, zu Pferde oder zu Fuß nachsetzen würden. Vermutlich würde er den Weg etwa eine halbe Meile verfolgen.
Krag sah auf eine Karte der Gegend, die er so vorsichtig gewesen war, zu sich zu stecken, bevor er Christiania verließ.
Ganz richtig! Eine halbe Meile landeinwärts mündete ein Seitenweg. Der führte in einem großen Bogen wieder zur See zurück, schnitt die Eisenbahnlinie ein Stück nördlich von der kleinen Haltestelle und endete in einer Bucht, etwa eine halbe Meile Weges von Moß. Krag bemerkte, daß es rings um diese Bucht ziemlich unbewohnt und öde aussah. Es war absolut die geeignetste Stelle, um mit einem Dampfer anzulegen, der ungesehen und unbekannt bleiben wollte.
Der Detektiv sah auf die Uhr.
Er konstatierte, daß Ingenieur Barra, dadurch daß er die Verfolger auf falsche Spuren führte, ziemlich viel Zeit verloren haben mußte. Mit einem rasch gehenden Torpedoboot konnte es nicht schwer sein, das Fredrikshavner Schiff einzuholen.
Einen einzigen Augenblick – aber auch nur einen einzigen – tauchte der Gedanke in ihm auf: wenn nun Barra doch landeinwärts gefahren ist, das Automobil in einen Sumpf gestürzt und den Schatz und sich selbst im dichten Wald verborgen hat! Die Möglichkeit war nicht ausgeschlossen, aber Krag unterließ es doch, damit zu rechnen. Er spielte jetzt hoch, und es galt, nicht zu schwanken. Er hatte seinen Plan entworfen, und er wollte ihn trotz allem durchführen. Er hatte sich sogar ausgerechnet, daß die Entscheidung zu einem bestimmten Glockenschlage fallen mußte.
Sobald der Tag anbrach, mußte Ingenieur Barra in seinen Händen sein, sonst war alles verloren.
Der Detektiv setzte dies seinem Kameraden auseinander, und dieser – ein jüngerer, aber energischer Polizeibeamter – war vor Spannung und Erregung ganz nervös. Aber Krag verhielt sich jetzt ganz ruhig. Er hatte seine ganze alte Geistesgegenwart wieder, und sein Hirn funktionierte blitzschnell und kalt, trotz der eben überstandenen schweren Krankheit und der vielen schlaflosen Nächte.
Den Gedanken an das, was der betäubte Wächter in seiner Bewußtlosigkeit ausgerufen hatte, den Namen Anna, konnte er nicht loswerden. Sein merkwürdiger Instinkt sagte ihm, daß dahinter etwas stecken müsse.
Der Zug blieb in Moß stehen.
Der Ort lag ganz still da, aber auf der Station war die Erregung merkbar. Der Perron war voll von Polizisten, die Asbjörn Krags Ankunft erwarteten. Der Polizeimeister drückte ihm warm die Hand, als er von der Lokomotive sprang.
»Ich überlasse Ihnen alle meine Leute zur freien Disposition,« sagte er. »Sie kennen doch die Sache schon von Anfang an, Sie müssen die Leitung der Untersuchung übernehmen.«
»Danke, ich brauche Ihre Leute vorläufig nicht,« erwiderte Krag höflich, »da ich meine Dispositionen schon vorher getroffen habe. Sorgen Sie nur dafür, daß kein Journalist die Nase in die Sache steckt, das würde uns sehr schaden. Wenn alles gut abläuft, wird der Verbrecher in unseren Händen sein, bevor der Morgen anbricht, und dann kann die Goldsendung mit dem Tagesschnellzug weiterbefördert werden. Das gibt allerdings eine kleine Verspätung, aber darein müssen wir uns schon fügen.«
Der Detektiv trat an den Reichstelephonapparat der Station und bat den Telephonisten, ihn mit Fredrikshavn in Verbindung zu setzen. Da die Linie jetzt bei Nacht wenig in Anspruch genommen war, bekam er nach kaum zwei Minuten die gewünschte Verbindung.
Ein dänisch klingendes, schwaches Hallo antwortete ihm.
Asbjörn Krag, der ebensogut Dänisch sprach, wie Schwedisch und Norwegisch, erklärte der Telegraphenstation in Fredrikshavn, daß die norwegische Polizei eine Auskunft haben müsse, die zur Aufklärung eines großen Verbrechens von außerordentlicher Wichtigkeit sei.
Krag hatte das Glück, sofort mit dem Vorstand des Amtes in Verbindung zu kommen.
»Wir müssen erfahren,« rief Krag in das Telephon, »wir müssen erfahren – ja – ob es in Fredrikshavn ein Dampfboot gibt, das ›Anna‹ heißt.«
Nach kurzem Ueberlegen erwiderte der Vorstand, daß es kein solches Boot in Fredrikshavn gebe. Krag fühlte, wie er bei dem Gedanken, sich geirrt zu haben, ganz heiß wurde.
Aber nun hörte er wieder die Stimme des dänischen Amtsvorstandes leise durch das Telephon:
»Hingegen gibt es ein kleines Boot aus Skagen, das ›Anna‹ heißt. Das ist auch einige Zeit hier in Fredrikshavn gelegen.«
»Ist es noch da?« fragte Krag, seiner Sache nun wieder gewiß. Seine Stimme bebte leicht vor Freude, auf der rechten Spur zu sein.
»Das weiß ich nicht,« erwiderte der Däne.
»Ist es ein Schleppboot?« fragte Krag.
»Man kann es so nennen, aber an der ganzen Küste wegen seiner kräftigen Maschine bekannt.«
»Wie sieht es denn aus?«
»Hoher Schornstein, mit roten und schwarzen Streifen. Zwei Maste. Ziemlich tiefes Achterdeck, vorspringender Bug, wie bei einem kleinen Panzerschiff.«
Krag dankte und klingelte ab.
Ja! Jetzt war er auf der rechten Spur. Der Wächter hatte offenbar, bevor er durch den Schlag bewußtlos wurde, die Verbrecher von dem Plan sprechen gehört – und nun war der Name in seiner Betäubung immer wieder aufgetaucht. Mit seinem Ausruf: »Paßt auf die Anna auf!« hatte er nicht seine Frau gemeint, die treue Seele, sondern den Schleppdampfer, der sein Gold fortführte.
Im selben Augenblick kam ein Matrose mit dem Namen des Torpedobootes »Hai« in goldenen Lettern auf dem Mützenbande in das Telegraphenamt.
Er meldete die Ankunft des »Hai« an der Brücke und sagte, daß man Asbjörn Krag an Bord erwartete.
Krag sagte sich, daß jeder Augenblick kostbar war, und eilte darum in vollem Lauf der Brücke zu, gefolgt von dem andern Polizisten und dem Matrosen.
Dort unten sah er das Torpedoboot durch die Dunkelheit leuchten. Er nahm einen Anlauf und sprang vom Kai auf das Deck des Bootes.
In der Dunkelheit prallte er an einen hochgewachsenen Mann an, dessen Gesichtszüge er nicht genau unterscheiden konnte. Aber er sah, daß es ein Marineoffizier war.
»Asbjörn Krag?« fragte der Offizier.
»Ja,« antwortete Krag. Er wollte noch fragen, wen er vor sich habe, aber fand keine Zeit dazu.
Der Offizier drehte sich rasch um und gab einen Befehl.
Der Maschinentelegraph klingelte und das Stahldeck des Torpedobootes begann zu erzittern, während die Maschine sich in Bewegung setzte.
Die Mannschaft lief hin und her. Der Landungssteg wurde eingezogen, und das Boot entfernte sich langsam von der Brücke.
Krag wollte gerne wissen, wer der Marineoffizier war, der ihn angesprochen hatte.
Er nahm deshalb eine Zigarette aus seinem Silberetui und zündete sie an. Im Scheine des Streichholzes sah er nun das Gesicht des Marineoffiziers.
»Der Admiral selbst!« rief er.
»Ganz richtig,« erwiderte der Admiral. »Ich glaubte, Sie hätten mich gleich erkannt.«
»Wo ist das andere Torpedoboot?« fragte der Detektiv.
Der Admiral nahm ihn unter den Arm und geleitete ihn zu dem Steuerhäuschen.
Das kleine, kräftige Boot fuhr nun mit großer Geschwindigkeit vorwärts. Man konnte die Lichter zu beiden Seiten des Mossesundes sehen. Der Ort selbst lag schimmernd da wie ein Brillantgeschmeide.
Aber vorne auf offenem Meer fegte ein breites, weißes Lichtband über die Himmelswölbung, es rieselte sachte hinunter zum Meeresspiegel und drehte sich dann in einem Halbkreis herum.
»Das ist das andere Torpedoboot,« sagte der Admiral. »Sehen Sie, es ist schon in voller Tätigkeit.«
Krag drückte die Hand des Offiziers mit Wärme.