Sven Elvestad

Detektiv Asbjörn Krag: Die bekanntesten Krimis und Detektivgeschichten


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      Die entferntesten Winkel der Stube lagen im Halbdunkel da. Diese Dunkelheit wurde noch dadurch verstärkt, daß die Wände mit tiefgrüner Farbe gestrichen waren, selbst die Fugen der wandfesten Tische, die lotrecht von der Decke heruntergingen, erinnerten an Streifen im Meer, wie man sie sehen kann, wenn man badet und tief hinabtaucht und von ganz unten die Augen zur Oberfläche aufschlägt. Der Alte sagte leise:

      »Es ist heute abend hier so wunderlich. Es ist so, als säßen wir, du und ich, wieder an Bord in der Kajüte der ›Glücksprobe‹.«

      Nie, schien es ihm, hatte seine Stube eine solche Ähnlichkeit mit einer Kajüte gehabt wie an diesem Abend. Er sah nach dem Fenster. Das war doch eine seltsam stille Nacht. Die blaue Gardine, die dicht an den Fensterrahmen anschloß, bildete eine Scheidewand gegen eine ungeheure Tiefe dort draußen.

      Andreas schien einer neuen Frage vorbeugen zu wollen, denn er sagte hastig:

      »Von ihnen allen werde ich dir später erzählen. Du mußt Geduld mit mir haben. Ich kann mir die Möglichkeit nicht denken, heute abend damit anzufangen. Ich bin erschöpft.«

      »Ich verstehe,« gab der Alte ernst zurück, »du hast Trauerkunden zu melden.«

      »Vielleicht ist es so.«

      »Für alle?«

      »Frage mich nicht mehr, Lotsenältester!«

      »Da hast du wohl eine aufregende, traurige Aufgabe. Da mußt du gestärkt und ausgeruht sein. Ich will dich nicht quälen. Habe ich so lange gewartet, kann ich auch noch einen Tag länger warten.«

      »Das können die anderen auch«, sagte Andreas. »Und für sie ist es leichter. Denn sie wissen noch nichts. Darum mußt du mir versprechen, vor morgen nichts zu sagen.«

      Er sah nach dem dunklen Vorhang.

      »Morgen, bei Tageslicht«, fügte er hinzu.

      Der Lotsenälteste bedachte sich ein wenig, dann sagte er:

      »Das verspreche ich. Aber du solltest deine Aufgabe nicht so schwer nehmen. Was du auch zu erzählen hast, es ist doch inzwischen so viel Zeit verstrichen, zwanzig lange Jahre. Was hat dich schließlich heimgetrieben? Die Stimme des Gewissens in deinem Innern?«

      Andreas schüttelte den Kopf.

      »Ich weiß es nicht,« erwiderte er, »ich weiß nicht, warum ich hergekommen bin. Ich weiß nur, daß irgendeine furchtbare Macht mich hergetrieben hat.«

      Plötzlich durchzuckte den alten Lotsen eine neue Vorstellung, und er fragte mit unsäglichem Staunen:

      »Warum hast du denn deiner Mutter nichts gesagt?«

      Andreas verbarg sein Gesicht, indem er die Stirn auf die Hand stützte:

       »Schone mich«, sagte er.

      Der Lotsenälteste betrachtete seine lange weiße Hand und das graue wirre Haar, das an den Schläfen feucht von Schweiß war. Er machte eine Bewegung, wie um Andreas zu Hilfe zu kommen und ihn in seine Arme zu schließen.

      »Du hast es nicht gut, Andreas«, sagte er »Mir ist, als hörte ich unterdrückte Tränen in deiner Stimme, wenn du sprichst. Ich bin ein alter Mann und bin in meinem Leben vielen Menschen und vielem Kummer begegnet. Ich glaube, du bist unglücklich und verzweifelt.«

      Andreas antwortete nicht. Er erhob sich zum Gehen.

      »Bleibst du lange daheim?« fragte der Lotsenälteste.

      Da hob Andreas den Kopf und sah den andern mit einem Blick an, der vor Angst ganz weiß war.

      »Nein«, erwiderte er hastig. »Ich muß wieder dort hinaus.«

      Und er nahm Abschied, ohne dem Lotsenältesten die Hand zu reichen.

       Als der Alte die Tür in den Vorraum öffnete und Andreas durch den dunklen Raum ging, verbreitete sich wieder jener eigentümliche Schiffsgeruch, ein Geruch von rostigem Eisen und alten Laternen, er war so durchdringend wie der Geruch des Strandes nach einer Sturmnacht, wenn das Meer seine gewaltigen Massen gegen die Ufer gewälzt hat.

      »Hier muß einmal gründlich aufgeräumt werden,« sagte der Lotsenälteste, »ich habe zuviel altes Zeugs hier herumliegen.«

      Der Lotsenälteste blieb auf der Schwelle stehen, während Andreas sich weiter zur Ausgangstür tastete.

      XI. Sigvard und Ann-Mari

       Inhaltsverzeichnis

       Am frühen Abend war es sternklar und still. Die Dächer der Häuser glitzerten im Sternenschein wie regenfeucht. Aber unter den Bäumen und unten auf den Wegen lastete die Dunkelheit unergründlich schwer.

      An diesem Abend brannte lange Licht in den kleinen Fenstern, die Leute saßen beisammen und sprachen von den Vorgängen im Bethaus. Auch in der Wirtsstube war es anders als sonst am Sonntagabend, niemand redete viel über das, was der Geistliche gesagt hatte, aber seine Beschwörungen schienen drückend auf allen zu lasten.

      Nur einige wenige Gäste waren gekommen. Die saßen verdrossen vor ihren Krügen, ungeneigt, sich in ein Gespräch einzulassen. Man redete ein wenig über die Aussichten der Fischerei, aber nur ganz gleichgültig, denn keiner von ihnen hatte etwas zu erzählen, was der andere nicht schon ohnehin gewußt hätte. Dem Beisammensein fehlte gänzlich die belebende Würze der Bosheit und der Schadenfreude, die der Ansporn dieser Menschen war. Wenn sie auch in ihrem Herzen zufrieden mit der Behandlung waren, die den verhaßten Wirtsleuten im Bethaus zuteil geworden war, empfanden sie sie doch an diesem Abend als einen Eingriff in verbriefte Rechte, in das Recht, abends unter den hergebrachten Formen beisammen zu sein. Wenn die Tür ging, blickten sie sehnsüchtig auf, ob nicht einer der anderen kam. Vielleicht der Segelmacher oder der Lotsenälteste. Aber es war niemand. Nur Kaisa oder Johannes, und die Stunden gingen. Es wurde spät, und die Männer wurden immer in sich gekehrter und gereizter.

      Die Wirtsleute selbst trugen auch nicht gerade dazu bei, den Abend gemütlicher zu machen.

      Die alte Hexe tat, als hörte sie ihre Bestellungen nicht, so daß sie Ann-Mari rufen mußten, damit sie ihnen die Krüge auf den Tisch stellte. Und Johannes antwortete höchst widerwillig auf die an ihn gestellten Fragen, wenn er ein seltenes Mal durch die Schankstube ging. Es sah aus, als hätte er an diesem Abend viel außer Haus zu tun. Er rumorte unten auf der Brücke mit Kisten und Schiffsgeräten herum, er schien sich vorgenommen zu haben, gerade am Feiertagsabend gründlich aufzuräumen. Wie er nur die leeren Paraffintonnen hin und her rollte, wunderte die Leute am Tisch – Johannes war sonst nicht der Mann, der zu eifrig zugriff, selbst der Zorn konnte ihn nicht zu überflüssiger Arbeit bewegen.

      Auch wollte er kein Glas mittrinken. Er sagte gerade heraus nein, und dabei drang ein Gurgeln aus seiner Kehle, das wie ein verschluckter Fluch klang. Dabei sah er sie mit geducktem Kopf an, die Pupillen seiner Augen glitten ganz unter die buschigen Brauen, so daß es war, als starrte er sie nur mit den weißen Augäpfeln an.

      Die Männer flüsterten darüber. Johannes kam ihnen an diesem Abend so seltsam vor. Sie konnten doch nichts dafür, wenn ihre Weiber in das Bethaus rannten und dort Lärm schlugen. Schließlich trat Kaisa in die Küchentür und ließ ein paar Worte fallen, daß es Sonntagabend und höchste Zeit sei, zuzusperren.

      Da lachten sie am Tische laut. »Man könnte rein glauben, du wärest selber im Bethaus gewesen«, sagten sie. Im nächsten Augenblick war Kaisa wieder in die dunkle Küche verschwunden. Ihre einzige Antwort bestand in einem heftigen Lärm mit Töpfen und Pfannen, eine Sprache ohne Worte, die allen alten Weibern geläufig ist und aufreizender wirkt als beleidigende Schimpfworte.

      Und bald schien es den Männern selbst unerträglich trübselig im Haus. Die Stimmung sank wie das gelbe Öl in der Lampe, und sie begannen gegenseitig aufeinander zornig zu werden. Endlich standen sie auf. Aber obgleich sie einsahen, daß sie nicht länger bleiben konnten, fiel es ihnen doch sehr schwer sich loszureißen.