alte Kaisa stieß die Worte hervor und schlug den Takt dazu mit dem Stock auf dem Boden. Aber sie fauchte nicht vor Wut wie sonst. Sie war eher sanft. Aber diese leicht spöttische Freundlichkeit, die sie zur Schau trug, indem sie sich lächelnd über den Stock vorbeugte, ließ die andern erschauern.
»Demütig und nachsichtig gegen die Menschen ... so soll man sein, ja.«
Plötzlich rief sie laut:
»Ist ein einziger Mensch hier, der mir nicht Unglück gebracht hat? Viele, viele Jahre konnte ich niemanden ansehen, ohne Haß und Abscheu in aller Augen zu lesen. Ich verstehe vielleicht nicht viel von den Wünschen der Menschen, aber das ist nur, weil ich rings um mich keine anderen Wünsche merke, als daß es mir so recht hundeelend ergehen möge. Vor einer Stunde saß ich am offenen Fenster und blickte über das Dorf hin. Ich konnte alle beleuchteten Fenster zählen und mir die Namen all der alten Vetteln dort drinnen vorsagen, alte Vetteln in Hemden und Hosen. Das war eine Geschichte für mich. Sie war ohne Worte, aber ich konnte doch hören, was hinter jeder hellen Gardine gesagt wurde. Jetzt wird der alten Hexe der Garaus gemacht, jetzt wird sie in der Luft zerrissen! Nein, wie es aus allen Fenstern von befriedigter Selbstgerechtigkeit strahlte! Das war der Widerschein aus dem Bethaus! Da bin ich heute ohne Schonung verurteilt worden. Ich habe mir ja nichts anderes erwartet. Ich kenne das Leben! Wenn ich von einem Unglück getroffen werde, kann ich von diesen Menschen nicht einen nennen, der mir eine hilfreiche Hand reichen würde. Denn ich weiß –«
Sie streckte ihre gichtbrüchigen krummen Finger vor:
»Ich weiß, daß alle noch herbeieilen würden, um meine blutigen Hände von den Stützen wegzureißen, die mich retten könnten ... und gegen diese Menschen soll ich demütig, sanft und milde sein – wieder entblößte sie ihre schneeweißen Zähne in einem Lächeln –, ja freilich!«
Plötzlich stieß sie mit dem Stock hart auf den Boden auf und rief:
»Meine eigene Rechnung stelle ich selbst auf, und die geht niemanden etwas an. Ich werde sie schon abschließen.«
»Ihr nehmt das Leben zu schwer,« wendete Sigvard ein, »es ist ja wahr, daß hier viel Feindseligkeit herrscht, aber das kommt daher, daß die Menschen an nichts Freudiges zu denken haben. Alle sind sie gleich gehässig gegeneinander. Niemand will es anders.«
Kaisa schüttelte nur unwillig den Kopf.
»Darum sollten alle, die es können, trachten, von hier fortzukommen«, fuhr der Knabe mutig fort. »Das Leben kann nicht überall so erbärmlich sein wie hier. Namentlich wer jung ist, sollte trachten, von hier loszukommen.«
Ann-Mari packte ihn am Rockärmel. Aber Sigvard sprach unerschrocken weiter:
»Namentlich die Jugend, ja. Die hat die Zukunft vor sich. Ann-Mari und ich haben oft darüber gesprochen.«
»Dann solltest du auch mit deinem Vater darüber sprechen«, gab Kaisa scharf zurück. »Er als Großbauer könnte das mit der Zukunft ganz leicht ordnen.«
»Ach, der Vater gibt schon nach, wenn nur ich nicht nachgebe.«
»Ja, er könnte sich vielleicht so weit herablassen, hier in der Schenke der Hexe die Hochzeit zu feiern, in dem Haus der Verfluchten. Hier ist es übrigens heute abend leer.«
»Dafür habt Ihr selbst gesorgt, Mutter Kaisa«, sagte Sigvard. »Ihr waret wahrhaftig nicht entgegenkommend gegen die wenigen Menschen, die da waren.«
Kaisa verfiel wieder in ihren scherzhaften Ton:
»Es ist heute Sonntagabend«, sagte sie. »Ich muß doch anfangen, mich nach den Wünschen des Herrn Pfarrers zu richten und den Ruhetag heiligen.« Plötzlich fragte sie:
»Aber warum hockt ihr hier herum? Soll man vielleicht auch noch von mir sagen, daß ich die Jugend hindere, in Gottes freie Natur hinauszugehen? Im Walde wird getanzt. Ich hörte es durch das offene Fenster.«
»So habt Ihr also nichts dagegen, daß wir heute abend fortgehen?«
»Nein, nein –«
»Aber wenn Ihr etwas dagegen habt –«
»Ich erwarte niemanden mehr. Nur den fremden Gast. Die Kerze kann stehenbleiben und brennen, bis er kommt. Er bleibt übrigens nicht lange hier.«
Kaisa nahm die Kerze und putzte sie mit ihrer langen, mageren Kralle. Die anderen konnten nun ihr Gesicht nicht mehr sehen.
»Fährt er weiter?« fragte der Junge.
»Er fährt weiter«, sagte Kaisa.
Als sie allein geblieben war, nahm sie die Kerze, um eine Runde durch das Haus zu machen. Die Schatten folgten ihr wie ein großer schleppender Mantel durch die Räume, und mit der Dunkelheit begann ein anderes Leben in der großen Schankstube.
Durch die obersten Fensterluken fiel ein feines Lichtgespinst vom Sternenhimmel, plötzlich waren die Fensterbretter und die Tischkanten grün wie die alten grünen Steine auf dem Kirchhof. Die Zimmerdecke verschwand in der Dunkelheit und wurde unermeßlich hoch, und unten auf dem Boden bewegten sich die funkelnden Katzenaugen lautlos.
Als die Schritte der Alten nicht mehr zu hören waren, wurde es dennoch nicht ganz still in dem großen Hause. Solche Häuser, die durch Jahrhunderte gelebt haben, kommen nie so recht zur Ruhe. Sie spüren jedes Wetter und jeden Wind und können nie aufhören, klagend und knirschend ihre Planken zurechtzulegen. Und weil das Haus durch das Bewohntsein der langen Jahre ein menschliches Gepräge hat, kommt auch etwas Menschliches in diese Laute, die durch die Stockwerke des Hauses gehen.
Diese Laute können menschliches Wohlbehagen ausdrücken, aber sie können auch eine andere Färbung haben, die den Menschen angstvoll aufhorchen läßt, wenn er allein ist. Denn das Leben der Menschen stirbt nie, sondern setzt sich noch lange nach dem Tode fort – in den ausgetretenen Treppenstufen und Bodenbrettern, in den Klinken der Türen, in der Rundung der Stühle, auf denen die Dahingegangenen geruht haben. Die Seele der alten Häuser kann nie ganz begriffen werden – die Lebenden ahnen nur, daß das Leben der Vergangenheit noch Wache hält, um das Gute mit Wärme und Freude zu grüßen und die bösen Gedanken mit unsäglicher Qual zu verfolgen.
XII. Ein Licht hinterm Fenster
Es war noch nicht spät. Es leuchtete hier und dort in den Fenstern, an denen Ann-Mari und Sigvard vorbeikamen. Unten von der Brücke her hörten sie Lärm und Stimmengewirr. Das waren Leute, die einen Sonntagsbesuch gemacht hatten und nun das Boot zur Heimfahrt rüsteten.
In der letzten Stunde hatte die Luft sich ein wenig getrübt, und die Sterne leuchteten nicht mehr so klar. Aber noch immer war es still und milde. Aus dem Wald erklang die Ziehharmonika, das Frühlingsfest der Jugend.
Die beiden jungen Menschen gingen ziemlich wortkarg nebeneinander her. Keines von ihnen konnte sich von dem Gedanken an Kaisa befreien. Als sie nun von ihr zu sprechen begannen, geschah es in einer ausweichenden, vorsichtigen Art, die Angst und Mitleid verriet.
»Sie kann nichts dafür, daß sie so ist,« meinte Sigvard, »das ist nun einmal ihr Los auf Erden. Manche sind zu guten Werken geboren, andere zu bösen. Das läßt sich nicht ändern.«
Bei einer Biegung des Weges, der sich sanft ansteigend zum Walde hinaufschlängelte, konnten sie unten das Fährhaus und den Fluß sehen. Das Haus lag unter dem Schatten des Bergfirstes. Es war darum unmöglich, seine Konturen zu sehen. Es lag nur wie ein großer Hügel da. Ein dunkler Grabhügel. Aber in dieser Dunkelheit glomm hie und da ein Licht auf, ein dunkel schwelendes Licht.
Die beiden jungen Leute betrachteten das Licht schweigend. Sie wußten beide, was es zu bedeuten hatte. Das war die alte Kaisa, die ihre Runde durch das Haus machte.
Das Licht verschwand, kam wieder zum Vorschein und wechselte abermals den Platz. Ann-Mari, die selbst in der tiefsten Dunkelheit jeden Teil des Hauses erkannte, konnte genau